Ruth
Sie hatte sich rasch im neuen Salon eingelebt. Die Arbeit machte ihr großen Spaß, und sie mochte ihre Kolleginnen.
Vieles war noch ungewohnt, zum Beispiel durfte jede Friseuse ihr Trinkgeld behalten. Rainer Kronewinkel kontrollierte auch niemanden, er sagte, wenn er kein Vertrauen zu seinen Mitarbeiterinnen hätte, könnte er den Salon gleich schließen.
Der lebte in erster Linie von Laufkundschaft, aber es gab auch Stammkunden, hauptsächlich junge, moderne Frauen.
Einmal in der Woche saß das Personal bei einem gemütlichen Essen zusammen, und es wurde offen über alles gesprochen. Getratsche konnte ihr Chef nicht leiden, und er war äußerst aufmerksam, wenn er den Eindruck hatte, dass Mitarbeiterinnen Schwierigkeiten miteinander haben könnten. Dann schaltete er sich ein und versuchte zu vermitteln.
Das hatte Elfie Ruth erzählt, die einmal mit Brigitte aneinandergeraten war. »Es war nur eine Kleinigkeit, ein blödes Missverständnis. Du weißt ja, wie das ist; die eine sagt dies, die andere das – und zack, schon ist die eine beleidigt, weil sie die andere missverstanden hat. Dabei hat die das gar nicht so gemeint.«
Ruth hatte genickt. Wie gut sie das kannte. Es machte ihr noch immer zu schaffen, dass sie und Gisela sich nun endgültig entzweit hatten.
Immerhin telefonierten sie miteinander; Gisela erkundigte sich nach ihrer neuen Stelle bei Kronewinkel, und Ruth fragte, wie es im elterlichen Salon lief.
Weihnachten war es nicht anders gewesen. Das Thema Rauswurf umschifften sie jedes Mal, und doch hing es wie ein Damoklesschwert über ihnen.
Ruth mochte auch ihren Chef. Vielleicht zu sehr?
Wann immer sie sich ansahen, musste Ruth rasch wegschauen, weil sie spürte, wie sie errötete. In ihrem Magen flatterten Schmetterlinge, ein schönes Gefühl, berauschend, das ihr aber auch Sorgen bereitete. Durfte sie sich in ihren Chef verlieben? Brachte das nicht nur Probleme mit sich, wie Gisela gern behauptete?
Ruth wurde erst jetzt klar, dass sie noch nie ernsthaft verliebt gewesen war. Die Männer, mit denen sie eine Zeit lang gegangen war, hatte sie gemocht, gerngehabt, aber mehr war da nie gewesen.
Rainer Kronewinkel war freundlich und zuvorkommend, ohne aufgesetzt und verkrampft zu erscheinen, und sein Lächeln hatte dieses Spitzbübische, Jungenhafte, das ihr sehr gefiel. Er war vielseitig interessiert und aufgeschlossen, ging genauso gern ins Theater und Museum wie ins Kino. Und er war bereit, auch mal Schwächen zu zeigen. Dass er weder verheiratet noch liiert war, wusste sie natürlich auch längst.
Wenn sie morgens in den Salon kam, freute sie sich bereits darauf, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen. Ging er an ihr vorbei, hüpfte ihr Herz und schlug Purzelbäume. Sprach er sie an, wurde ihr heiß und kalt. Sonntags begann sie sich nach ihm zu sehnen und konnte den Dienstag kaum erwarten.
Aber sie wollte auf keinen Fall eine überstürzte und womöglich kurzzeitige Affäre. Wenn, dann wollte sie einen Mann ganz und gar. Mit Haut und Haar, Leib und Seele. All die Jahre hatte sie kaum ernsthaft über eine feste Bindung oder gar Ehe nachgedacht, weil es keinen Mann gegeben hatte, der sie wirklich interessierte.
Doch seit sie Rainer begegnet war, dachte sie immer öfter darüber nach, wie es wohl wäre, wenn sie beide ein Paar wären. Wenn er ihr Freund, ihr Ehemann und vielleicht sogar der Vater ihrer Kinder wäre.
