Gisela
Gisela hatte nach Feierabend noch Rechnungen überwiesen, dann war sie in die Wohnung hochgegangen und hatte eine ganze Weile am Fenster gestanden. Wie lange, wurde ihr erst klar, als sie auf die Küchenuhr schaute: über eine halbe Stunde.
Sie schaute erneut hin und überlegte, ob sie sich vertan hatte. Nein, sie hatte sage und schreibe fast vierzig Minuten dagestanden und ins Nirgendwo gestarrt.
Die Uhr tickte leise, das einzige Geräusch, das außer ihrem Atmen zu hören war. Unheimlich.
Auf einmal fröstelte sie, und sie schlang die Arme um den Oberkörper. Wieder lag ein elend langes und trostloses Wochenende vor ihr. Sie würde sich die Zeit mit Aufräumen, Putzen, Stricken und Fernsehen vertreiben, und Sonntagabend – so war es immer – würde sie hellwach im Bett liegen und sich fragen, wie lange das so weitergehen würde.
Seit Wochen stand sie nun im Salon und frisierte, fegte abends den Boden, räumte auf und ging anschließend ins Büro.
Seit Ruth nicht mehr da war, kamen noch weniger Kundinnen. Wahrscheinlich gingen sie mittlerweile zu Kronewinkel.
Unter ihnen auch Elfriede Zimmermann. Nachdem Gisela sie frisiert hatte und sie zur Kasse gegangen waren, hatte sie die Hand ausgestreckt. »Das heute war mein letzter Besuch, Frau König.«
»Ach, dann ziehen Sie weg aus Bremen?«
»Nein, ich werde von nun an zu Kronewinkel gehen. Es tut mir wirklich leid, ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«
Gisela war sprachlos gewesen.
»Ich hätte natürlich klammheimlich wegbleiben können, aber das ist einfach nicht meine Art. Alles Gute, für Sie und den Salon. Und frohe Weihnachten, Frau König.«
Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Gisela wäre es lieber gewesen, sie wäre wirklich klammheimlich weggeblieben, anstatt es ihr ins Gesicht zu sagen.
Noch immer herrschte Funkstille zwischen ihr und Ruth. Sie sollte, sie müsste sogar den ersten Schritt machen, aber sie konnte einfach nicht. Sie fühlte sich von ihrer Schwester verraten.
Immerhin war sie auf ihre Tochter zugegangen, hatte ihr einen langen Brief geschrieben und sich zu erklären versucht. Wahrscheinlich hatte sie wieder nicht die richtigen Worte gefunden, es fiel ihr so entsetzlich schwer, Schuld zuzugeben und Einsicht zu zeigen.
Marianne war innerhalb kurzer Zeit bereits recht erfolgreich geworden, hatte sich einen Namen gemacht: Ann, das strahlend schöne blonde Mädchen aus Deutschland mit den hinreißenden Grübchen.
Gisela war stolz, und doch war sie noch immer tief im Inneren verletzt. Weil Marianne so leichten Herzens gegangen war.
Nicht mal zu Weihnachten käme sie nach Haus. Sie hatte zu viel zu tun. Verpflichtungen, hatte sie geschrieben.
Gisela ging zum Kühlschrank und goss sich ein Glas Weißwein ein. Sie hatte die Flasche vor zwei Abenden aufgemacht, oder war es erst am vorherigen Abend gewesen?
Sie hielt die Flasche gegen das Licht. Hatte sie schon so viel getrunken?
Das Glas war in zwei großen Zügen leer, und sie goss sich den Rest aus der Flasche ein. »Ach, Dietmar. Wenn du mir jetzt zusiehst, wirst du den Kopf schütteln. Es ist erst Nachmittag, und ich trinke Wein. Du hast ja recht.« Sie trank das Glas aus und stellte es in die Spüle.
Ein feiner, äußerst wohltuender Nebel hüllte ihr Gehirn ein, umschloss ihre Gedanken und hielt sie fest.
