26.

Ruth


Sie hatte einen kleinen Spaziergang machen wollen und sich irgendwann in der Ellhornstraße wiedergefunden. Es war mehr Zufall, sie hatte es nicht geplant, der Anblick des ausgebrannten Salons tat zu weh. Doch ihre Füße hatten ein Eigenleben entwickelt.

Seit dem Brand hatte sie regelmäßig bei ihrer Schwester angerufen, um sich zu erkundigen und ihre Hilfe anzubieten. Gisela hatte sie und Kurt zu einem gemeinsamen Kaffeetrinken eingeladen, aber sie hatte schon etwas vorgehabt.

Am Abend zuvor hatte Gisela dann am Telefon gemeint, es sei aussichtlos. »Von dem, was die Versicherung zahlt, können wir kaum die normalen Reparatur- und Sanierungskosten bezahlen. Der Salon wird geschlossen bleiben. Es sei denn, es geschieht doch noch ein Wunder.« Sie hatte geseufzt. »Woran ich ehrlich gesagt nicht glaube.«

Ruth neigte ebenfalls nicht dazu, Wunder herbeizusehnen. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun, irgendwas«, hatte sie zum wiederholten Male gesagt.

Beim Näherkommen entdeckte sie Hermann Plön auf dem Gehweg. Er sah sie auf seine so typische herablassende Art an.

Umso freundlicher war sie jedes Mal, weil sie im Laufe der Jahre herausgefunden hatte, dass es ihn ganz besonders ärgerte, wenn man sich nicht von seiner miesepetrigen Art anstecken ließ. »Guten Morgen, Herr Plön. Ist das nicht ein schöner Tag?«

»Wie man’s nimmt.«

Ruth wollte weitergehen, doch er stellte sich ihr in den Weg.

»Weiß man schon, ob’s Brandstiftung war?«

»Brandstiftung?« Sie blieb stehen. »Davon kann wohl nicht die Rede sein.«

»Ach ja? Und wieso nicht?«

»Weil … Wer sollte das tun?«

Er legte den Kopf schief und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ich will nichts gesagt haben.«

Dann halten Sie gefälligst auch Ihr Lästermaul . »Das haben Sie bereits.« Sie schaute ihn herausfordernd an. »Ich würde gern wissen, wie Sie darauf kommen.«

»Gut laufen die Geschäfte nicht, das weiß wohl jeder hier in der Gegend.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Natürlich wusste sie, was er meinte, aber sie wollte es aus seinem eigenen Mund hören.

Er schnaubte und drehte sich weg. »Es gibt Gerüchte.«

»Und was behaupten diese Gerüchte?«

»Sie wissen, was eine warme Sanierung ist?«

Und ob sie das wusste. Das war die Höhe! Aber sie hätte ahnen müssen, dass man beginnen würde, sich das Maul zu zerreißen und Gott weiß was in den Brand hineinzuinterpretieren.

»Sie wollen also sagen, dass meine Geschwister den Salon in Brand gesteckt haben, um die Versicherungssumme zu kassieren?«, brachte sie es auf den Punkt. Wenn er wüsste, wie erbärmlich niedrig diese Summe war. Vermutlich hätte er dann gar nicht erst von warmer Sanierung angefangen.

Plön funkelte sie an. »Ich will gar nichts sagen, Fräulein Fellbach.«

»Dann haben nicht Sie das Gerücht in Umlauf gebracht?«

»Das ist eine schamlose Unterstellung! Eine Verleumdung!«

»Es ist Verleumdung, wenn behauptet wird, meine Geschwister hätten den Salon in Brand gesteckt.« Ruth war ruhig geblieben, auch wenn sie so aufgebracht war, dass sie ihm am liebsten noch mehr an den Kopf geworfen hätte. Aber dann hätte er noch einen Grund mehr, zu lästern.

»Herr Plön.« Sie nickte ihm mit eisigem Blick zu und überquerte die Straße.

»Unerhört«, hörte sie ihn noch murmeln.

Vor dem Salon blieb sie stehen und drückte die Nase ans Schaufenster. Die scheußlichen Gardinen waren nicht mehr zu retten gewesen. Das Schaufenster war nun von innen mit einem Laken verhängt, es gab nur einen winzigen Spalt, durch den man spähen konnte, wenn man sich Mühe gab.

Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran denken musste, wie oft sie Gisela in den Ohren gelegen hatte, die hässlichen Gardinen aus dem Fenster zu nehmen. Sie musste auch an früher denken, als sie ihre Lehre gemacht hatte. Sie erinnerte sich noch gut an das Gesicht ihres Vaters, als sie das erste Mal als Lehrling im Salon gestanden hatte. »Was soll ich dir noch groß beibringen, Ruthchen?«, hatte er gesagt. »Du weißt doch schon alles. Hast mir ja tagein, tagaus über die Schulter gesehen und deine Püppchen frisiert.«

Im weißen Kittel neben ihm zu stehen und sein Lehrling zu sein hatte ihr so viel bedeutet. Und ihm auch, das war ihm anzusehen gewesen. Sie war immer fleißig gewesen, hatte nie gemurrt, und wie stolz sie gewesen war, als sie zum ersten Mal einer Kundin das Haar waschen durfte! »Pass immer gut auf, dass das Wasser nicht zu heiß und nicht zu kalt ist«, hatte ihr Vater gesagt. »Es muss genau richtig sein. Mit der Zeit hast du den Bogen raus, Ruthchen.«

Nicht mal das ständige Haare-Zusammenfegen und Waschbecken-Putzen hatten ihr etwas ausgemacht.

»Ruthchen?«

Sie zuckte zusammen, stieß sich den Kopf an der Scheibe und wirbelte herum.

Gisela stand in der Tür, eine Zigarette in der Hand. »Hast du geklingelt?«

»Nein, ich bin eben erst gekommen.«

Ihre Schwester gesellte sich zu ihr. Beide schauten ins Schaufenster und seufzten gleichzeitig.

»Die Feuerwehr sagt, es habe vermutlich an einer defekten Steckdose gelegen.«

Ruth sah ihre Schwester an. »Hast du der Versicherung Bescheid gegeben?«

»Natürlich. Sie zahlen trotzdem nicht mehr.«

Ruth schwieg beklommen.

»Ich hab schon überlegt, wieder eine Hypothek aufzunehmen. Aber ich fürchte, ich könnte die Raten nicht zurückzahlen. Ich kann den Salon nicht mehr aufmachen, Ruth, ich weiß nicht, wie. Und …« Sie verstummte abrupt.

»Und was?«

»Nichts, gar nichts.«

Ruth hatte gehofft, dass sich vielleicht doch ein Weg finden würde. Sie legte den Arm um Gisela und hoffte, dass sie es zuließ.

So standen sie eine Zeit lang nebeneinander und schauten ins Schaufenster, in dem vorerst keine vergilbte Preistafel mehr aufgestellt sein würde.

Wie oft hatte Ruth vorgeschlagen, sie gegen eine neue einzutauschen und das Schaufenster ansprechend zu dekorieren. Vielleicht mit ein paar Haarpflegeprodukten und Bildern von Schauspielerinnen, die auch an der Wand hingen.

Jetzt davor zu stehen und zu wissen, dass all das sinnlos war, dass die Chance auf eine Veränderung, einen Neubeginn vorbei war, machte sie ganz niedergeschlagen.

Hinter ihnen waren Stimmen zu hören, und sie drehten sich um.

Das Ehepaar Meierdierks kam den Rosenplatz entlang. Frau Meierdierks hatte sich bei ihrem Mann eingehakt, es war ein rührendes Bild von Innigkeit und Vertrautheit.

»Wir haben in der Zeitung davon gelesen«, sagte Herr Meierdierks beim Näherkommen. »Was für eine Tragödie.«

Seine Frau legte Ruth mitfühlend die Hand auf den Unterarm. »Was wird denn jetzt, Fräulein Fellbach?«

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Gisela an ihrer Stelle.

»Ihnen ist doch hoffentlich nichts passiert?«

Gisela schüttelte den Kopf.

»Und Ihrer Wohnung?«

»Gott sei Dank auch nicht.«

Frau Meierdierks spähte durch den Spalt ins Schaufenster, wie kurz zuvor Ruth und Gisela. »Ach, es ist ein Jammer.«

»Die Versicherung wird doch sicher zahlen«, meinte ihr Mann und sah Gisela fragend an.

