15.

Gisela


In der Nacht war sie aufgestanden und hatte sich einen Cognac eingeschenkt, um einschlafen zu können. Sie war unruhig gewesen und durch die Wohnung gelaufen. Im Flur hatte sie das Telefon angestarrt, als würde es jeden Moment klingeln. Nach dem zweiten Cognac war sie wieder ins Bett gegangen und endlich eingeschlafen.

Als sie wach wurde, war es bereits hell, und sie setzte sich verwirrt auf. Beim Blick auf den Wecker stellte sie fest, dass es schon fast elf war. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, zog ihren gesteppten Morgenmantel über und öffnete leise Mariannes Zimmertür. Das Zimmer war leer, das Bett unbenutzt. Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, und sie musste sich an der Klinke festhalten. Marianne war nicht nach Hause gekommen. Sie hatte bisher immer Bescheid gesagt, wenn sie bei Doris übernachten wollte.

Ob sie einen Freund hat? Ich weiß kaum noch was von ihr.

Gisela ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Ruth wusste bestimmt, wo Marianne war. Sie ignorierte den Stachel der Eifersucht, der in ihrem Herz steckte, und als sie die Nummer ihrer Schwester gewählt hatte, hörte sie unten im Hausflur Schritte. Sie kannte die Schritte, das Klackern der Absätze von Mariannes kniehohen Stiefeln.

Gisela lief zur Tür und riss sie auf. »Marianne!«

Ihre Tochter stand vor ihr, den Schlüssel in der Hand. »Hast du mich erschreckt!«

»Wo warst du denn? Ich hab mir Sorgen gemacht.«

»Ich hab bei Ruth geschlafen.« Marianne ging an ihr vorbei, zog die Häkeljacke aus, schlüpfte aus den Stiefeln und ließ sie achtlos im Flur liegen.

Gisela stellte sie ordentlich ins Regal und folgte ihrer Tochter in ihr Zimmer.

Marianne setzte sich aufs Bett und klopfte neben sich. »Ich muss dir was sagen, Mama.«

Oh Gott, sie ist schwanger und will es mir beichten! Und ich wusste nicht mal, dass sie einen Freund hat.

Ein Lächeln umspielte Mariannes Lippen. »Mir ist was Verrücktes passiert.«

Gisela setzte sich neben sie. »Raus mit der Sprache.«

Hoffentlich will sie nicht mit dem Burschen durchbrennen. Nein, wenn sie schwanger ist, wird sie …

»Ich werde nach London gehen, Mama.«

Gisela stutzte. Sie musste sich verhört haben, sie hatte doch tatsächlich verstanden, Marianne wolle nach London gehen.

»Ich habe einen Fotografen in der Lila Eule getroffen. Er heißt Anthony, und er meint, ich könnte als Mannequin groß rauskommen. Als Mannequin, Mama, stell dir das vor!«

Gisela schluckte. Sie hatte sich nicht verhört. Dennoch begriff sie nichts von dem, was Marianne sagte. Es passte vorn und hinten nicht. »Ich verstehe nicht …«

»Ich wollte Bedenkzeit, aber ich hab schon zugesagt. So eine Chance kriege ich nie wieder. Ich wäre blöd, wenn ich …«

»Du kannst doch nicht einfach nach London gehen.« Gisela schaute sie an. »Das ist furchtbar weit weg, Marianne. Und du kommst dort allein doch gar nicht zurecht. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache … Du sprichst doch kaum Englisch. Und dann als Mannequin. Marianne! Wie stellst du dir das vor?«

»Furchtbar aufregend.« Ihre Tochter stand auf. »Ich brauche einen starken Kaffee. Du auch?«

Gisela folgte ihr wortlos in die Küche, setzte sich an den Tisch und sah zu, wie sie Geschirr hinstellte, Butter, Marmelade und Brot und dann Wasser für Kaffee aufsetzte.

