Am folgenden Nachmittag stand Ruth am Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Kinder spielten Fangen, und eine kugelrunde rot gescheckte Katze döste träge mitten auf dem Gehweg. Alle schienen sich am windigen und kalten Wetter nicht zu stören.
Ruth hatte unruhig geschlafen, immer wieder war sie hochgeschreckt, weil sie Rainers Gesicht vor Augen gehabt hatte. In diesem Moment fehlte ihr Marianne mehr denn je. Wie gern würde sie ihr alles erzählen, wie verliebt sie war, und wie selbstverständlich und absolut richtig es sich anfühlte.
Marianne schrieb nie, dass sie glücklich war, zufrieden. Sie schrieb nur, wie anstrengend ihr Leben war.
Manchmal war Ruth sicher, dass sie bald zurückkommen würde. Weil es ihr zu anstrengend war, weil sie es sich anders vorgestellt hatte und nun ernüchtert war.
Auch die Kundinnen im Salon glaubten, Mannequins bräuchten nur hübsch auszusehen und zu lächeln, und das wäre ein Klacks.
Dass ihr Leben aus Zeitdruck, ständigen Reisen, eiserner Disziplin und viel Verzicht bestand, ahnte keine von ihnen. Jede seufzte sehnsüchtig beim Anblick der bildhübschen Frauen auf den Titelbildern und träumte sich in deren Leben hinein, das in der Wirklichkeit so ganz anders aussah.
Ruth jedenfalls wollte keinen Tag mit Marianne tauschen.
Sie sah einen Mann auf einem Fahrrad die Straße entlangkommen. Rainer?
Offenbar hatte er sie am Fenster gesehen, denn er hob die Hand, winkte fröhlich und fuhr einhändig weiter.
Ruth nahm im Vorbeigehen Handtasche und Schlüssel und verließ die Wohnung.
Unten vor dem Haus zog er sie in seine Arme. »Komm her.« Er hielt sie und gab ihr einen Kuss aufs Haar. »Ich hab dich vermisst.«
Sie hob das Gesicht, um ihn küssen zu können. »Du hast aber nicht vor, mich auf dem Gepäckträger mitzunehmen«, sagte sie dann.
»Warum nicht? Das könnte sehr lustig werden.«
»Fragt sich, für wen.«
»Ich lasse den Wagen für kürzere Strecken ganz gern mal stehen.« Rainer schaute misstrauisch in den Himmel. »Ich dachte, wir gehen am Werdersee spazieren, aber das Wetter …« Er sah sie an. »Oder bist du unempfindlich?«
»Mir macht das Wetter nichts. Man muss sich nur entsprechend anziehen.«
»Gut, dann machen wir’s so. Und anschließend gehen wir im Café am See Johannisbeertörtchen essen.«
»Das klingt lecker.«
»Sie sind lecker.«
Ruth machte ihren Mantel zu und band sich ein Tuch um, dann spazierten sie los.
»Konntest du schlafen?«, fragte er nach einer Weile.
»Kaum. Und du?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab wach gelegen und mich gefragt, wie es nun weitergehen soll.«
Sie blieb stehen und sah ihn verwirrt an. »Wie meinst du das?«
Er nahm sie wieder in die Arme. »Ich habe so lange auf dich gewartet«, murmelte er an ihrer Halsbeuge. »Und jetzt …«
Sie machte sich los. »Und jetzt?«
Er zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, ich will keine Zeit verlieren.«
Was wollte er damit sagen? Sie war irritiert.
»Ich habe das Gefühl, als sollte ich dich ganz festhalten, Ruth.« Er sah sie an, und ihr wurden die Knie weich.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also ging sie langsam weiter, seine Hand in ihrer.
»Hab ich dich jetzt verschreckt?«, fragte er kleinlaut.
»Nein, nein. Ich bin nur etwas … durcheinander. Es geht alles so schnell mit uns.«
»Ich weiß. Aber es fühlt sich richtig an.«
Sie blieb stehen. »Das finde ich auch.«
Er strahlte wie ein kleiner Junge, der den lang ersehnten Hund bekommen hatte. »Wie schön, dass es dir genauso geht.«
Ruth nickte nur, sagen konnte sie nichts.
Später saßen sie an einem Tisch am Fenster, Kinder lärmten und rannten um sie herum.
Ruth hatte ihm von Marianne erzählt, und er hatte gebannt zugehört. »Sie ist also das neue Gesicht auf der Vogue «, sagte er beeindruckt. »Donnerwetter. Und du bist ihre Tante.«
»Könnte das bitte noch ein bisschen unter uns bleiben?«
»Natürlich, wenn du das möchtest.«
»Es wäre mir sehr lieb. Ehrlich gesagt, befürchte ich, dass ich ansonsten nur noch die Tante des berühmten Mannequins wäre und nicht mehr nur die Kollegin, mit der man sich gut versteht.«
Er nickte verständnisvoll und versiegelte seine Lippen mit dem Finger. »Noch eine Brause? Oder wollen wir zu Kaffee und Johannisbeertorte übergehen?«
»Sehr gerne.«
Draußen begann es zu regnen, und Wind kam auf.
Ruth nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne und zog sie über. Gut, dass sie sie noch untergezogen hatte.
Rainer winkte den Kellner heran und gab eine weitere Bestellung auf.
»Wieso bist du eigentlich nicht verheiratet oder wenigstens verlobt?«, fragte er, als der Kellner wieder abgezogen war. »Wie kann es sein, dass ich so viel Glück habe?«
»Es gab niemanden, den ich hätte heiraten wollen.« Sie trank ihre Limonade aus. »Aber ich war einmal fast verlobt.«
»Fast?«
»Ich habe Gott sei Dank noch rechtzeitig begriffen, dass wir nicht zusammenpassen.«
Er drehte gedankenverloren den Bierdeckel in seiner Hand. »Das verstehe ich gut.«
»Und du? Wieso bist du noch zu haben?«
Er schaute sie an. »Ich bin nicht mehr zu haben, Ruth.«
Sie schluckte, und ihr Herz machte einen Satz.
