18.

Ruth


Seitdem Gisela sie vor die Tür gesetzt hatte – und für Ruth fühlte es sich genauso an –, war sie Morgen für Morgen die Stellenanzeigen durchgegangen. Einmal hatte sie sich in einem Salon am Brill vorgestellt, aber der Inhaber hatte sie so merkwürdig angesehen, dass sie rasch wieder gegangen war. Außer ihm hatte niemand dort gearbeitet, und das war ihr seltsam vorgekommen.

Mit ihrer Schwester hatte sie seit dem verhängnisvollen Abend vor mehr als drei Wochen nicht mehr gesprochen. Ein paar Tage lang hatte sie gehofft, vielleicht sogar erwartet, Gisela würde anrufen oder vorbeikommen. »Entschuldige, Ruth­chen, mir sind die Nerven durchgegangen. Ich hab’s nicht so gemeint. Kommst du morgen wieder?«

Aber das war nicht geschehen.

Ruth hatte sich geschworen, Gisela nicht zu bitten, ob sie zurückkommen dürfe. Ihre Schwester hatte eine Grenze überschritten, eine Grenze, an der sie beide sich bereits etliche Male befunden hatten. Doch es war nie zu diesem Übertritt gekommen, irgendwie hatten sie jedes Mal die Kurve bekommen.

Auch an diesem Morgen saß Ruth am Frühstückstisch, die aufgeschlagene Zeitung mit den Stellenanzeigen vor sich.

Eine Anzeige sprang ihr gleich ins Auge: Salon Kronewinkel suchte eine Friseuse.

Ruth stand auf und ging zum Fenster.

Kronewinkel am Wall, das wäre etwas, dachte sie und spürte, wie ihr Herz vor Aufregung pochte. Sollte sie gleich anrufen?

Unten vor dem Haus spielten zwei Mädchen kichernd Gummitwist.

Sie lächelte. Marianne und sie hatten damals auch gern Gummitwist gespielt, und Gisela hatte einmal gemeint, dass sie in Zukunft wohl mit ausgeleierten Schlüpfern herumlaufen müssten, weil sie dauernd neues Gummiband bräuchten. Oft hatte sie ihnen zugesehen und sogar mitgemacht.

Ruth ging vom Fenster weg. Es tat zu sehr weh, an alte Zeiten zu denken. Gisela war so liebevoll und fürsorglich gewesen. Und verständnisvoll, als Ruth ihren ersten Liebeskummer hatte und sich die Augen aus dem Kopf heulte. Gisela hatte sich zu ihr ans Bett gesetzt und sie in die Arme genommen. »In ein paar Jahren wirst du darüber lachen, Ruth­chen. Du wirst dich in einen gut aussehenden Mann verlieben, und ihr werdet heiraten und glücklich werden.«

»Wie du und Dietmar?«, hatte Ruth gefragt, und sie hatte genickt und ihr übers Haar gestrichen.

Ruth spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie räusperte sich energisch. Sollte sie bei Kronewinkel anrufen?

Nein, beschloss sie dann, sie würde direkt hingehen und sich vorstellen.

Sie wählte ein hellgraues Kostüm, das sie ewig nicht getragen hatte. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel zog sie es wieder aus. Sie sah bieder darin aus. Wie Gisela.

Schließlich nahm sie ein eng geschnittenes Kleid in Sonnengelb vom Bügel, das ihr laut Rosemie gut stand, frisierte ihren Bob und benutzte Wimperntusche und dunkelblauen Lidschatten.

Dann lächelte sie sich im Spiegel aufmunternd an, wünschte sich Glück und verließ die Wohnung.


Eine junge Frau mit beneidenswert glänzendem, fast pechschwarzem Haar begrüßte Ruth wenig später. »Haben Sie einen Termin?«

»Nein, ich möchte mich vorstellen. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie eine Friseuse suchen.«

»Warten Sie, ich hole Herrn Kronewinkel.«

Ruth erinnerte sich, wie sie vor dem großen Schaufenster gestanden und in den Salon gespäht hatte. Sie nutzte die Zeit und schaute sich um. An den Spiegeln waren kleine Lämpchen befestigt, und Regale in verschiedenen Größen standen herum, bunte, schrille Bilder hingen an den Wänden und Fotos von berühmten Mannequins und Models, die Ruth aus der Brigitte kannte.

Es war bestimmt nur noch eine Frage der Zeit, bis Marianne sie von einem Titelbild anlächelte.

»Guten Tag«, sagte jemand hinter ihr, und sie fuhr herum.

Vor ihr stand ein Mann, der ihr bekannt vorkam. »Rainer Kronewinkel. Ich hörte, Sie wollen sich vorstellen?«

Sie nickte. Woher kannte sie ihn nur?

In diesem Augenblick sagte er: »Kennen wir uns nicht?«

Zögernd nickte sie.

