Es dauerte gut zwei Wochen, bis Marianne alle Formulare zusammenhatte und in London alles in die Wege geleitet war.
Gisela hatte in dieser Zeit meistens stumm in ihrem Büro gesessen und genauso stumm an den Mahlzeiten teilgenommen. Es gab nichts mehr zu sagen, sie hatte alles gesagt.
Ihre Tochter würde gehen, sie verlassen. Was gab es da noch zu bereden?
Marianne war aufgekratzt und voller Vorfreude, packte zwei große Koffer mit Kleidung, Büchern und Schallplatten voll.
Gisela sah ihr auch dabei stumm zu, lehnte im Türrahmen und glaubte zu träumen. Und ganz offenbar nicht aufwachen zu können.
Ruth kam, um mit Gisela zu sprechen. »Es ist eine Riesenchance, siehst du das denn nicht? Begreifst du es nicht?«
Nein, sie begriff es nicht. Marianne sollte eines Tages den Salon übernehmen, so hätte es ihr Großvater auch gewollt.
Und nun verließ sie den Salon, Bremen und ihre Familie. Und Ruth fand, darüber sollte Gisela sich auch noch freuen.
»Lass gut sein, Ruth, woher willst du auch wissen, wie es sich anfühlt, wenn man ein Kind verliert?«
»Du verlierst Marianne nicht, sie geht nur nach London.«
»Was fast dasselbe ist.«
»Unsinn.«
»Lass gut sein«, sagte Gisela wieder. »Und tu mir und dir den Gefallen und lass mich in Ruhe.« Sie ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
Kurz vor der Abreise kam Ruth ein letztes Mal, um ihr ins Gewissen zu reden. Die kleine Schwester, die sie wie eine Mutter großgezogen, der sie ein Zuhause gegeben hatte, wollte ihr ins Gewissen reden.
»Warum versuchst du, mich davon zu überzeugen, wie schön es ist, dass Marianne fortgeht?« Ihre Stimme war in den vergangenen Tagen brüchig geworden.
»Sei doch vernünftig, Gisela, du tust ja so, als richte sich Mariannes Fortgang gegen dich.«
So war es ja auch. Das wiederum schien ihre Schwester nicht zu begreifen.
»Rede du mir nicht von Vernunft«, brauste sie auf. »Ausgerechnet du!«
»Was soll das heißen – ausgerechnet ich?«
»Ach, lass mich in Ruhe, Ruth, verschwinde.« Gisela wollte sie zur Tür hinausschieben, doch sie blieb stehen wie ein störrischer Esel. »Mir war klar, dass du mir in den Rücken fallen wirst.«
»Gott noch mal, Gisela! Was hat das damit zu tun? Ich falle dir doch nicht in den Rücken.«
Mit einem Mal sah Gisela wieder das zarte siebenjährige Mädchen vor sich, dessen Mutter gerade gestorben war.
Und sie sah wieder ihren verzweifelten, hilflosen Vater vor sich. »Du musst sie zu dir nehmen, Gisela, ich schaffe das nicht.«
Ganz verloren hatte Ruth im Hausflur gestanden, ihren kleinen Koffer zu Füßen, unterm Arm Plüschhase Anton, dem ein Ohr fehlte. Gisela war vor Rührung und Traurigkeit sprachlos gewesen, hatte sie nur in die Arme genommen und gehalten. »Du bleibst jetzt bei mir, bei uns.«
Ruth hatte den Kopf gehoben und sie mit großen Augen angeschaut. »Darf Anton auch bleiben?«
»Natürlich darf er. Auch deine Puppen und Bücher ziehen bei uns ein. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«
»Nun weine doch nicht, Gisela.« Ruth wollte sie an sich ziehen, aber sie schob sie weg.
