14.

Ruth


Sie hatte von einem gut aussehenden Mann geträumt, mit dem sie an der Weser spazieren gegangen war, Hand in Hand. Das Gefühl, das sie dabei gespürt hatte, wirkte noch nach, als sie von einem lauten Geräusch wach wurde. Was war das?

Sie setzte sich schlaftrunken auf und tastete nach dem kleinen Wecker neben dem Bett. Kurz nach eins.

Sie seufzte, wollte sich wieder hinlegen, als sie erneut ein Klopfen hörte. Und eine Stimme.

Sie stand auf und lief zur Tür. Vielleicht war im Haus etwas passiert, und einer der Nachbarn brauchte Hilfe. Vielleicht die alte Frau Bending von obendrüber.

»Ruth? Mach bitte auf, ich muss unbedingt mit dir reden.« Marianne?

Ruth machte die Tür einen Spaltbreit auf. »Es ist mitten in der Nacht«, flüsterte sie. »Was machst du hier?«

»Lass mich rein, ja?«


Kurz darauf saßen sie nebeneinander auf der Couch, beide unter einer karierten Decke, die Füße auf dem Tisch.

Marianne hatte von einem Fotografen aus London erzählt, aber Ruth war nicht sicher, ob sie alles richtig verstanden hatte.

»Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?«

»Der Mann, der neben dir wohnt, kam gerade aus dem Haus und hat mich reingelassen. Andernfalls hätte ich Steine an dein Fenster geworfen.«

»Gut, dann noch mal von vorn, Marianne. Ich fürchte, ich bekomme gerade nicht alles zusammen.«

»Anthony, so heißt der Fotograf, will, dass ich mit ihm nach London gehe. Ich soll dort als Mannequin arbeiten.«

»Aha.«

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

Ruth war viel zu verwirrt. »Er kann dich doch nicht einfach mit nach London nehmen«, meinte sie nach einer längeren Pause und schob eine Haarsträhne hinters Ohr. »Woher willst du wissen, dass er kein … gesuchter Mörder oder so was ist? Jeder kann behaupten, er wäre Fotograf.«

Marianne legte wortlos eine Visitenkarte auf den Tisch, und Ruth nahm sie. Im Halbdunkel des Zimmers konnte sie nicht genug erkennen, also stand sie auf und knipste die Stehlampe hinter der Couch an. Anthony Gerard, Fotograf, London, St. George Street . »So was kann jeder drucken lassen. Da sind zwei verschiedene Telefonnummern drauf, eine ist von Hand geschrieben.«

»Die ist vom Hotel, in dem er gerade wohnt. Die andere ist die seiner Agentur.«

»Judy Dexter «, las Ruth und machte »hmm«. Sie kuschelte sich unter die Decke und wackelte mit den kalten Zehen. »Ich weiß nicht, Marianne … Für mich klingt das alles … etwas überstürzt.«

»Und wenn er recht hat? Wenn es eine Chance ist, Ruth, meine Chance?«

»Eigentlich ist es viel zu verrückt, um wahr zu sein. Aber wenn es stimmt, ist es auf jeden Fall die Chance deines Lebens.« Ruth stand auf. »Du schläfst hier, und morgen rufen wir bei dieser Judy an.«

»Ich werde bestimmt kein Auge zukriegen.«

Ruth zeigte auf die Couch. »Ich hole dir noch ein Kissen.«


Am nächsten Morgen saßen sie nebeneinander auf dem Sofa – Ruth noch im Nachthemd und Marianne in Unterwäsche – und starrten auf das Telefon, das Ruth auf den Tisch gestellt hatte.

»Also gut.« Marianne räusperte sich, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer auf der Visitenkarte.

Es dauerte nicht lange, bis sich jemand meldete.

Ruth hörte zu, wie sie sich mit der Frau am anderen Ende unterhielt, sah, wie sie lächelte und nickte.

Schließlich legte sie auf und sah Ruth an. »Er hat nicht gelogen. Er arbeitet für diese Judy Dexter, und sie sagt, er sei einer der besten Fotografen, die sie kennt.«

In diesem Moment begriff Ruth. Marianne hatte die vermutlich einmalige Chance, nach London zu gehen und Mannequin zu werden.

»Und jetzt rufe ich Anthony an.« Marianne wählte wieder, wartete eine Weile und meldete sich dann mit »Mary-Ann«.

Sie lachte, wickelte eine Haarsträhne um den Finger, lachte wieder, sagte etwas, stellte ein, zwei Fragen, hörte weiter zu. »Leicht wird es nicht, aber ich bin erwachsen, oder?«, dann legte sie auf.

Ruth hatte sie noch nie so mutig, energisch, entschlossen und selbstbewusst erlebt. Es war, als säße eine vollkommen andere Marianne hier neben ihr.

»Und?«

»Ich mache es, Ruthchen, ich werde nach London gehen. So eine Gelegenheit, so eine Chance bekomme ich nie wieder, davon bin ich überzeugt.« Sie strahlte, leuchtete geradezu von innen, auch wenn sie müde aussah. Wahrscheinlich hatte sie wirklich kein Auge zubekommen. »Du sagst ja gar nichts.«

»Ich weiß nicht, was.« Ruth tastete nach ihrer Hand und drückte sie. »Aber ich glaube, ich finde es großartig. Und ja, es ist eine einmalige Chance.«

»Mama wird das nicht so sehen. Es wird verflucht schwer werden, sie davon zu überzeugen.«

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Anthony wird alles arrangieren und mir einen Flug buchen, wenn ich hier alles erledigt habe.« Mit einem Mal schien sie nicht mehr so entschlossen. »Ich kriege das hin, ich schaffe das«, sagte sie mehr zu sich selbst.

»Aber natürlich schaffst du das«, versicherte Ruth. »So eine Chance lässt man sich nicht entgehen. Wie viele junge Frauen träumen davon, und du kannst diesen Traum leben.« Sie umarmte ihre Nichte fest. »Ich freue mich für dich. Auch wenn du mir furchtbar fehlen wirst.«

»Vielleicht kann ich etwas Unterstützung gebrauchen.«

»Bei deiner Mutter, meinst du? Ausgerechnet von mir? Ich weiß nicht, Marianne …« Sollte sie Gisela noch mehr gegen sich aufbringen? Es war so schon nicht einfach zwischen ihnen.

»Bitte, Ruthchen. Vielleicht wirft sie sich vor die Tür oder bindet mich irgendwo fest.«

Ruth musste lachen. »So weit wird es schon nicht kommen.«