»Jetzt fällt es mir wieder ein.« Er lächelte. »Rudi ist Ihnen vors Auto gelaufen. Auf dem Osterdeich, wissen Sie noch? Und ich hab Sie für Conny Froboess gehalten.«

»Und ob ich das noch weiß. Ich hatte an dem Tag Fahrprüfung.«

»Sie sind aber doch hoffentlich nicht seinetwegen durchgefallen?«

»Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe auch seinetwegen bestanden.«

»Umso besser. Sie möchten sich also vorstellen …« Er streckte die Hand aus, und Ruth nahm sie.

»Ruth Fellbach.«

»Freut mich sehr, Fräulein … oder Frau Fellbach?«

»Fräulein, bitte.«

Er runzelte die Stirn und schien nachzudenken. »Fellbach, Fellbach … Der Name kommt mir bekannt vor.« Er dachte noch kurz nach. »Sie haben nicht zufällig was mit Salon Fellbach zu tun?«

»Mein Vater hat ihn gegründet.«

»Dann arbeiten Sie nicht dort?«

»Nicht mehr.« Hoffentlich würde er nicht weiter nachhaken, denn dann würde sie wohl flunkern und eine Ausrede erfinden müssen.

Doch er sagte nur: »Darf ich Sie herumführen, Fräulein Fellbach?«

»Sehr gerne.«


»Wir nennen uns beim Vornamen«, erklärte er Ruth, während sie durch den Salon gingen und ihre Augen größer und größer wurden. »Ich hoffe, das stört Sie nicht.«

»Nein, nein. Es ist nur … ungewohnt.« Sie zeigte auf eine der Trockenhauben und ging näher heran. »Oh, das ist aber eine moderne Haube.«

»Sie sind wesentlich leiser«, meinte eine der Friseusen, die an einem der Waschbecken standen. »Man kann sich sogar beim Trocknen unterhalten.« Es war die Frau, die Ruth gesehen hatte, als sie vor dem Schaufenster stand.

»Darf ich vorstellen: Das ist Brigitte«, sagte Kronewinkel.

»Wie die Zeitschrift«, fügte sie hinzu.

Er stellte ihr auch die beiden anderen Friseusen vor. »Brigitte und Elfie arbeiten ganztags, Hella kommt nur vormittags, wenn ihre Tochter im Kindergarten ist.«

Kronewinkel ging weiter und zeigte auf einen Raum, der durch einen Vorhang abgeteilt war. »Hier stehen die restlichen Hauben, außerdem sind hier die Haartrockner, Wickler, frische Handtücher und alles, was man sonst noch so braucht.«

Ruths Herz hüpfte. Der Salon gefiel ihr, er war so erfrischend anders als der elterliche. Wenn Marianne all das sehen könnte , dachte sie. Nein, es wird sie kaum noch interessieren. Sie hat jetzt ein ganz anderes Leben.

Ruth ging zu einem Regal und warf einen Blick hinein. »Darf ich?« Sie nahm einen blauen Wickler heraus. »Das ist ein ganz neues Modell.«

»Sie halten besser und schützen das Haar. Wir arbeiten nach der Sassoon-Methode. Das ist Ihnen sicher ein Begriff.«

Sie hatte davon gelesen, selbst gearbeitet hatte sie damit noch nicht. »Ja, natürlich. Darf ich Sie etwas fragen, Herr Kronewinkel? Arbeiten Sie hier auch als Friseur?«

»Hin und wieder. Wir haben hauptsächlich weibliche Kundschaft, und die lässt sich lieber von Frauen bedienen. Ich kümmere mich in erster Linie um die Termine und den ganzen Finanzkram. Wann könnten Sie anfangen?«

Morgen, dachte sie, sagte jedoch: »Jederzeit.«

»Wie wäre es mit dem nächsten Ersten?«

»Perfekt.«

Sie lächelten sich an, und Ruths Magen zog sich zusammen. Sie sollte dringend eine Kleinigkeit essen.

»Prima, dann begrüße ich Sie im Salon Kronewinkel, Fräulein Fellbach. Ruth.«

»Möchten Sie gar kein Zeugnis sehen?«

Gisela hatte ihr noch keins ausgestellt, würde das aber bestimmt tun, selbst wenn sie nicht im Guten auseinandergegangen waren.

»Wozu?« Kronewinkel zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Sie passen sehr gut zu uns.«

»Ich könnte in Wahrheit … Bäckerin oder Verkäuferin sein.«

»Das könnten Sie.« Er nickte grinsend. »Aber wären Ihnen dann die neuen Wickler aufgefallen?«

Sie musste lachen. »Nein, Sie haben recht. Ich freue mich, Herr Kronewinkel.«

»Rainer, bitte. Und ich … wir freuen uns auch.«

Beschwingt und aufgewühlt verließ Ruth den Salon. Sie hatte eine neue Stelle! Sie war bald Friseuse im Salon Kronewinkel!

Nun war es endgültig, sie hatte dem Familiensalon den Rücken gekehrt. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ein Anflug von schlechtem Gewissen überkam sie. Hatte sie richtig gehandelt? Hätte sie ihrer Schwester nicht doch die Hand ausstrecken sollen, müssen? Hätte sie nicht ein weiteres Mal über ihren Schatten springen müssen?