Und dann war Marianne von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Das Waschbecken im Frisiersalon, an dem sie immer gestanden hatte, blieb unbenutzt, weil Ruth lieber ein anderes nahm, ihre Kämme und Wickler, die Scheren, alles lag ordentlich und sauber in der Ablage im Regal, die Trockenhaube, über die sie immer geschimpft hatte, sie wäre so laut wie ein Traktor, stand in der Ecke, und ihr Kittel hing am Haken. Ein trostloser Anblick.
Als am vierten Tag nach ihrer Abreise im Radio ein Lied von den Monkeys gespielt wurde, das sie so mochte, atmete Gisela heftig aus und ging zu Ruth, die den Fußboden fegte. »Ich habe dir was zu sagen.«
»Nur noch ein paar Minuten, ich bin gleich fertig.« Ihre Schwester lächelte sie an, als wäre nichts passiert.
Gisela wartete, bis sie den Besen weggestellt hatte. »Es ist besser, wenn du dir eine andere Stelle suchst, Ruth.«
»Was?«
»Ich kann dich doch sowieso nicht mehr bezahlen.« Sie hatte sich ausgemalt, wie das Gespräch verlaufen würde. Am Abend zuvor hatte sie überlegt, was sie sagen sollte. Ob sie eine förmliche Kündigung aussprechen, freundlich oder kurz angebunden sein sollte.
»Du wirfst mich raus?«
»Rauswerfen? Nenn es, wie du willst, Ruth.« Sie schluckte, ehe sie weitersprach. »Ich kann es nicht mehr ertragen, dass wir hier Tag für Tag zusammen sind. Ich …« Sie spürte, dass sie weinen musste. Bloß nicht! Ruth würde das sofort zu ihrem Vorteil nutzen. »Du findest bestimmt schnell was Neues.«
Ruth sagte kein Wort, starrte sie nur fassungslos an.
»Du wolltest doch sowieso in einem schicken, großen Salon arbeiten, oder etwa nicht?«
Ihre Schwester wurde blass. »Wie kommst du darauf?«
»Ich hab gehört, wie du dich mit Marianne darüber unterhalten hast.« Genauer gesagt, hatte sie gelauscht.
»Weiß Kurt davon? Hast du ihm gesagt, dass du mich rauswirfst?«
»Ich werfe dich nicht raus, Ruth. Ich bitte dich, dir was Neues zu suchen.«
»Und wie soll es hier weitergehen, Gisela?« Ruth blickte sich im Salon um. »Willst du eine Friseuse einstellen? Oder willst du etwa selbst frisieren?«
»Wir kommen schon zurecht.«
Natürlich hatte sie sich Gedanken gemacht, wie es ohne Ruth weitergehen sollte. Vorerst würde sie wieder im Salon mitarbeiten, die Buchhaltung war in ein paar Stunden in der Woche zu schaffen.
»Ich will den Grund wissen, Gisela. Den wahren Grund«, verlangte Ruth mit ungewohnt harter, schroffer Stimme.
»Den kennst du.«
»Nein, tue ich nicht.«
»Du hättest mir nicht in den Rücken fallen sollen. Du hättest Marianne nicht zureden sollen. Du weißt, dass sie immer auf dich gehört hat. Ich kann dir das nicht verzeihen.«
Einen Moment lang starrte Ruth sie unverwandt an, dann wandte sie sich ab, packte ihre Kämme, Bürsten und Scheren zusammen, steckte sie in einen Stoffbeutel, zog ihren Kittel aus und nahm ihren Mantel von der Garderobe. »Ich weiß nicht, was ich dir getan habe, Gisela … Das mit Marianne kann kaum der Grund für dein … für deine Haltung mir gegenüber sein.« Ihr war anzusehen, wie sie mit sich kämpfte, wie sie um Fassung rang.
»Pass auf dich auf«, sagte sie leise und ging mit ihren Sachen zur Tür.
Gisela blickte ihr nach, bis die Tür hinter ihr zufiel.
Dann ging sie langsam ins Büro, schloss die Tür, setzte sich und legte den Kopf auf die Tischplatte. Da liefen ihr die ersten Tränen bereits übers Gesicht.