Seit Tagen regnete es in Strömen.
An diesem Morgen hatte Ruth die Wohnung in Gummistiefeln verlassen und sich auf den Weg zum Wall gemacht, den Regenschirm griffbereit. Immerhin sah es aus, als würden sich die Regenwolken endlich verziehen und als würde der Himmel aufklaren.
Doch nachdem die ersten Kundinnen frisiert waren, begann es wieder zu regnen.
»Oh Gott, ich kann’s nicht mehr sehen«, stöhnte Hella neben ihr.
Sofort war eine Unterhaltung über die Wetterlage im Gange, die Kundinnen schimpften lautstark, während Ruth und Hella sich im Spiegel zuzwinkerten.
Das war etwas, was sie so an ihrem Beruf liebte: das Miteinander, der Austausch. In einem Büro zu sitzen, Unterlagen zu sortieren und abzuheften, hatte sie sich nie vorstellen können. In einem Beruf Karriere zu machen, so wie Marianne, und für kaum etwas anderes Zeit zu haben konnte sie sich allerdings auch nicht vorstellen.
In ihrem letzten, ungewöhnlich ausschweifenden Brief hatte Marianne von dem berühmten Mannequin Twiggy erzählt, dem sie auf einer Party begegnet war:
Sie hat jetzt eine eigene Sommerkollektion herausgebracht, und ich werde zwei ihrer Kleider vorführen.
Ich habe übrigens jemanden kennengelernt: Neil. Er ist Sänger einer Band, die in England ziemlich berühmt ist.
Du fragst Dich jetzt bestimmt, ob ich in ihn verliebt bin. Nein, bin ich nicht, Ruthchen, ehrlich nicht. Neil ist ein Freund, nichts weiter. Wir gehen manchmal miteinander ins Bett.
Bist Du jetzt schockiert? Hast Du das nicht von mir erwartet? Früher hätte ich das von mir selbst nicht erwartet, aber hier ist irgendwie alles anders. Man trifft sich, geht miteinander aus. Keiner denkt sich was dabei, so ist das eben. Es ist alles ganz unverbindlich.
Ich hätte auch gar keine Zeit für was Ernstes. Wie sollte das gehen? Ich bin doch ständig unterwegs. Ich wohne mehr in Hotels als in meiner Wohnung.
Ich bin ehrlich, Ruthchen: Ich bin heilfroh, dass Ihr meine Einladungen nach London bisher nicht angenommen habt. Natürlich würde ich Euch gerne wiedersehen, aber ich wüsste gar nicht, wie ich das anstellen sollte. Wenn ich denn mal freihabe, schlafe ich den ganzen Tag.
Oft muss ich mich kneifen und mir sagen: Ich bin in London. Ich bin in der Stadt, von der viele träumen!
Aber die Wahrheit ist: Ich kenne die Stadt noch immer kaum und fühle mich wie eine Touristin, die nur übers Wochenende hergekommen ist. Außer ein paar Clubs und die Geschäfte, in denen ich einkaufe, ist London mir fremd. Dafür kenne ich mich am Flughafen bestens aus, finde blind die Toiletten und den Laden, in dem es die besten Sandwiches gibt. Und bei Euch, Ruthchen? Wie geht es Dir? Macht Dir die Arbeit bei Kronewinkel noch Spaß?
Ich habe Mama angeboten, finanziell auszuhelfen. Damit sie den Salon wieder aufmachen kann. Aber sie hat abgelehnt.
Gisela hatte Ruth davon erzählt. »Ich will ihr Geld aber nicht. Sie hat hart dafür gearbeitet, und ich würde vor Schuldgefühlen umkommen, wenn ich es annehmen würde. Sie soll nicht dafür büßen, was ich verbockt habe. Aber ich bin gerührt, dass sie es angeboten hat. Findest du, ich hätte es annehmen sollen, Ruthchen?«
»Nein, ich glaube, ich hätte es auch nicht getan.«
Als Ruth erneut in den Spiegel schaute, begegnete sie dem amüsierten Blick ihres Chefs, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht kroch. Wenn sie doch nur wüsste, ob er sich wirklich von ihr angezogen fühlte oder nur nett sein wollte.
Oft legte er seine Zigarettenpause in ihre Frühstückspause, und sie unterhielten sich angeregt über alles Mögliche. Ruth fragte sich, ob er ihre Gesellschaft genoss und ihre Nähe suchte, oder ob er einfach nur nicht gern allein war.