Für den späten Nachmittag war an diesem Tag Elfriede Zimmermann angemeldet. Als sie das erste Mal zu Kronewinkel gekommen war, hatte Ruth sich über ihre Treue gefreut, aber sie hatte auch ein schlechtes Gewissen. Für den elterlichen Salon bedeutete es noch eine Kundin weniger.
Ein paar Minuten zu spät kam Frau Zimmermann hereingeschneit.
Sie hatte sich in ein enges – viel zu enges – dunkelblaues Kostüm gezwängt. Rock und Jacke spannten genau an den Stellen, an denen Männer gern einen zweiten Blick riskierten.
Ruth rückte einen der bequemen Stühle zurecht, und sie nahm vorsichtig Platz. »Ist das nicht ein herrliches Wetter, Ruth? Was sagen Sie zu meinem Kostüm? Die ganz neue Kollektion. Sie müssen unbedingt vorbeikommen und sie sich anschauen.«
Ihr Mut und ihr Selbstbewusstsein waren beeindruckend. »Schick«, schwindelte Ruth, ohne rot zu werden.
»Finden Sie, dass es mir steht?« Frau Zimmermann sah sie im Spiegel an. »Und bitte seien Sie ehrlich.«
Ruth überlegte kurz, dann entschied sie sich für Aufrichtigkeit. »Ich finde es ehrlich gesagt ein bisschen zu eng.«
»Ich muss zugeben, ich finde es auch etwas … unbequem. Ich habe wohl wieder mal viel zu übereilt gehandelt.« Ein verschämtes Seufzen. »Ich habe mir das Kostüm nämlich gleich auch noch in Hellgrau bestellt.«
Elfie stand am Nachbarwaschbecken und zwinkerte Ruth im Spiegel zu, bevor sie sich umdrehte, um die Trockenhaube zu holen.
»Wie geht’s Ihrer Nichte, Ruth?«, fragte Frau Zimmermann.
»Gut. Ich nehme an, dass wir sie bald auf einem Titelbild bestaunen können.« Sie beugte sich zu ihrer Kundin hinunter. »Hier weiß übrigens niemand, dass ich ihre Tante bin, und das soll vorerst auch so bleiben.« Sie wollte nicht, dass zu viel Tamtam darum gemacht wurde. Vielleicht befürchtete sie auch, dass man sie dann anders behandeln würde.
»Ich verstehe«, flüsterte Frau Zimmermann.
Elfie kam zurück. »Hast du zufällig noch einen blauen Wickler in der Tasche?«
Ruth griff in ihre Kitteltasche und zog einen Wickler heraus.
»Danke. Oh, stell doch mal bitte das Radio etwas lauter, ja?«
Das Radio stand im Regal gleich neben Ruth.
»Graham Bonney.« Elfie seufzte. »Mein Lieblingssänger.«
Am Abend, Ruth hatte es sich gerade auf der Couch gemütlich gemacht, rief ihr Bruder an. Er erkundigte sich, wie es ihr gehe, und sagte dann: »Du, ich glaube, du solltest mal nach Gisela sehen.«
»Was ist mit ihr?«
»Ich weiß nicht, sie ist noch stiller geworden und …« Er verstummte.
»Was und?«
»Ich glaube, sie trinkt.«
»Wie bitte?« Ruth wurde ganz übel, und Schuldgefühle zerrissen sie fast. Sie hätte sich kümmern müssen! Sie hätte den ersten Schritt machen müssen, weil Gisela es nicht konnte.
»Neulich hatte sie eine ziemliche Fahne.« Ihr Bruder räusperte sich. »Und sie ist manchmal so fahrig.«
»Hast du mal mit ihr geredet, Kurt?« Sie gab sich die Antwort selbst: Nein, höchstwahrscheinlich hatte er das nicht getan. Weil auch er jemand war, der erst dann den Mund aufmachte, wenn ihm der Kragen platzte. Kurt war wie Gisela: Beide fraßen alles in sich hinein und explodierten irgendwann – und warfen es sich gegenseitig vor.
»Du kennst sie doch, Ruth«, sagte er, und es war zu hören, wie schwer er sich tat. »Man kommt nicht an sie ran.«
»Ich werde mit ihr reden«, versprach sie. »Gleich Sonntag.«
»Gott sei Dank, Ruthchen, ich bin froh, dass du das sagst.«
Natürlich war er froh, weil er so wieder mal aus dem Schneider war.