Gisela fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »London …« Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst doch nicht einfach nach London gehen.«

»Doch, Mama.« Es klang fröhlich, aufgekratzt. »Und ich werde es tun, ich bin fest entschlossen. Ich hab immer abgewartet, worauf, weiß ich nicht mal. Ich hab einfach gewartet und zugeschaut, wie alle um mich herum leben. Verstehst du, was ich meine?«

»Nein.« Gisela schüttelte den Kopf. »Nein, das verstehe ich nicht.«

»Ich war träge, hab meine Zeit damit vertrödelt, auf irgendwas zu warten. Ich will endlich leben! Ich will was ausprobieren, auch wenn ich auf die Nase falle. Ich will mir was beweisen, mich Aufgaben stellen, mich dem Leben stellen.«

»Aber das kannst du doch auch hier in Bremen.«

»Hier?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das kann ich nicht, sonst hätte ich’s ja getan. Ich brauchte diesen Schubs, und Anthony hat ihn mir gegeben.«

»Aber … du kennst diesen Mann doch gar nicht.«

»Ich will ihn ja auch nicht heiraten.« Marianne lachte.

»Und wenn er … nur Nacktfotos von dir machen will? Wie kannst du so naiv sein?«

»Ich habe mit seiner Agentin telefoniert, Mama. Ich bin nicht so dumm, wie du offenbar glaubst. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.«

»Nein, weißt du nicht.«

»Nein, das weiß ich wahrscheinlich wirklich nicht. Aber so ist das eben. Das nennt man ›neue Erfahrung‹, Mama. Wolltest du nie neue Erfahrungen machen?«

Gisela antwortete nicht. In Gedanken sah sie sich und Marianne am Flughafen stehen, sie sah, wie ihre Tochter ins Flugzeug stieg und es über die Startbahn rollte und schließlich abhob. Und sie sah sich einsam und verlassen dastehen, weinend.

In ihrer Kehle war es eng geworden. Allein. Sie würde allein zurückbleiben.

Eine Klaue umfasste ihr Herz und drückte es zusammen. »Das werde ich nicht zulassen.«

»Mama, bitte … Mach mir jetzt bloß keine Szene. Warum freust du dich nicht für mich?«

»Du kannst nicht einfach gehen und mich allein lassen«, flüsterte Gisela. »Wir müssen doch zusammenhalten, Marianne. Uns gegenseitig Halt geben.«

»So plötzlich? Du wolltest allein für dich trauern, kein Wort hast du über Papa verloren, über deinen Kummer, deinen Schmerz. Aber was ist mit mir, Mama?« Marianne war laut geworden. »Hast du dich mal gefragt, wie es mir geht? Ist dir klar, dass auch ich trauere? Ich habe meinen Vater verloren, meinen Papa!« Sie sank auf einen Stuhl und atmete heftig aus. »Und dann dieser ständige Streit zwischen dir und Ruth. Wegen jeder Kleinigkeit giftest du sie an, nichts kann sie dir recht machen.«

»Was soll denn das jetzt, Marianne? Jetzt gehst du aber wirklich zu weit.«

»Nein, ich hätte dir das längst sagen sollen, aber ich hab lieber meinen Mund gehalten. Weil es bequemer war. Aber ich will das alles nicht mehr, Mama, ich will nicht mehr so sein!«

Sie schniefte und wischte sich über die Nase.

Gisela fühlte sich, als liefe sie durch dichten Nebel und sähe nicht mal ihre Füße. Blind tappte sie umher, selbst ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor, unwirklich.

Ich muss träumen , dachte sie. Das alles passiert nicht wirklich. Das kann nicht sein.

»Geh nicht, Marianne, lass mich nicht allein.«

»Ich muss gehen, Mama, versteh mich doch.«

Eine Träne lief Gisela über die Wange bis in den Kragen ihres Bademantels. »Wann?«, fragte sie leise und mit rauer Stimme.

»In einer Woche. Bis dahin sollte ich alle Formalitäten …«

Gisela stand ruckartig auf, der Stuhl kippte um und landete polternd auf dem Linoleumboden.

»Mama, bitte!«

Doch sie hörte nicht hin, sie hörte gar nichts mehr.