24.

Am nächsten Morgen stand Ruth wie gerädert auf. Sie war auf der Couch eingeschlafen, weil sie im Bett keine Ruhe finden konnte. Kurz ging ihr durch den Kopf, ob sie alles vielleicht nur geträumt hatte. Dann jedoch roch sie den kalten Rauch an ihrer Kleidung. Kein Traum, leider.

Als sie angezogen war und eine Kleinigkeit gefrühstückt hatte, rief sie ihre Schwester an. Doch Gisela nahm nicht ab. Bestimmt war sie schon auf den Beinen – wenn sie überhaupt geschlafen hatte – und unten im Salon.

Ruth versuchte es dort, ebenfalls erfolglos.

Auch ihren Bruder erreichte sie nicht. Wahrscheinlich waren beide im Salon und überlegten, wie es weitergehen konnte.

Ob es weitergehen konnte.

Ruth verließ das Haus und lief zum Rosenplatz.

Sie schaute ins Schaufenster und versuchte, etwas zu erkennen.

Alles war voller Ruß, die Regale angesengt oder teilweise verbrannt. Einen Wartesessel hatte es komplett erwischt, wie es um die anderen stand, konnte sie nicht erkennen.

Zu sehen, was der Brand angerichtet hatte, dass vom Salon kaum noch etwas übrig war, traf sie bis ins Mark. Wie musste sich Gisela fühlen!

Ruth klopfte ans Schaufenster. »Seid ihr da? Gisela, Kurt?«

Nichts.

Sie versuchte es an der Tür. Wieder nichts. Sie drückte auf die Klingel zu Giselas Wohnung.

Es blieb still.

»Wo seid ihr denn?«, rief sie laut.

Erna Jansen kam die Straße entlangspaziert. »Fräulein Fellbach. Hab gehört, dass es gebrannt hat.« Sie versuchte, ins Schaufenster zu spähen. »Schlimme Geschichte, ganz schlimm.«

Ruth warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Schon so spät!

Aber ihr Chef hatte bestimmt Verständnis, wenn sie ihm erzählte, was passiert war.

»Frau König hat früh das Haus verlassen, zusammen mit Ihrem Bruder«, sagte Frau Jansen wie nebenbei. »Hab’s zufällig gesehen, als ich gefegt hab. Ihnen ist doch nichts passiert, oder?«

»Nein, Gott sei Dank konnte der Brand früh gelöscht werden. Ich muss dann mal wieder, Frau Jansen.«

»Richtig, Sie arbeiten hier ja nicht mehr.«

»Nein.«

»Und wo jetzt, wenn ich fragen darf?«

»Im Salon Kronewinkel.«

Frau Jansen hob die Augenbrauen, sagte jedoch nichts.

»Bis dann.« Ruth hob die Hand und machte, dass sie fortkam, bevor die Nachbarin noch mehr Fragen stellen würde.


Am Abend erreichte sie endlich ihre Schwester. »Ich war heute Morgen da, aber ihr wart nicht im Salon.«

»Wir waren bei der Versicherung, um den Schaden zu melden. Ich wollte erst dort anrufen, aber du weißt ja, wie das ist, bis man sich da verständlich ausgedrückt hat … Also sind wir ins Viertel gefahren, zu Herrn Günther.« Gisela klang abgehetzt, müde. »Sieht nicht gut aus, Ruth«, sagte sie dann leise.

»Aber die Versicherung wird doch zahlen, oder?«

»Schon, aber …« Sie räusperte sich. »Wir … ähm … sind leider unterversichert.«

»Wie kann das sein?«

»Fang du nicht auch an, Ruth. Kurt hat mir schon die Hölle heiß gemacht, das sag ich dir.«

»Aber wie können wir unterversichert sein?« Wir. Als gäbe es dieses Wir noch.

Ihre Schwester antwortete nicht, und ihr ging ein Licht auf.

Gisela hatte versäumt, eine angemessene Versicherung abzuschließen. Vielleicht hatte sie die letzten Raten auch nicht bezahlt, bezahlen können.

»Kann ich irgendwas tun?«, fragte Ruth kläglich und wünschte, Gisela würde sagen: »Ja, bitte komm und sei bei mir.«

Sie überlegte sogar fieberhaft, ob sie finanziell etwas beisteuern könnte. Nein, wusste sie schnell, all ihr Erspartes hatte sie in den Führerschein gesteckt. Nun hatte sie plötzlich doch ein schlechtes Gewissen, ihn überhaupt gemacht zu haben. Das Geld könnten Gisela und Kurt jetzt gut für den Salon gebrauchen.

»Ach, Ruthchen …« Ihre Schwester seufzte. »Ich fürchte, du kannst nichts tun. Das Schicksal scheint es einfach nicht gut mit mir zu meinen. Was hab ich eigentlich verbrochen?«


Kurz darauf hatte Ruth eine heulende Rosemie am Telefon. »Ich hab die Verlobung gelöst.«

»Aber wenn es dich so traurig macht, warum hast du es dann getan?«, wollte Ruth wissen.

»Ich bin nicht traurig, ich bin wütend.«

»Auf wen?«

»Auf Manfred. Du hättest sein Gesicht sehen sollen.« Rosemie putzte sich die Nase und schniefte. »Er hat mich angesehen wie ein Esel, dem man das Heu weggenommen hat. Und dann hat er gesagt: ›Dann mach’s mal gut, Rosi.‹« Sie schnaubte. »Dann mach’s mal gut, Rosi! Und was heißt das jetzt? Dass es ihm völlig egal ist, dass er vielleicht sogar ganz froh ist?«

»Wie haben deine Eltern es aufgenommen?«

»Wie wohl – sie waren nicht sehr begeistert.« Ihre Freundin holte tief Luft. »Immerhin machen sie mir keine Vorwürfe. Aber sag mal, täusche ich mich oder hörst du dich eigenartig an? Ist was passiert?«

»Allerdings.« Ruth erzählte ihr von dem Brand und auch davon, dass der Salon völlig unterversichert war.

»Und jetzt?«, fragte Rosemie, als sie geendet hatte.

»Gisela sagt, dass sie den Salon wohl vorerst nicht wieder aufmachen können.«

»Ach, du dicke Bertha!«

»Ja, ich wünschte, ich könnte etwas tun.«

»Sie hat dir quasi aufgedrängt, dir eine neue Stelle zu suchen, Ruthchen. Vergiss das nicht.«

»Ich weiß, trotzdem fühle ich mich … lausig.«

»Das ist wieder typisch für dich. Gisela wirft dich raus, und du hast jetzt ein schlechtes Gewissen.« Wie gut Rosemie sie doch kannte.

»Du hast ja recht.«

Als Ruth auflegte, blieb sie noch einen Moment am Telefon stehen und dachte nach. Sie wusste nicht, ob sie wütend auf Gisela sein sollte, weil die sich nicht um eine vernünftige Versicherung gekümmert hatte, oder ob sie sie einfach nur bedauerte, weil düstere Zeiten auf sie zukamen. Schon wieder.