30.

London


Marianne


Das Heimweh – hatte sie es zwischendrin besiegt oder es sich nur eingeredet? – traf sie an diesem Morgen mit voller Wucht und Härte. Vielleicht lag es auch am Wetter, das sie so an Bremen erinnerte. Es regnete und war ziemlich stürmisch.

Es war ihr erster freier Tag seit einer Ewigkeit. Am Abend zuvor war sie todmüde wie immer ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Sie hatte von ihren Eltern geträumt, die Arm in Arm am Fenster standen, als sie die Straße entlangkam. Sie hatte ihnen zugewinkt. »Ich bin wieder da! Ich bin wieder zu Hause!«, hatte sie freudig gerufen.

Sie war hochgeschreckt, hatte Licht angemacht und sich umgeblickt. Zu Hause? Nein, sie war in ihrem schicken Londoner Apartment, in einem mehrstöckigen Haus, dessen Bewohner sie höchstens vom Sehen kannte und die für sie alle namenlos waren.

Aber alle wussten, wer sie war.

»Ich hab Sie neulich auf der Vogue gesehen. Wie hübsch Sie wieder aussahen!« Oder auch: »Trägt man diesen Winter wirklich wieder Pelz?«

Draußen schlug der Regen ans Fenster, und sie drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände im Nacken.

Irgendwo im Haus dudelte ein Radio. ›I Got You Babe‹ von Sonny und Cher.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging zum Fenster, um frische Luft ins Zimmer zu lassen.

Unten auf der Straße war eine Gruppe junger Mädchen, die sich untergehakt hatten und laut miteinander plapperten. Alle trugen Miniröcke und Blusen in schrillen Farben und wilden Mustern. Farben, bei denen man manchmal die Augen abwenden musste, weil sie blendeten. Psychedelic fashion  – psychedelische Mode – wurde der Stil genannt.

Eine der Frauen blieb stehen und bog sich vor Lachen. Auch die anderen kicherten, während sie sie wieder unterhakten und weiterzogen.

Ein Mann mit überdimensionalem Schlapphut in Dunkelviolett kam die Straße entlanggeschlendert, eine Zigarette in der Hand, die allerdings nicht brannte. Vor jedem Schaufenster – und in dieser Straße nahe der Carnaby Street waren das so einige – blieb er stehen, legte den Kopf schief und spazierte weiter.

Marianne überlegte, ob sie ihn kannte. Sein Gang, sein Körperbau kamen ihr entfernt bekannt vor. Vielleicht waren sie sich mal irgendwo irgendwann begegnet.

Das Telefon auf dem kleinen Tischchen im Flur klingelte. Sie wollte erst nicht abnehmen, tat es dann aber doch. Möglicherweise war es wichtig, und sie würde sich am morgigen Tag so einiges anhören müssen.

Es war Neil. »Hey. Ausgeschlafen?«

»Nein.«

Er gähnte. »Ich auch nicht. Lust auf ein Mittagessen?«

»Nein, ich glaube nicht. Ich muss mich ausruhen.«

»Und du musst was essen. Ich hol dich in einer Stunde ab.« So war er immer, meldete sich oft wochenlang nicht, bis ihm dann plötzlich einfiel, dass es sie noch gab und er irgendwas mit ihr unternehmen wollte. Meistens landeten sie bei diesen »Unternehmungen« ziemlich schnell im Bett.

»Ich sagte doch: Ich muss mich ausruhen, Neil.«

»Okay, du bist sauer, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe.«

»Nein«, erwiderte sie müde, während sie ihre lackierten Fußnägel betrachtete. Pinkfarben. »Ich bin nicht sauer, nur schrecklich müde. Wirklich«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Sie musste plötzlich an ihre Clique daheim in Bremen denken. Was sie alle wohl machten?

Im Haus schlug eine Tür zu, und sie fuhr zusammen.

Auf der Straße hupte ein Auto, und eine wütende Stimme rief: »Pass doch selbst auf, Idiot!«

Ihr Englisch war inzwischen sehr gut, genau wie ihre Aussprache. »Learning by doing«, hatte Anthony gesagt, als sie ihn und alle anderen anfangs nicht verstanden hatte. »Hör gut zu und wiederhole. Und hab keine Hemmungen.«

Und genau das hatte sie getan: zugehört, nachgefragt und wiederholt. Immer wieder. Und nach und nach ihre Scheu abgelegt.

»Bist du noch dran?«, fragte Neil. Er klang beleidigt.

»Ja, aber ich lege jetzt auf«, sagte sie mit einem dämonischen Lächeln. »Bye.« Als der Hörer auf der Gabel lag, durchflutete sie ein Gefühl von Triumph.


Es hatte wieder und wieder Tage, Wochen gegeben, da war es, als würden alle an ihr zerren und reißen. Einer zog an ihren Armen, ein anderer an den Beinen, und jeder zerrte in eine andere Richtung. Ein Weiterer stand daneben und nörgelte, während ein Vierter ihr auf die Schulter klopfte und ihr Komplimente machte.

