Ein paar Abende später, es war ein anstrengender Tag im Salon gewesen, hatte Ruth den Schlafanzug angezogen und sich auf der Couch unter einer Decke zusammengerollt. Sie hatte lange auf einen Fernseher gespart, und als er geliefert worden war, hatte sie andächtig davorgesessen und zugeschaut, wie er aufgestellt und die Antenne ausgerichtet wurde.
Nach einem langen Arbeitstag fernzusehen war herrlich berieselnd und wohltuend. Zum Lesen war sie abends meistens viel zu müde und zum Ausgehen sowieso. Das letzte Mal tanzen war sie mit Marianne in der Lila Eule, es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Seit ihre Nichte in London war, ging sie hin und wieder am Wochenende mit Rosemie ins Kino.
Weil die Fernsehsendung so langweilig war, döste sie ein.
Sie träumte, sie würde auf einem Bein auf der Straße umherhüpfen. Autos fuhren hupend an ihr vorbei. In einem der Autos saß ihre Freundin Rosemie. Es war ein roter Taunus, und Rosi hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und sang laut ein Lied von Graham Bonney.
Ruth winkte ihr zu. »Halt an, Rosi! Ich will mitfahren!« Doch sie fuhr vorbei, und Ruth blickte an sich hinab und dachte: Kein Wunder, dass sie mich nicht mitnimmt, ich bin im Schlafanzug.
Von einem Geräusch schreckte sie hoch und setzte sich auf.
Was war das?
Im Fernsehen war eine hübsche blonde Frau mit einer Ponyfrisur, die irgendetwas erzählte.
Das Telefon klingelte, und sie sprang auf und lief hin.
Ihr Bruder rief, kaum dass sie sich gemeldet hatte: »Du musst kommen, Ruth! Der Salon brennt!«
Im Schlafanzug war sie aus der Wohnung gerannt. Erst im Treppenhaus war ihr aufgefallen, dass sie noch im Schlafanzug war, nicht mal eine Jacke hatte sie dabei.
Blitzschnell hatte sie sich angezogen und im Vorbeigehen ihre Strickjacke von der Garderobe genommen.
Es war stockfinster, der Mond war nicht zu sehen. Doch sie war viel zu aufgewühlt, um sich zu gruseln. Sie lief die Straßen entlang, die Jacke mit beiden Händen zusammenhaltend, weil sie sich nicht die Zeit nahm, sie zuzuknöpfen.
Als Ruth die Ellhornstraße entlangkam, sah sie einen Feuerwehrwagen gegenüber vom Salon stehen. Mehrere Feuerwehrmänner wickelten einen Schlauch auf. Auf und nicht ab.
Sie war verwirrt. Was hatte das zu bedeuten? Gab es doch keinen Brand? Zu sehen war nichts, außer dass ihre Geschwister auf der gegenüberliegenden Straßenseite unter der Straßenlaterne standen. Gisela war in eine karierte Decke gewickelt, sie trug Pantoffeln. Kurt stand wie ein begossener Pudel daneben.
Ein Feuerwehrmann sah Ruth kommen und hob die Hand. »Vorsicht, junge Frau!«
»Ich … Das ist unser Salon, ich meine …«, stammelte sie. »Ich heiße Ruth Fellbach.«
Er nickte und winkte sie durch.
Sie lief zu ihren Geschwistern. »Um Himmels willen, was genau ist denn passiert?«
»Gut, dass du da bist.« Ihr Bruder wirkte mitgenommen, hilflos. »Gisela hat den Brand Gott sei Dank früh genug bemerkt. Zum Glück konnten sie ihn schnell löschen.«
Gisela war kreidebleich, und Ruth legte den Arm um sie. »Ist dir auch nichts passiert?«
Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich an sie.
»Ein Kabelbrand.« Ihr Bruder seufzte wieder. »Ein Kurzschluss, genau weiß man das noch nicht.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Gut, dass unser Vater das nicht mehr miterlebt.«
Eine Weile sahen sie dabei zu, wie die Feuerwehrmänner ihre Gerätschaften einpackten.
»Oh Gott.« Plötzlich begann Gisela zu schluchzen. »Ich hab Rauch gerochen. Und dann bin ich runter und … Überall war Qualm, aber kein Feuer. Überall nur Qualm.«
Ruth zog sie fest an sich. »Was ist mit deiner Wohnung?«
Ein Feuerwehrmann kam zu ihnen, bevor Gisela antworten konnte. »Frau König?« Als sie nickte, sprach er weiter. »Wir konnten den Brand löschen. Gut, dass Sie rechtzeitig aufmerksam wurden. Sie wohnen gleich obendrüber?« Er zeigte auf eins der Fenster, und sie nickte erneut. »Wenn Sie wollen, sehen wir nach, ob alles in Ordnung ist.«
»Danke. Das wäre … bestimmt gut.« Ihre Stimme bebte.