Sie überlegte, Hannelore anzurufen. Aber die war neuerdings so weinerlich und konnte stundenlang darüber jammern, dass ihr Mann fremdging. Früher hatte sie das doch auch nicht gestört.
Doch seine Sekretärin schien eine ernst zu nehmende Konkurrentin zu sein, sonst würde Hannelore nicht so einen Wirbel machen. Sie sah ihre Felle davonschwimmen.
Gisela ging ins Schlafzimmer, zog sich bis auf den Unterrock und die Feinstrumpfhose aus und legte sich auf die Couch, eine neue Schachtel Zigaretten neben sich. Sie blätterte in einer Illustrierten und fragte sich, wann Marianne ihr wohl auf dem Titelbild entgegenlächelte. Und wie sie sich dabei fühlen würde.
Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
Hatte sie überhaupt etwas Essbares im Haus? Hatte sie für das Wochenende eingekauft? Sie wusste es beim besten Willen nicht. War sie so vergesslich geworden?
Sie legte die Zeitschrift auf den Tisch und ging mit der Zigarette in der Hand in die Küche, um nachzusehen.
Viel war nicht im Kühlschrank, nur Butter, zwei Joghurts, etwas Magerquark, ein Stück Käse – wie alt mochte er sein? – und eine Büchsenmilch. Daraus ließ sich kaum etwas Genießbares zaubern.
Gisela hockte sich hin und schaute im Vorratsschrank nach.
Auch hier war nicht viel zu finden, offensichtlich hatte sie vergessen, einzukaufen. Und sie hatte vergessen, dass sie es nicht getan hatte.
Aber möglicherweise war noch etwas Brauchbares im Tiefkühler. Sie öffnete ihn und rümpfte die Nase. Sie sollte ihn mal wieder abtauen und auswischen.
Früher hätte sie eine Medaille als Hausfrau des Jahres bekommen. Früher. Sie seufzte lang anhaltend.
Gott, war dieses Früher lange her, eine Ewigkeit.
Montagabend, nach einem wieder nicht enden wollenden Wochenende, lag Gisela auf der Couch und rauchte.
Einerseits war sie froh, dass das Wochenende vorbei war, andererseits grauste es ihr vor der neuen Arbeitswoche.
Im Fernsehen lief die erste Folge einer Sendung, in der es um ungeklärte Verbrechen ging, und sie setzte sich auf und zog die Decke über die Beine. Sie überlegte, umzuschalten. Das, was ihr wie ein brutaler Krimi vorkam, war Realität, erschreckende Realität. Die Welt wurde immer verrückter und die Menschen mit ihr.
Gisela streifte Asche ab und seufzte kopfschüttelnd.
Schließlich stellte sie den Ton aus und schenkte sich einen Cognac ein. Den einzigen an diesem Abend, das hatte sie sich geschworen. Wehmütig dachte sie an früher, an die Abende mit Dietmar, wenn sie gemeinsam ferngesehen und dabei etwas geknabbert hatten. Wie geborgen sie sich immer in seiner Nähe gefühlt hatte, als könnte nichts und niemand ihr etwas anhaben.
Gisela trank den Cognac und goss sich einen zweiten ein. Als sie den ersten Schluck nahm, fiel es ihr wieder ein: Sie hatte doch nur das eine Glas trinken wollen!
Das Telefon klingelte, und sie überlegte, nicht abzuheben.
Doch wie meistens war die Neugier größer, und sie lief hin.
»Ich bin’s.« Hannelore. Sie schniefte. »Er ist so ein Schuft.«
»Was hat er jetzt wieder angestellt?«
»Außer, dass er mich mit dieser … dieser Schrapnelle betrügt?« Ihre Freundin lachte auf. »Oh, gar nichts, rein gar nichts.«
»Bist du betrunken, Lore?«
»Ich? Du weißt doch, dass ich nichts vertrage.«
»Deswegen frage ich ja.«
»Was machst du gerade?« Sie lallte doch, oder?