Kurzum: Sie war verwirrt und verunsichert.
In der Mittagspause blieb Ruth wie meistens im Salon. Es gab einen kleinen Aufenthaltsraum mit der Möglichkeit, Kaffee oder Tee zu machen und sogar eine Kleinigkeit zu kochen.
Sie setzte sich an den Tisch und packte das belegte Brot aus, das sie mitgebracht hatte. Auf dem Tisch lagen zwei Illustrierte, auf einer war Marianne abgebildet.
Sie strich mit dem Finger über das Titelbild. Wenn du wüsstest, dass dich alle hier bewundernd und fast ehrfürchtig anschauen.
»Gott, was für ein verträumter Blick«, hatte Elfie gemeint.
»Das liegt an den falschen Wimpern«, hatte Brigitte fachmännisch erwidert. »Oder nein, das könnte auch am Lidstrich liegen. Ich wünschte, ich würde ihn auch so gut hinkriegen.«
»Ich glaube, es liegt an beidem.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Oder was meinst du, Ruth?«
Sie hatte die Schultern gezuckt und gleichmütig genickt. »Ja, ich glaube das auch.«
»Wusstet ihr, dass sie aus Deutschland kommt?«, hatte Hella gesagt, die sich dazugesellt hatte.
Das war der Moment gewesen, in dem Ruth mit sich gekämpft hatte. Sollte sie oder sollte sie nicht? Was, wenn die Kolleginnen, die sie sehr schätzte, sie künftig anders behandeln und ständig ausfragen würden? Wenn sie ihre Verwandtschaft mit Marianne ausnutzen und in ihr nicht mehr die Kollegin, sondern nur noch die Tante der berühmten Ann sähen?
Der Wasserkessel pfiff, und sie erhob sich und goss ihren Kaffee auf.
Ihr Chef kam herein, und ihr fiel fast der Filter aus der Hand. »Ich hatte gehofft, dass Sie hier sind.«
Sie blinzelte irritiert. Wieso hatte er das gehofft?
Er setzte sich, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände im Nacken. »Ich bin froh, dass Sie bei uns sind, Ruth. Hab ich Ihnen das schon mal gesagt?«
»Nein, ich glaube nicht.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Ihre Hand zitterte. »Möchten Sie auch einen Kaffee?«
Er stand wieder auf. »Ich gieße mir selbst einen auf. Ich bin nämlich kein Pascha. Da sind Sie baff, was?«
Sie musste lachen. »Für einen Pascha habe ich Sie noch keine Sekunde gehalten.«
Für einen Augenblick sahen sie sich in die Augen, und ihr Herz klopfte so heftig, dass es fast wehtat.
»Was machen Sie heute Abend?«, fragte er, während er seinen Kaffee aufbrühte.
»Heute Abend? Ich … ähm … hab noch nicht drüber nachgedacht.«
»Würden Sie dann darüber nachdenken, mit mir ins Kino zu gehen?«
Er bat sie um eine Verabredung? Was sollte sie bloß sagen? Ihr Herz frohlockte, jubilierte, in ihrem Magen tanzten Hunderte Schmetterlinge, aber sollte sie wirklich zusagen? Was würde daraus entstehen?
»Kommen Sie, geben Sie sich einen Ruck.« Er setzte sich neben sie und trank einen Schluck. »Ich will mir Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung ansehen, und ich würde mich über Ihre Gesellschaft sehr freuen.«
Ihre Gesellschaft. Er findet mich nett, mehr nicht.
»Ich weiß nicht, ich …«
»Haben Sie den Film schon gesehen?«
»Nein.«
»Wussten Sie, dass unser Hans Last – ach, er nennt sich ja jetzt James – die Musik geschrieben hat?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Sagen Sie Ja, Ruth.« Er setzte einen Blick auf, über den sie laut lachen musste.
Ein bisschen fühlte sie sich überrumpelt. Andererseits wollte sie nichts lieber tun, als mit ihm ins Kino zu gehen. Im Dunkeln neben ihm sitzen, sein Knie an ihrem spüren, seinen Duft einatmen, seiner Stimme, seinem Lachen lauschen.