»Können Sie schon sagen, wie es zu dem Brand gekommen ist?«, wollte Kurt wissen.
»Nein, das ist noch zu früh. Er könnte aus einem Schwelbrand entstanden sein.«
»Schwelbrand, aha.« Er kratzte sich am Kinn und runzelte die Stirn.
»Manchmal entsteht so ein Brand aus einer defekten Steckdose oder einem kaputten Stecker.« Der Feuerwehrmann lief zurück zum Haus.
»Was wird denn jetzt aus dem Salon?« Gisela wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann sagte sie: »Ich brauche jetzt einen Schnaps. Ihr auch?«
Kurz darauf saßen sie zu dritt in ihrem Wohnzimmer. Hier roch es nur leicht nach Qualm. Gisela hatte großes Glück gehabt, dass nicht mehr passiert und es nicht zu einem richtigen Brand gekommen war.
Sie hatte eine Flasche Aquavit aus dem Schrank geholt. »Der ist noch von …« Sie verstummte und schenkte ihnen ein.
Ruth hustete und verzog das Gesicht.
»Danke, dass du gekommen bist, Ruthchen.« Gisela trank ihr Glas in einem Zug leer.
»Ist doch selbstverständlich.«
Kurt sagte kein Wort, er saß nur da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf die Knie gerichtet.
»Wie schlimm ist es, was meinst du?«, fragte Ruth leise.
Gisela zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, vielleicht kann man einiges noch gebrauchen, aber …« Sie brach ab.
Ruth schluckte. »Wollen wir nachsehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie wieder und schenkte sich erneut ein. »Ihr auch?«
Kurt schüttelte den Kopf, und auch Ruth verneinte. Sie hatte ihren Schnaps noch gar nicht ausgetrunken.
»Diese dämlichen alten Hauben«, sagte ihr Bruder mit einem Mal. »Wahrscheinlich war wieder einer der Stecker kaputt. Diese uralten Mistdinger!«
»Kurt«, raunte Ruth ihm zu. »Lass gut sein, das hilft jetzt auch nicht.«
Gisela hatte sich zurückgelehnt, ihr leeres Glas in der Hand, die Augen geschlossen. »Das war’s mit Salon Fellbach.«
»Was? Nein, bestimmt nicht«, sagte Ruth. »Das kann man doch sicher alles wieder …«
Doch ihre Schwester schüttelte den Kopf. Es sah aus, als koste es sie große Anstrengung. »Nein, ich glaube nicht. Das war’s. Ende, aus.«
»Jetzt mach aber mal ’nen Punkt, Gisela.« Kurt setzte sich anders hin. Er fühlte sich unbehaglich, das war ihm anzusehen.
Gisela machte die Augen auf und sah ihn an. »Das ist ein Punkt, Kurt. Ein Schlusspunkt. Salon Fellbach gibt’s nicht mehr.«
»Mensch, Gisela …«
»Lasst uns morgen im Hellen erst mal alles in Ruhe ansehen«, schlug Ruth vor. Sie würde sich bestimmt einen Tag freinehmen können. Ihr Chef hätte sicher Verständnis.
»Ach, Ruthchen, für dich spielt es eh doch keine Rolle mehr.«
»Wie bitte? Was soll das denn heißen? Es ist der Salon unseres Vaters, Gisela. Ich bin nicht freiwillig gegangen, wenn ich dich daran erinnern darf.« Das hatte sie gar nicht sagen wollen, doch nun war es heraus. Verflucht! Es war eine besondere Situation, und sie alle waren in großer Anspannung. Da sagte man schon mal etwas, was einem hinterher leidtat.
»Das musste jetzt wohl sein, was?« Gisela funkelte sie an.
»Tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Lass gut sein.«
Ruth stand auf. »Vielleicht komme ich besser morgen wieder. Wenn wir uns etwas abgekühlt haben.«
Sie ging auf wackligen Beinen zur Tür. Sie hoffte, Gisela würde sie aufhalten, doch das geschah nicht.
Niedergeschlagen machte sie sich auf den Nachhauseweg, lief über den Rosenplatz und überquerte die Ellhornstraße. Im Vorbeigehen trat sie gegen eine Mülltonne an der Straße, die kurz bedrohlich schwankte, aber nicht umkippte.
Sie und ihre Schwester hatten sich gerade wieder angenähert, versöhnt. Gisela schien sich endlich gefangen zu haben – und jetzt das!