22.

Gisela sah nicht nur überrascht aus, als Ruth am Sonntagnachmittag vor ihrer Tür stand, sie war geradezu entgeistert. »Ruth? Was machst du denn hier?«

»Ich finde, wir sollten uns endlich aussprechen, Gisela.«

»Aussprechen?« Ihre Schwester blinzelte, als verstünde sie nicht. Ihr dunkelgrauer Rock war zerknittert, genau wie die Bluse, die aus dem Bund hing. Auch ihr Haar war nicht so gepflegt wie üblich.

»Darf ich reinkommen?«

Zögernd trat sie beiseite. »Natürlich, ich …« Sie verstummte wieder und fuhr sich durchs Haar.

Ruth schnupperte unauffällig, als sie an ihr vorbeiging. Ihr fiel keine Alkoholfahne auf.

»Hast du geschlafen?« Sie blickte sich im Flur um.

An der Garderobe hing Mariannes Häkeljacke. Offenbar hatte sie vergessen, sie mitzunehmen. War Gisela das noch gar nicht aufgefallen, oder hatte sie sie absichtlich hängen lassen?

»Geschlafen, nein? Ich bin nur … Soll ich uns Kaffee machen?«

»Das wäre schön. Ich gehe schon mal ins Wohnzimmer.« Ruth hatte kaum einen Schritt in die Richtung gemacht, als Gisela an ihr vorbeischoss und hektisch begann, die Decke zusammenzulegen, die Kissen aufzuklopfen und mit der Hand über die Tischplatte zu wischen. Mit einem verschämten Lächeln machte sie anschließend das Fenster auf.

Ruth hatte auf einen Blick gesehen, dass der Aschenbecher überquoll – gerochen hatte sie es auch – und ein leeres Cognacglas auf dem Tisch stand.

Gisela verschwand in der Küche, Ruth hörte sie dort mit etwas hantieren. Wasser rauschte, Geschirr klapperte, kurz darauf stand sie wieder in der Tür. Sie hatte ein Tablett dabei, darauf zwei Tassen, ein Milchkännchen und die Zuckerdose ihrer Mutter. Mit einem nervösen Hüsteln deckte sie den Tisch und stellte den vollen Aschenbecher und das Cognacglas aufs Tablett. »Setz dich doch schon mal, Ruthchen.«

Wieder verschwand sie.

Ruth nahm in einem der Sessel Platz. Die Fernsehzeitung lag unter der Couch, und sie bückte sich, um sie aufzuheben. Dabei fand sie auch zwei Fotos; eins von Marianne als kleinem Mädchen, das andere zeigte sie beide beim Gummi­twist.

Ruth schluckte. Ihr Mitgefühl für ihre Schwester war überwältigend, und sie hatte das Verlangen, aufzuspringen, zu ihr zu laufen und sie in die Arme zu schließen. »Lass uns alles vergessen, was jemals zwischen uns war, Gisela.« Genau das würde sie sagen. »Lass uns einfach alles besser machen.«

Gisela musste furchtbar einsam sein, wahrscheinlich fühlte sie sich auch schuldig, weil sie sie hinausgeworfen hatte. Möglicherweise gab sie sich sogar die Schuld daran, dass Marianne fort war.

Gisela kam herein. »Was tust du da?«

Ruth war erschrocken zusammengezuckt. »Ich hab die Fotos gefunden, ich …«

»Gib her.« Ihre Schwester streckte die Hand aus, wedelte ungeduldig damit.

»Ich wollte sie dir gar nicht wegnehmen, ich wollte nur …«

»Gib schon.«

Ruth reichte sie ihr. »Mir fehlt sie auch, Gisela«, sagte sie leise. Sie räusperte sich und machte ihre Handtasche auf. »Ich hab uns Plätzchen mitgebracht, deine Lieblingsplätzchen.«

Gisela setzte sich ihr gegenüber und schlug die Beine übereinander. »Und? Gefällt es dir immer noch bei Kronewinkel?«

Ich werde jetzt nicht sagen, dass du mich rausgeworfen hast. Kein Wort davon, es ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur, dass wir uns versöhnen, aussprechen. »Ja. Und wie läuft es bei euch?«

»Ach, Ruth, was soll die Frage? Du weißt doch, wie es im Salon läuft: miserabel. Gut, reden wir darüber«, sagte ihre Schwester plötzlich. »Ich hätte nicht mehr gewusst, wovon ich dich bezahlen soll, deshalb habe ich dich gebeten, dir eine neue Stelle zu suchen. Wenn es sich für dich wie ein Rauswurf angefühlt hat, tut es mir leid.« Es klang aufrichtig, und Ruth war mehr als überrascht.