»Ich sehe fern.«
»Dann guckst du bestimmt auch diese schreckliche Sendung über die schrecklichen Morde und Überfälle. Schrecklich, oder?«
»Das kannst du laut sagen.«
»Wir sollten mal wieder tanzen gehen. Und uns so richtig amüsieren. Und flirten. Was meinst du?«
Gisela sah, dass ihre Strumpfhose an der Ferse eine Laufmasche hatte. »Ja, vielleicht.«
»Komm schon, wir amüsieren uns mal wieder so richtig.«
»Ja, das machen wir«, sagte sie müde.
Hannelore sagte: »Na, dann fröhliche Weihnachten, Gisela, und guten Rutsch.« Sie legte auf, und Gisela sah verblüfft den Hörer in ihrer Hand an.
Kopfschüttelnd ging sie ins Wohnzimmer zurück, vorbei an Mariannes leerem Zimmer, das sie jeden Tag wieder daran erinnerte, wie still und einsam es in der Wohnung war. Wie sehr ihre Tochter ihr fehlte.
Gisela blieb davor stehen und öffnete die Tür. Das Zimmer sah aus, als käme Marianne jeden Moment heim, würde ihre Kleider auf dem Boden verstreuen, ihre Handtasche auf den Stuhl werfen und sich selbst aufs ungemachte Bett.
Vielleicht wäre sie geblieben, wenn ich liebevoller, toleranter gewesen wäre , dachte Gisela nicht zum ersten Mal. Es war nur schwer auszuhalten, sich vorzustellen, dass sie ihre Tochter vergrault, vertrieben hatte.
Nein , sagte sie sich, ebenfalls nicht zum ersten Mal. Marianne wäre so oder so gegangen, weil sie ein anderes Leben wollte. Weil sie ihres hier in Bremen sattgehabt hatte.
Vielleicht könnte man aus dem Zimmer ein Handarbeitszimmer machen , überlegte sie. Sie könnte die alte Nähmaschine ihrer Mutter wieder aufstellen und sich ein paar Schnittmuster besorgen. Es gab inzwischen so viele hübsche Vorlagen für Kleider, Röcke und Blusen.
Gisela ging zurück ins Wohnzimmer. Gott, sie fühlte sich so kraftlos, so müde. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Einen letzten kleinen Cognac würde sie sich auch noch genehmigen. Als Schlummertrunk.
Sie schaltete den Fernseher aus und beschloss dann, ein wenig Musik zu hören. Die Musiktruhe hatte Dietmar damals unbedingt haben wollen. »Sieh nur, Gisela, sie hat ein Radio und einen Plattenspieler.« Sie hätte gern gesagt: »Lass uns in Ruhe darüber nachdenken«, doch seine Augen hatten so geleuchtet, dass auch sie Begeisterung geheuchelt hatte.
Seit seinem Tod hatte sie einen Bogen darum gemacht, seine Lieblingslieder hatte sie auch so noch im Ohr. Manchmal träumte sie sogar, wie sie zu einem dieser Lieder tanzten.
Gisela ging zur Musiktruhe und drückte auf den Radioknopf.
Es rauschte kurz, dann sagte eine männliche Stimme: »Und jetzt hören Sie das neue Lied von Graham Bonney. Es heißt ›Siebenmeilenstiefel‹.«
Sie lauschte den ersten Tönen, den Cognac in der Hand. »Und ich geb dir mein Wort, ich geh nie wieder fort …«
Oh Gott, was für ein trauriges, niederschmetterndes Lied!
Sie spürte, wie es in ihrem Hals eng wurde und heiße Tränen aufstiegen. Mit zittrigen Fingern stellte sie das Radio wieder aus. Vielleicht sollte sie doch gleich zu Bett gehen und noch etwas lesen.
Nach den ersten Seiten des Romans, den Hannelore ihr geliehen hatte, fielen ihr die Augen zu.
Sie träumte von Dietmar. Sie gingen am Meer spazieren, beide in weiße Kleidung gehüllt, er in einem Anzug mit Weste, sie in einem hübschen ärmellosen Kleid, das sich im Wind bauschte.
Dietmar beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben. »Ich werde niemals fortgehen, niemals.«