Er sprach weiter. »Ich war verlobt, ein ganzes Jahr lang, dann habe ich die Verlobung gelöst, weil auch ich begriffen habe, dass es nicht funktionieren wird. Meine Mutter war fassungslos. Jahrelang hatte sie mir in den Ohren gelegen, dass ich mich endlich binden sollte. ›Wie lange willst du noch so ein Lotterleben führen, Junge‹, hat sie gesagt. Ich hab mich wirklich schlecht gefühlt, sie so zu enttäuschen. Ich fürchte, sie versteht bis heute nicht, wie wichtig mir aufrichtige Liebe, Vertrauen und dieses wunderbare Gefühl von Zugehörigkeit sind. Sie begreift einfach nicht, dass die Zeiten sich geändert haben. Man darf heute wählen, mit wem man sein Leben verbringen will.« Er seufzte. »Ich wollte immer heiraten und eine Familie gründen. Stattdessen habe ich einen Frisiersalon eröffnet und arbeite von früh bis spät. Ich arbeite gern, aber als ich anfing darüber nachzudenken, dass das bis an mein Lebensende so weitergehen würde …« Er griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Aber jetzt bist du da, und irgendwie steht gerade alles auf dem Kopf.«
Ruth schluckte wieder. Seine Worte berührten sie bis ins Mark.
Kaffee und Kuchen wurden gebracht, und sie beschloss, Rainer anschließend von ihrer Familie zu erzählen.
Ruth erzählte vom viel zu frühen Tod ihrer Mutter und dass Gisela sie aufgenommen hatte. »Meine Schwester war damals jung verheiratet und Marianne gerade zwei geworden, als ich zu ihnen kam.« Sie schluckte. »Mein Vater fühlte sich überfordert, Mamas Tod hatte ihn … Es war furchtbar schwer für ihn.« Sie verstummte kurz und sprach stockend weiter. »Vor knapp drei Jahren hat Gisela ihren Mann verloren. Es hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Für Marianne war es natürlich auch schlimm, aber für Gisela … Ich weiß nicht, ich glaube, sie findet sich in ihrem Leben nicht mehr zurecht. Ich hab immer versucht, für sie da zu sein, aber sie hat mich nicht gelassen, hat mich weggeschoben, als gingen mich ihr Leben, ihr Kummer nichts an. Als verstünde ich überhaupt nicht, wie sie sich fühlt.«
»Du scheinst zu vergessen, dass du mit sieben Jahren deine Mutter verloren hast«, meinte er. »Wieso solltest du nicht nachempfinden können, wie sie sich fühlt?«
»Sie hat ja auch die Mutter verloren«, gab sie zu bedenken. »Für sie war es auch schlimm.«
»Aber du warst noch so jung, Ruth. Sieben Jahre alt, meine Güte! Das macht etwas mit einem Kind. Deine Schwester hatte bereits eine eigene Familie, sie war erwachsen.«
Wie einfühlsam er war.
»Du hast ja recht«, sagte sie leise.
Rainer legte die Hand auf ihre. »Es hilft nichts, wenn man sich selbst zerfleischt, um für jemanden da zu sein, der einen zurückweist.«
Sie betrachtete ihn verblüfft. Wie konnte er sie so gut kennen? »Ich hab damals ihr ganzes Leben durcheinandergebracht«, sagte sie mehr zu sich selbst. Sie glaubte immer mehr, dass das möglicherweise eine Erklärung für Giselas Verhalten ihr gegenüber war. »Sie hat sich nie beschwert. Aber ich glaube, es war eine schwere Bürde. Ich war eine Last für sie.«
»Und du meinst, das lässt sie dich jetzt spüren? Weil ihr Leben aus den Fugen geraten ist und sie selbst nicht mehr so recht weiß, wer sie ist?«
»Du hättest Psychologe werden sollen«, sagte sie lächelnd.
»Ich interessiere mich brennend für diese Dinge«, gestand er. »Ich finde ungeheuer spannend, wie die menschliche Psyche funktioniert.« Er hielt ihre Hand umschlungen. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt einen Spaziergang machen?« Er warf einen Blick aus dem Fenster. »Wir tun einfach so, als wäre Sommer und strahlender Sonnenschein.«
Sie hatten den Werdersee umrundet und sich anschließend auf eine Bank gesetzt. Ruth hatte den Kopf an Rainers Schulter gelehnt. Zwei verliebte Schwäne schwammen auf dem Wasser, blieben immer dicht beisammen.
»Wie rührend, sieh nur«, sagte Ruth. »Schwäne sind monogam, wusstest du das? Wenn sie den richtigen Partner gefunden haben, bleiben sie sich ein Leben lang treu.«
»Ich fühle mich wie der Schwan. Auch ich hab mein ganzes Leben nach jemandem gesucht, der zu mir passt.« Er hob ihr Kinn an und küsste sie. »Und jetzt hab ich dich gefunden.«
Nach einer Weile, in der sie still nebeneinandergesessen hatten, räusperte er sich. »Wollen wir uns auf den Heimweg machen? Es dämmert schon, und ich grusele mich im Dunkeln.«
Sie lachte. »Was? Du machst Witze.«
Er grinste. »Aber es dämmert wirklich. Komm.« Er streckte die Hand aus und zog sie mit sich.
Nach einigen Schritten fragte er: »Du bleibst doch bei mir, oder?«
Sie wusste nicht gleich, was er meinte. »Heute Nacht oder für immer?«
»Beides.«