»Wo wir schon so offen reden«, setzte Ruth an. »Wir sollten auch darüber sprechen, dass du glaubst, ich wäre dir in den Rücken gefallen.«

»Das hast du getan, Ruth.«

»Du hast es so empfunden, das ist was anderes. Aber es tut mir wirklich leid, dass du es so siehst. Es war nie meine Absicht, mich auf Mariannes Seite zu schlagen. Ich wollte nur …«

Gisela stand auf. »Der Kaffee müsste fertig sein.«

»Nun lauf doch nicht gleich wieder weg!«

Sie verließ das Zimmer, und wieder dauerte es eine ganze Weile, bis sie zurückkam. Sie hatte ihr Haar gekämmt und hochgesteckt, sogar Lippenstift hatte sie aufgelegt.

»Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch.« Sie lächelte, es sah verkrampft aus, gezwungen. Sie schenkte Kaffee ein und setzte sich wieder. »Sind das diese leckeren Haselnussplätzchen?« Sie schob sich eins in den Mund.

»Gisela«, begann Ruth sanft. »Ich will nicht, dass etwas zwischen uns steht. Du kannst mit mir auch über Dietmar sprechen.« Als es heraus war, ärgerte sie sich. Womöglich war es ein Fehler gewesen. »Ich meine, ich wollte sagen, dass ich dir zuhöre, für dich da bin.«

Gisela starrte sie an, als hätte sie etwas Verbotenes vorgeschlagen. »Ich will nicht mit dir über ihn sprechen«, erklärte sie schmallippig.

»Aber vielleicht … würde es dir guttun.«

»Ich weiß selbst, was mir guttut und was nicht.«

Ruth schluckte. »Gut, in Ordnung, wie du meinst. Ich wollte dich nicht bedrängen.«

Wieder entstand ein längeres Schweigen.

»Hast du mal darüber nachgedacht, Marianne zu besuchen?«, fragte sie schließlich in die Stille hinein.

»Ich steige nicht in ein Flugzeug«, erklärte Gisela bestimmt. »Ich käme um vor Angst. Oder dachtest du an eine Bus- und Schiffsreise?« Es klang spöttisch. »Ich schließe den Salon mal eben für ein, zwei Wochen und besuche meine Tochter in London?«

»Es war nur so ein Gedanke, Gisela.« Ruth unterdrückte ein Seufzen und rührte in ihrer Tasse. Der Kaffee war zu stark.

»Und du? Wirst du sie besuchen?«

»Ich würde gern. Aber ich hab auch Angst vorm Fliegen.«

Gisela lächelte. Das erste echte Lächeln. »Wir zwei Angsthasen, was?«

Ruth erwiderte das Lächeln. »Ja.«


Als sie sich später verabschiedete, hielt sie Giselas Hand lange fest. »Lass uns anfangen, offen darüber zu sprechen, wenn wieder irgendwas zwischen uns steht, ja?«

Gisela nickte.

»Du fehlst mir«, sagte Ruth, einem Impuls folgend. Gedacht hatte sie es oft, ausgesprochen jedoch noch nie. »Du fehlst mir als große Schwester, als Vertraute.«

Gisela war blass geworden. »Ruthchen«, stammelte sie und schluckte mehrmals. Mehr aber sagte sie nicht. Vermutlich konnte sie es nicht.

Ruth umarmte sie und schnupperte an ihrem Haar, dem Blusenkragen. Beides roch nach kaltem Rauch. Aber war da nicht auch ein Hauch von Alkoholgeruch? Cognac? Und wenn, wäre es ein Grund zur Sorge? War es so ungewöhnlich, so besorgniserregend, wenn sie am Abend hin und wieder ein Gläschen trinken würde? Zur Entspannung? Das machte doch jeder ab und an.

»Bis dann, Gisela. Pass auf dich auf, ja?« Ruth drehte sich um und ging die Treppe hinunter.

»Du auch«, sagte ihre Schwester leise hinter ihr.

Während sie heimging, überlegte sie, ob es falsch gewesen war, Gisela zu sagen, wie sehr sie sie als Schwester vermisste. Nein, möglicherweise war es genau richtig und ein Denkanstoß.


