London
Marianne
Seit fast vier Monaten war sie nun hier in dieser aufregenden, überwältigend großen Stadt, von der sie bislang kaum etwas gesehen hatte. Einmal, ganz zu Anfang, hatte sie sich wie eine Touristin in einem der Doppeldeckerbusse durch die Stadt kutschieren lassen. Hatte sich Piccadilly Circus, Trafalgar Square, Westminster Abbey und die Tower Bridge angesehen. Und natürlich Buckingham Palace. »Die Queen ist da«, hatte es geheißen, und Marianne hatte sich vorgestellt, wie sie mit ihr Tee trank und ein Sandwich aß.
Aufgekratzt und fröhlich war sie heimgekommen.
Das kleine Apartment, das sie sich mit Mary teilte, die als Fotomodell arbeitete, war schick und modern eingerichtet, mit einer kleinen Kochnische, die niemand von ihnen benutzte. Wann auch?
In der Mitte des Wohnraumes stand eine halbrunde dunkelgrüne Couch, davor ein Glastisch. Hinter der Couch befand sich eine Musiktruhe mit Radio und Schallplattenspieler. Hatte sie je eine Platte aufgelegt, seit sie hier war? Dann und wann stellte sie morgens das Radio an, um etwas in Schwung zu kommen.
Ein klimpernder Perlenvorhang trennte die Kochnische vom Wohnraum.
In Soho, dem Stadtteil, in dem sie wohnte, verlief sie sich noch immer regelmäßig. Wenn sie denn überhaupt dazu kam, einen Fuß vor die Tür zu setzen, um sich ein bisschen umzusehen. Ihr Alltag bestand nämlich im Grunde nur daraus, dass sie sehr früh aufstehen musste, ins Taxi hastete und für Probeaufnahmen ins Fotostudio fuhr. Oder sie verbrachte einen elend langen Tag damit, auf einem Laufsteg hin und her zu gehen, umringt von Fotografen und Designern, die dauernd irgendetwas auszusetzen hatten.
Immer wieder, hin und her, vor und zurück, bis jeder Schritt, jede Bewegung, jedes Lächeln saß.
»Kopf hoch, Mädchen! Lächeln nicht vergessen! Trägst du Bergarbeiterstiefel, Hilary? Heb die Füße! Carol, wenn du noch einmal stolperst, brumme ich dir Extrastunden auf!«
So ging das tagein, tagaus. Bis alle es sogar im Schlaf beherrschten.
Allein die Kleideranproben raubten Marianne den letzten Nerv. Kleid, Rock, Bluse oder Mantel anziehen, warten, bis die Schneiderin jedes Teil an allen Stellen so festgesteckt hatte, dass es wie angegossen saß, dann das nächste. Weiter mit Schuhen, Stiefeln, Make-up, Frisuren. Kopf hoch, Rücken gerade, aufrechte Haltung. Lächeln, drehen und weiter.
Meistens war sie hinterher so ausgelaugt, so müde, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte. Sie verschwendete nicht mal einen Gedanken daran, abends noch auszugehen oder wenigstens irgendwo eine Kleinigkeit zu essen.
Und dann das Reisen, das vor ein paar Wochen begonnen hatte: nach Paris, Mailand, Rom. Es lohnte sich nicht mehr, den Koffer auszupacken, wenn sie zurück war. Sie tauschte nur das eine oder andere Kleidungsstück aus.
In der ersten Zeit in London war Anthony manchmal gekommen, um sie abzuholen oder Termine mit ihr abzusprechen. Er hatte ihr auch gleich vorgeschlagen, sich in Mary-Ann umzubenennen. »Oder warum nicht einfach nur Ann? Marianne klingt zu deutsch und zu …«
»Spießig?«, hatte sie ergänzt. »Das wolltest du doch sagen, oder?«
Inzwischen rief er nur noch hin und wieder an und erkundigte sich, wie es ihr ging. Wahrscheinlich interessierte es ihn herzlich wenig. Er hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, indem er sie »entdeckt« und hergebracht hatte. Sein Job war erfüllt.
Nach diesen wenigen Monaten fühlte Marianne sich bereits, als würde man nach und nach, aber sehr beharrlich, alle Kraft und jegliche Energie aus ihr heraussaugen.
So hatte sie es sich nicht vorgestellt, nicht in ihren kühnsten Träumen, die sie ab und an heimgesucht hatten. Dann, wenn sie sich leise gefragt hatte, ob sie sich vielleicht etwas vorgemacht hatte. Ob der Traum, Mannequin zu sein, nicht doch in Wahrheit mehr ein Albtraum war. Manchmal fragte sie sich auch, ob es womöglich einfach nur an ihr lag. War sie nicht für so ein Leben gemacht? So viele andere junge Mädchen würden alles dafür geben.
Oder war sie undankbar, wie ihre Mutter früher gelegentlich gemeint hatte? »Erfreu dich an dem, was du hast, und schau nicht nach dem, was andere sind oder haben.« Wie oft hatte sie sich das anhören müssen. Sie war es leid gewesen, Tag für Tag im Salon zu stehen und älteren Damen die Haare aufzudrehen. Jeder Tag war gleich gewesen, und sie hatte sich nach einem anderen, einem aufregenderen Leben gesehnt.
Das hatte sie nun. Also biss sie die Zähne zusammen. Sie würde sich nicht beschweren, sondern weitermachen und sich an dieses neue Leben gewöhnen. Und sich in der neuen, so anderen und noch immer fremden Stadt einleben.
In den wenigen Briefen an ihre Mutter und Ruth schrieb sie kein einziges Wort darüber, wie es ihr wirklich ging.
Bald war Weihnachten, das erste ohne ihre Familie. Anthony gab jedes Jahr zu Weihnachten eine große Party, auf der sich alles traf, was in dieser Branche in irgendeiner Weise von Bedeutung war. Nicht hinzugehen war keine Option. »Wenn dir deine Karriere völlig egal ist …«, hätte es geheißen. Sie hatte nicht mal die Zeit gehabt, für ihre Familie Geschenke zu kaufen. Sie würde es bei einer kitschigen Karte belassen und sich und den anderen versprechen, dass im nächsten Jahr alles anders wäre.