Gisela
Die ganze Nacht hatte sie über den Akten und Versicherungspolicen gesessen und wieder und wieder alles durchgerechnet. Die Zahlen und auch die Fakten änderten sich jedoch leider nicht. So, wie es aussah, würde sie den Salon tatsächlich vorerst nicht wieder aufmachen können. Die Versicherung zahlte nur einen kleinen Teil des Schadens, auf dem Rest bliebe sie sitzen.
Weil ich Schaf damals nicht auf den Rat des Vertreters gehört habe und unbedingt Geld sparen wollte. Ich habe meine, unsere Existenz verspielt.
Gisela klappte den Ordner zu und trommelte nervös mit den Fingern darauf. Was jetzt? Wie sollte es weitergehen?
Das Haus zu verkaufen kam nicht infrage, denn dann gäbe es auch in Zukunft keinen Salon mehr. Nie mehr.
An Verpachten hatte sie bereits vor einiger Zeit gedacht, doch wer wollte schon einen Salon ohne großen Kundenstamm? Noch dazu in einer Lage, die kaum Laufkundschaft bescherte, von der großen Konkurrenz um sie herum ganz zu schweigen.
Gisela stand auf und stellte sich ans Fenster. Sie war todmüde, wusste aber, dass sie nicht schlafen konnte.
Übel war ihr auch, das lag vermutlich daran, dass sie den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte. Nur wieder viel zu viel geraucht. Der Stress, die Ungewissheit, der Ärger, alles schlug ihr auf den Magen.
Draußen wurde es allmählich hell. Sie kippte das Fenster und atmete die kühle Morgenluft ein.
Dann verließ sie das Büro und ging nach oben in die Wohnung, um sich einen Kaffee zu kochen und eine Kleinigkeit zu frühstücken.
Nachdem sie sich frisch gemacht und umgezogen hatte, ging sie wieder nach unten und brütete erneut über den Akten. Vielleicht hatte sie ja doch etwas übersehen, falsch berechnet. Am Nachmittag wollte ein Gutachter von der Versicherung kommen und sich alles ansehen.
Gisela zündete sich eine Zigarette an und inhalierte mit geschlossenen Augen.
Sie war so vertieft in die Unterlagen, dass sie erschrocken hochfuhr, als ihr Bruder hereinkam. »Kurt!«
»Ich hab bestimmt dreimal geklopft.« Er deutete auf die Aktenordner vor ihr. »Die Zahlen werden sich nicht ändern, wenn du sie noch länger anstarrst.«
»Danke, Kurt. Du sorgst gerade dafür, dass ich gar nicht erst auf den Gedanken komme, so etwas wie Hoffnung zu schöpfen.« Die Asche fiel auf den Ordner, und sie wischte sie weg.
Kurt hockte sich auf die Ecke vom Schreibtisch. »Du solltest nicht so viel rauchen.«
»Und du solltest nicht so tun, als wärst du mein Vater.«
»Ich mein’s nur gut, Gisela.«
Sie tätschelte seinen Handrücken. »Weiß ich doch. Ohne meine Zigaretten könnte ich das ganze Elend gerade nicht ertragen.«
»Und?« Er nickte in Richtung der Aktenordner.
Sie schüttelte den Kopf. »Sieht nicht gut aus.«
Er räusperte sich. »Ich hab ein bisschen was gespart, vielleicht würde das helfen.«
Sie war so gerührt, dass sie schlucken musste.
»Kurt …« Sie verstummte rasch, bevor sie womöglich heulen würde.
»Ist nicht viel, aber besser als nichts.« Er zuckte die Schultern.
»Behalte dein Geld, Kurt.« Gisela lehnte sich zurück und inhalierte wieder. Sie blies einen Kringel an die Decke und schaute ihm zu. »Was wir bräuchten, wäre ein Wunder. Und ich glaube nicht an Wunder. Nicht mehr. Aber danke für dein Angebot, das ist wirklich nett von dir.«
Spontan sprach sie eine Einladung aus. »Warum kommst du Sonntagnachmittag nicht mal wieder zum Kaffee?«
Kurt sah sie überrascht an. »Backst du deinen berühmten Apfelkuchen?«
Gisela nickte lächelnd, und er strahlte wie ein kleiner Junge. »Ich werde auch Ruth fragen.«
»Gute Idee. Dann sind wir drei Fellbachs mal wieder vereint.« Es klang ein bisschen wehmütig.
Plötzlich sah sie sich als kleine Kinder am Werdersee. Sie waren ermahnt worden, nicht zu tief hineinzugehen, trotzdem standen beide bis zum Bauchnabel im Wasser, und ihre Mutter hatte erschrocken aufgeschrien. Ihr Vater war angelaufen gekommen, hatte sie gepackt und aus dem See gezogen. Geschimpft hatte er nicht.
Kurt hatte geheult. »Ich kann doch schon fast schwimmen!«
»Fast, Kurtchen, fast«, hatte ihre Mutter erwidert und ihn in ein Handtuch gewickelt. Dann hatte sie Gisela auf ihren Schoß gezogen, trockengerubbelt und aufs Haar geküsst. »Ihr seid doch meine kleinen Schätze, die ich um nichts in der Welt hergeben will.« Sie war immer so liebevoll und nachsichtig gewesen.
Gisela schluckte. In diesen Momenten, die sie immer mal wieder überkamen, fehlten ihre Eltern ihr so sehr, dass sie das Gefühl nur äußerst schwer wieder abschütteln konnte.
»Ich hab einen Container bestellt, und später kommt jemand von der Versicherung«, sagte sie beherrscht und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie es bald im Salon aussehen würde. Im Geiste sah sie sich bereits auf der Couch liegen, vor sich ein Glas Cognac. Sie wollte wenigstens einen Abend lang alles vergessen. Sie hatte den Geruch in der Nase und den Geschmack auf der Zunge und wünschte, es wäre schon so weit.