In der darauffolgenden Woche besuchte sie ihre Schwester erneut. Sie plauderten, lachten und tauschten Geschichten von früher aus; Geschichten aus dem Salon und kleine Familienanekdoten. Ruth mochte es, wenn Gisela über ihre Eltern sprach, wenn sie von ihrer Mutter erzählte, die immer so gern gesungen und Märchen vorgelesen hatte. Deren Stimme immer sanft und leise gewesen war. »Sogar wenn sie mit uns geschimpft hat, war sie leise.«

Ihr Vater dagegen hatte recht aufbrausend sein können, aber auch er hatte ein großes und auch weiches Herz gehabt.

Endlich schien Gisela sich mit Mariannes Weggang abgefunden zu haben. »Ich zeige dir gleich mein neues Handarbeitszimmer, Ruthchen. Ich hab Mamas alte Nähmaschine aufgestellt.« Sie zog ein Kissen hinter ihrem Rücken hervor. »Sieh mal, das hab ich selbst genäht. Hübsch, oder?«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine so geschickte Schneiderin bist.«

»Das wusste ich selbst nicht.« Dann wurde sie plötzlich ganz nachdenklich. »Weißt du, was ich manchmal denke, Ruth? Ich denke, ich hätte öfter auf dich hören sollen.«

»Was meinst du damit?«

»Ich hätte einverstanden sein sollen, den Salon moderner, attraktiver zu machen. Ich hatte Angst, unsere Kundschaft zu verschrecken. Sieh dir doch unsere Kunden an, die alten Damen, die schon gekommen sind, als unser Vater noch im Salon stand. Ihre Ehemänner, die sich samstags von Kurt rasieren und Nacken und Koteletten nachschneiden lassen. Aber ich glaube inzwischen, du hattest recht, wir hätten neue Kunden gewonnen, jüngere Frauen, vielleicht sogar von weiter her. Erinnerst du dich, du hast oft gesagt: ›Wir müssen den Salon so attraktiv machen, dass die Kunden auch einen etwas weiteren Weg in Kauf nehmen.‹ Aber jetzt ist es zu spät. Wer sollte die neue, junge Kundschaft bedienen? Ich? Ich bin eine gerade mal mittelmäßige Friseuse, das war ich immer. Mir fehlt es an Kniffen, an Ideen, an Elan, an allem. Wenn ich ganz ehrlich bin, fehlt es mir vor allem auch an einem: an Freude. Ich frisiere einfach nicht gern, ich mag es nicht, den alten Damen die Haare zu waschen, ich finde den Geruch von Haarspray grauenvoll, und ich hasse es, abends die Haare zusammenzufegen.« Es war ein unerwartetes Geständnis.

Ruth musste wider Willen lachen. »Du hättest dir wirklich einen anderen Beruf aussuchen sollen.«

»Wie hätte ich das unserem Vater sagen sollen? Er war so froh und so stolz, dass wir alle drei im Salon arbeiten wollten. Dabei bist du die Einzige, die es wirklich gern gemacht hat. Ich hätte viel lieber irgendeine Büroarbeit gemacht. Und Kurt?« Gisela seufzte. »Ich fürchte, er weiß bis heute nicht, was er lieber getan hätte.«

Ruth sprach offen aus, was ihr durch den Kopf ging. Sie erwartete Aufrichtigkeit von ihrer Schwester, also sollte sie auch selbst aufrichtig sein. »Es tut mir leid, dass du nicht mehr von morgens bis abends in deinem Büro sitzen kannst.«

»Es ist nicht deine Schuld, Ruthchen.«

»Ich weiß. Ich glaube, ich habe inzwischen endlich begriffen, dass mir etwas leidtun kann, ohne dass ich mich schuldig fühlen und ein schlechtes Gewissen haben muss.«

»Das sollte ich auch endlich begreifen«, erwiderte Gisela leise. »Man kann sich nicht jeden Schuh anziehen. Weißt du, wer das gern gesagt hat?«

»Unser Vater?«

»Nein, unsere Mutter.«

»Ich wünschte, ich könnte mich noch gut an sie erinnern. Aber ihr Gesicht, ihre Stimme verblassen mehr und mehr.«

Gisela legte die Hand auf ihre. »Ich kann deine Erinnerung sein, Ruthchen. Wann immer du über sie reden willst.«

Ruth war gerührt und musste ein paarmal schlucken. Dann brachte sie ein raues »Danke« hervor.