Oft wusste sie nicht, wo ihr der Kopf stand, sie wusste ja kaum noch, wer sie eigentlich, wer sie wirklich war. Die berühmte Ann, deren Gesicht mittlerweile auf allen großen Illustrierten war? Oder war sie auch noch – wenigstens ein bisschen – Marianne, die frühere Friseuse aus Bremen, die bis vor ein paar Monaten noch ein ganz normales, ein langweiliges Leben geführt hatte?

Rückblickend betrachtet kam es ihr jedoch gar nicht mehr so langweilig vor. Sie sehnte sich nach Ruhe, Harmonie und sogar Eintönigkeit. Wie gerne würde sie einfach mal wieder in den Tag hineinleben, aufstehen, wann sie wollte, und tun und lassen, worauf sie Lust hatte.

Im Spiegel sah sie eine fremde Frau mit leerem, traurigem Blick. Eine Frau mit Schatten unter den Augen, die Lindsay überschminken musste. Bis sie wieder aussah wie Ann, das hübsche Mannequin. Betrog sie nicht alle?

Hin und wieder musste sie eine Schlaftablette nehmen, um einschlafen zu können. Und am nächsten Tag brauchte sie Unmengen von Kaffee, um wach zu werden und zu bleiben.

Was ist nur aus mir geworden?


Eine gute Stunde später hing sie wie ein nasser Sack auf der grünen Couch, rauchte und sah fern. Was gerade lief, hätte sie nicht sagen können. Es interessierte sie nicht.

Sie hätte ins Martins gehen und Scones mit Clotted Cream essen können. Doch dazu müsste sie sich aufraffen, waschen und anziehen.

Es klopfte an der Tür, eindringlich und fordernd. »Ann? Bist du da?« Anthony. Ausgerechnet.

»Nein.«

»Komm schon. Mach auf!«

Sie ging hin und schob den Riegel zurück.

Er trug seine geliebte dunkelbraune, fleckige Lederjacke, darunter eine schwarz-weiß karierte Hose – Bäckerhose würde ihre Mutter sagen –, eine farbliche Kombination, die in den Augen wehtat. Hatte er mal in den Spiegel gesehen, bevor er das Haus verlassen hatte?

»Wie siehst du denn aus?«, begrüßte er sie.

»Das musst du gerade sagen.«

»Was?«

»Gar nichts.« Sie ging voran, und er folgte ihr.

Warf sich auf die Couch und legte die Arme auf die Lehne. »Warum bist du nicht anzogen?«

Sie blickte an sich hinab. »Ich bin angezogen.« Sie trug ein langes gestreiftes Hemd, das Neil bei ihr vergessen hatte und gerade so eben ihre Unterhose überdeckte. Doch vor An­thony genierte sie sich nicht. Er hatte noch nie irgendein anderes als berufliches Interesse an ihr gezeigt.

Sie setzte sich ihm gegenüber in den kanariengelben Clubsessel, den sie aus einer Laune heraus gekauft hatte. Wahrscheinlich, um zu demonstrieren, dass sie gewillt war, sich heimisch einzurichten, dem Apartment mit ihrem eigenen Stil und Geschmack Leben einzuhauchen.

Eine Weile saß er nur da und betrachtete sie verblüffend sorgenvoll. Schließlich räusperte er sich. »Ich wollte der Erste sein, der’s dir sagt.« Eine bedeutungsschwangere Pause. »Mary ist in der Klinik.«

»Was?« Ihr Blick glitt zu Marys Bett, das ungemacht wie immer war. Sie wollte ihre Eltern in Manchester – oder Liverpool? – besuchen und in drei Tagen zurück sein.

Marianne überlegte fieberhaft, wann sie abgereist war. Vorgestern? Oder schon vor drei Tagen?

»Was ist passiert? Hatte sie einen Unfall?«

»Sie ist bei ihren Eltern zusammengebrochen. Judy hat mich vorhin angerufen.«

»Zusammengebrochen? Aber wie …«

»Sieht so aus, als ginge es ohne sie weiter.« Es klang nüchtern, abgeklärt. Er zuckte mit den Schultern. »Hast du was zu trinken da?«

»Nein. Ich hab vergessen einzukaufen.«

»Komm schon, einen Kaffee wirst du doch kochen können.«

»Geh, bitte.« Plötzlich wollte sie nur noch allein sein. Vor allem aber wollte sie nicht mit ihm zusammen hier sitzen und über Mary nachdenken. Darüber, was mit ihr passiert war.

Er verdrehte die Augen und stemmte sich von der Couch hoch. Er schlurfte zur Tür, eine Hand in der Hosentasche. »Das wird schon wieder. So was passiert, Ann. Sie ist nicht die Erste und wird auch nicht die Letzte sein, glaub mir. Nicht jeder ist für diesen Job gemacht.«

Ich auch nicht , dachte sie.

»Lass dich davon nicht runterziehen. Bye!« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Sie nahm ein lilafarbenes Kissen und drückte es an sich. Nein, auch sie war für diesen Job, dieses Leben nicht gemacht. Wenn sie sich etwas anderes eingeredet hatte, so wusste sie es nun besser. Oder sie war endlich ehrlich zu sich selbst.