»Da ist wohl einiges versäumt worden«, erklärte sie ausweichend und senkte den Blick.

»Aber Sie werden doch versichert sein, Frau König.«

»Schon, aber … wie gesagt, es ist einiges versäumt worden.«

Herr Meierdierks wollte offenbar noch etwas sagen, doch seine Frau schüttelte unmerklich den Kopf und schien ihm damit zu verstehen zu geben, still zu sein.

Es entstand ein betretenes Schweigen, das Frau Meierdierks schließlich mit einem energischen »Dann wollen wir mal wieder« durchbrach. »Frau König. Fräulein Fellbach. Alles Gute.«

Die beiden nickten ihnen zu und spazierten gemächlich davon. So viele Jahre hatte das Ehepaar zur treuen Stammkundschaft gehört.

Gisela stand reglos da und starrte ihnen hinterher. Als sie einige Schritte entfernt waren, sagte Frau Meierdierks: »Dann müssen wir wohl zu Dollmann gehen.«

»Ja, Lenchen, das müssen wir wohl.« Er sagte noch etwas, das Ruth nicht mehr verstehen konnte.

Ob Gisela es auch gehört hatte? Anzumerken war ihr nichts.

Ruth legte den Arm um sie. »Wenn ich noch irgendwas für dich tun kann …«

Sie schüttelte stumm den Kopf. Ihre Zigarette war fast bis auf den Filter heruntergebrannt. Die Asche rieselte auf ihren Rock, und sie wischte sie fahrig und mit zittriger Hand weg.

»Ruf mich an, wenn irgendwas ist, Gisela. Versprich’s mir, ja? Wenn du reden willst, wenn du …«

»Ja, mach ich«, unterbrach ihre Schwester sie. »Mach dir keine Sorgen, Ruthchen, mir geht’s gut.«


»Als ob’s ihr gut ginge«, sagte Kurt, als Ruth ihm wenig später davon erzählte. »Lausig geht’s ihr, sag ich dir. Sie frisst immer alles in sich rein und versucht einem weiszumachen, dass es ihr gut geht.«

Ruth war lange nicht in seiner Wohnung gewesen, es musste Monate her sein. Verändert hatte sich allerdings nichts, nur dass die beiden Usambaraveilchen, die vor dem Fenster standen, vollkommen vertrocknet waren. Sie verdankten ihren armseligen Zustand vermutlich der Tatsache, dass sie Heidelinde gehört hatten. Ruth war hingegangen und hatte sie aus den Übertöpfen genommen. »Wirf sie weg, Kurt, die sind hinüber.«

»Willst du einen Kaffee?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte gar nichts, danke. Ich wollte nur nach dir sehen.«

»Dann bin ich jetzt wohl arbeitslos.« Er saß in einem braunen Sessel am Fenster, die Füße auf einem Hocker. Auf dem alten Nierentisch lagen eine aufgeschlagene Fernsehzeitung und die Tageszeitung.

»Gisela hat überlegt, eine neue Hypothek aufzunehmen.«

»Und wovon will sie die Raten zahlen?« Er schüttelte den Kopf, stand mit einem Mal auf und ging umher. »Ich hab mir auch was überlegt, Ruth. Ich werde Urlaub machen. Endlich mal. Keine Ahnung, wie lange der letzte her ist. Vielleicht fahre ich in die Schweiz oder nach Österreich. Hauptsache, mal raus, weg von hier.« Er stellte sich ans Fenster, drehte ihr den Rücken zu. »Ich hab ein bisschen was gespart, aber Gisela wollte es nicht. Sie hat mir zugeredet, mal Urlaub zu machen.«

Ruth war gerührt, dass auch er Unterstützung angeboten hatte, und sie war genauso gerührt, dass Gisela abgelehnt hatte.

»Ich hab mich über sie gewundert, Ruthchen.«

»Wieso gewundert?«

Er drehte sich zu ihr um. »Sie kommt mir verändert vor.«

»Ja, wir reden auch endlich mal offen miteinander.«

Kurt sah sie überrascht an. »Dass ich das noch erlebe.«

Ruth nahm die Veilchen und brachte sie in die Küche.

Dann verabschiedete sie sich von ihrem Bruder und machte sich auf den Heimweg.