17.

»Du hast was ?« Kurt stand vor Gisela am Tresen, eine Hand in der Kitteltasche.

»Ich hab sie gebeten, sich eine neue Stelle zu suchen.« Jetzt, wo sie es aussprach, fühlte es sich vollkommen falsch an. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie konnte doch nicht einfach ihre Schwester hinauswerfen! Was würde ihr Vater dazu sagen?

»Bist du völlig übergeschnappt?« Kurt schnaubte und schüttelte den Kopf. »Du kannst doch nicht einfach unsere Schwester vor die Tür setzen!« Er war verärgert, richtig verärgert.

Gisela hatte ihn noch nie so erlebt, und sie war überrascht, dass er so aus sich herausging.

»Erklärst du mir auch, wieso?«

»Sie wollte doch eh immer viel lieber in einem schicken Salon arbeiten«, wich sie aus.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, brummte er und schüttelte wieder den Kopf. »Mensch, Gisela, du warst wie eine Mutter für sie, hast du das etwa vergessen? Sie war ein kleines Mädchen, als sie zu euch kam, und jetzt wirfst du sie raus?«

Ich kann nicht mehr zurück. Oh Gott, was hab ich getan?

Gisela musste sich am Tresen festhalten, weil der Boden unter ihren Füßen plötzlich schwankte. Was war nur in sie gefahren? »Ich … ich kann ihr einfach nicht verzeihen, Kurt.« Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen.

Er blinzelte. »Versteh ich nicht. Wovon sprichst du?«

»Sie hat Marianne zugeredet. Bestimmt wäre sie geblieben, aber Ruth hat gemeint …« Sie musste erneut mehrmals schlucken. »Sie kann mir doch nicht so in den Rücken fallen.«

Ihr Bruder starrte sie an, schien immer noch nicht zu begreifen. Aber er war ja auch kein Vater, wie sollte er verstehen, was in ihr vorging? »Was ist bloß mit euch los, Gisela? Ihr seid doch Schwestern, meine Güte, du hast sie sogar großgezogen. Ich versteh’s einfach nicht, ich versteh’s nicht. Und wie soll es jetzt hier weitergehen? Ohne Ruth? Und ohne deine Tochter?«

»Ich werde wieder als Friseuse arbeiten. So wie früher.«

»Wie früher? Du hast nur kurze Zeit im Salon mitgearbeitet, Gisela, dann hast du dich mit wehenden Fahnen in deinem Büro verschanzt. Das Frisieren ist doch überhaupt nichts für dich, das hast du uns oft genug gesagt.«

Sie unterdrückte ein Seufzen. Er hatte recht mit allem, was er gesagt hatte, jedes einzelne Wort stimmte. »So übel war ich als Friseuse gar nicht. Das wird schon. Eine neue Friseuse könnten wir uns gar nicht leisten.«

»Ach nee«, sagte er spöttisch und drehte sich kopfschüttelnd um.

In diesem Moment kam Heidelinde herein.

»Morgen, Heidelinde.« Gisela hatte sich räuspern müssen. »Ein seltener Gast.«

»Ich komme nicht als Kundin«, stellte Heidelinde sofort klar. »Ich will nur meine Schallplatten abholen.«

Sie war flott gekleidet, trug ein elegantes, tailliertes Kostüm, darunter eine cremefarbene Bluse und eine Perlenkette. Gisela fragte sich, ob Kurt sie ihr geschenkt hatte.

Er stand stocksteif da, den Rücken ihnen zugewandt. »Du hast ja noch einen Schlüssel«, sagte er. »Deine Platten sind im Karton auf dem Flur.«

»Vielen Dank, dass du sie nicht auf die Straße gestellt hast«, sagte sie schnippisch.

»Dazu hätte ich sie die Treppe runtertragen müssen«, gab er trocken zurück. »Das fehlte noch.«

Heidelinde schnappte nach Luft. »Du hast mich rausgeworfen, schon vergessen?«

»Ach ja? Du hattest mich satt, Heide, hast du das vergessen?«

»Hört auf, euch im Salon zu streiten«, sagte Gisela müde.

»Keine Sorge, ich hole nur meine Schallplatten, dann seht ihr mich nie wieder.«

»Hoffentlich hat dein Herbert auch einen Plattenspieler.« Kurt drehte sich um und funkelte sie an.

»Er heißt Hermann, und er geht dich nicht das Geringste an«, fauchte sie.

»Ich sagte, ich will keinen Streit im Salon!«, mischte Gisela sich wieder ein.