»Na schön. Ja, ich komme mit.«
»Klasse. Treffen wir uns um halb acht vor der Gondel, oder darf ich Sie mit meinem Wagen abholen?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie einen haben.«
»Oh, Sie wissen so einiges nicht von mir, denke ich.«
Sie wurde feuerrot. »Ich … Sie dürfen mich gern abholen.«
Er lächelte sie an. »Vielleicht lasse ich Sie fahren.«
»Das würden Sie tun?« Fast wäre sie vor Freude aufgesprungen. »Das wäre … fantastisch!«
Am Abend hatte sie sich bestimmt zehnmal umgezogen. Mittlerweile lag ein ganzer Wäscheberg auf ihrem Bett.
Sie sank aufs Bett und fuhr mit dem Finger über den hellen Glockenrock, der obenauf lag. Was war damit?
Nein, er war ihr zu lang, sie mochte es gern etwas kürzer. Aber nicht zu kurz. Also kein Mini?
Sie ließ sich hintenüberfallen und machte die Augen zu.
Seit dem Nachmittag hatte sie sich wieder und wieder vorgestellt, wie der Abend wohl verlaufen würde. Wie würde es sein, wenn sie nicht zusammen im Salon standen und arbeiteten, sondern nebeneinander im Kino saßen, ganz privat?
Wenn doch nur Rosemie hier wäre und sie beraten könnte!
Das Telefon klingelte, und sie sprang so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. »Ja?« Ob Rosemie Gedanken lesen konnte?
»Ich bin’s, Ruth.«
»Gisela, wie schön. Ist alles in Ordnung?« Sie tastete nach dem Hocker, der neben dem Telefon stand.
»Es ist keine neue Tragödie passiert, wenn du das meinst.«
Sie war nicht sicher, ob Gisela lustig sein wollte. Wieder wurde ihr bewusst, wie schwer sie ihre Schwester manchmal einschätzen konnte.
»Wie geht’s dir, Ruthchen?«
»Gut. Und dir?«
»Mir auch. Aber ehrlich gesagt …«
»Ja?«
»Ich langweile mich schrecklich.«
»Das verstehe ich gut.« Sie überlegte, ob sie Gisela von ihrer Verabredung erzählen sollte. Warum eigentlich nicht? »Ich habe gleich eine Verabredung.«
»Mit einem Mann?«
Sie musste lachen. »Ja, mit einem Mann.« Dass es sich um Rainer Kronewinkel handelte, sagte sie besser vorerst nicht. Gisela fand, man durfte sich nicht in seinen Chef verlieben, das gab nur Probleme.
»Ist er nett?«
»Allerdings.«
»Dann will ich dich auch gar nicht länger aufhalten, Ruth. Viel Spaß, ja? Und …«
»Ja?«
»Vielleicht kommst du demnächst mal und erzählst mir von ihm?«
Ruth freute sich über Giselas Anteilnahme und Interesse. War alles gut zwischen ihnen? »Das mache ich gerne.«
Aufgeregt wartete sie kurz darauf vor dem Haus. Die Sonne war herausgekommen, und auch wenn es kalt war, hatte es viele Spaziergänger und Radfahrer nach draußen gezogen.
Ruth hob das Gesicht in die Sonne und seufzte.
Dann hörte sie einen Wagen näher kommen, gleich darauf bog er um die Ecke und hielt vor dem Haus. Rainer!
Er stieg aus – er sah umwerfend aus in der hellen Hose und dem hellen Wolljackett – und winkte ihr zu.
Sie ging zu ihm, bewusst langsam, obwohl sie lieber gerannt wäre. »Danke fürs Abholen.«
»Steigen Sie ein.« Er trat beiseite.
»Ich soll fahren?«
»Das sagte ich doch, oder? Es sei denn, Sie wollen nicht.«
»Und ob ich will.« Sie stieg strahlend ein, stellte Sitz und Spiegel ein und ließ den Motor an. Es war lange her, dass sie in einem Auto gesessen hatte, noch dazu am Steuer. Hoffentlich hatte sie nichts vergessen.
»Das ist wie Fahrrad fahren«, sagte Rainer, als ahnte er ihre Gedanken. »Oder wie schwimmen. Das verlernt man nicht.«
Vorsichtig ließ sie die Kupplung kommen und gab Gas.
Der Wagen machte einen Satz, und sie entschuldigte sich zerknirscht.
»Macht nichts, das passiert mir auch. Es liegt an der Kupplung.«
Er lehnte sich entspannt zurück, während sie durch die Straßen fuhr. »Sie sehen klasse aus, sagte ich das schon?«
»Nein, aber vielen Dank.«
Sein Lächeln versetzte die Schmetterlinge in ihrem Bauch in Aufruhr. Alle flatterten gleichzeitig auf und stoben auseinander.