Heidelinde blickte sich vielsagend um. »Oh, entschuldige, Gisela, wie ich sehe, quillt er über vor Kundschaft, die zuhören könnte.«

Diesmal schnappte Gisela nach Luft, doch sie sagte nichts.

Kurt schaute sie verblüfft an, vielleicht hatte er gehofft, dass sie Heidelinde die Leviten lesen würde. »Dein Hermann interessiert mich nicht die Bohne, Heide, das kannst du mir gerne glauben.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu und pikte ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. »Dir glaube ich überhaupt nichts mehr, Kurt Fellbach! Weil du nämlich lügst, wenn du nur den Mund aufmachst!«

»Es reicht«, sagte Gisela scharf. »Streitet woanders. Ich sage es kein weiteres Mal.«

Beide starrten nun sie an, dann stürmte Heidelinde mit wehendem Schultertuch aus der Tür.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein«, murmelte Gisela.

Kurt eilte in den Frisierbereich, und sie folgte ihm.

Er stand beim Waschbecken und hantierte lautstark mit den Pinseln und Rasierern.

»Ich will nicht, dass im Salon gestritten wird, Kurt, das weißt du doch.«

Er fuhr zu ihr herum. »Richtig, du streitest ja eh nie, weil du lieber alles in dich reinfrisst.«

»Wie bitte?«

Er stampfte mit dem Fuß auf und warf einen der Pinsel ins Waschbecken. »Stimmt das etwa nicht? Was ist nur aus dir geworden? Früher warst du nicht so …« Er verstummte schlagartig, wurde blass und drehte ihr den Rücken zu.

»Was aus mir geworden ist? Eine Witwe, Kurt. Und eine Mutter, die von ihrem einzigen Kind verlassen wurde.«

»Vergiss Ruth nicht. Die hat dich auch verlassen. Ach nein, du hast sie ja rausgeworfen.« Es klang ungewohnt boshaft.

Gisela starrte auf seinen Rücken, wollte noch etwas sagen, doch sie wandte sich ab.

»Wirfst du mich jetzt auch raus, Gisela?«, rief er ihr nach. Sie blieb die Antwort schuldig.


An diesem Abend betrank Gisela sich das erste Mal in ihrem Leben. Dann und wann hatte sie schon mal einen kleinen Schwips gehabt, diesmal aber trank sie rasch hintereinander eine halbe Flasche Weißwein, einen Piccolo-Sekt und zwei Cognac.

Einmal alles hinter sich lassen, nicht grübeln, ob man als Mutter und auch als Schwester versagt hatte, einmal nicht an früher denken und sich die Zeit wieder herbeisehnen.


Irgendwann musste sie eingenickt sein, denn als sie mitten in der Nacht wach wurde, lag sie unter dem Couchtisch, ein Kissen und die Decke halb auf ihr. Es roch nach Rauch, und sie versuchte sich aufzurappeln. Dabei stieß sie sich den Kopf am Tisch, und eine Flasche darauf fiel klirrend und polternd um und kullerte herunter.

Gisela sah dabei zu, unfähig, sich zu bewegen oder auch nur die Hand danach auszustrecken. Nach einer Weile versuchte sie es erneut, stützte sich auf die Handflächen und starrte ihren Ehering an. Sie würde ihn nie abnehmen. Niemals! Dietmar war nicht mehr bei ihr, aber sie würde bis an ihr Lebensende mit ihm verheiratet bleiben.

Mühsam zog sie sich am Tisch hoch, der so ins Wanken geriet, dass sie schon befürchtete, ihn umzuwerfen und mit allem, was darauf stand, zu Boden zu gehen.

Der Aschenbecher quoll über, daher der Gestank nach Rauch.

Endlich stand sie und blickte an sich hinab. Sie war in Unterrock und Strumpfhose. Welcher Tag war heute? Wieso war sie nicht angezogen? Und warum zum Teufel hämmerte es in ihren Schläfen, als sei ihr Kopf in einen Schraubstock gespannt?

Sie taumelte aus dem Zimmer, stieß sich die Hüfte am Türrahmen, und als sie an Mariannes verschlossener Zimmertür vorbeikam, bremste sie abrupt ab. War Marianne nach Hause gekommen?

Gisela lief hin und öffnete. Das Zimmer war leer und sah so ordentlich und aufgeräumt aus, dass es ihr in diesem Moment wieder einfiel. Ein gequältes Schluchzen kam aus ihrer Kehle, ein Laut, der sie selbst erschreckte.

Ich bin betrunken , dachte sie von sich selbst erschüttert. Hoffnungslos betrunken.

Gisela wischte sich über die Augen und stolperte ins Schlafzimmer. Sie würde sich ausschlafen und nie wieder so viel trinken.