Gisela
Draußen schüttete es wie aus Eimern, und ein ungemütlicher Wind fegte durch die Straßen.
Gisela hatte bis zum Mittag im Bett gelegen und die Zeitung gelesen. Nur den Sportteil hatte sie wie üblich ausgelassen.
Ihre Tochter war jetzt seit einem Jahr in London. Die Zeit war wie im Flug vergangen, obwohl sie geglaubt hatte, sie würde stehen bleiben, als Marianne fortgegangen war.
Gisela platzte fast vor Stolz. Ihre Tochter war mittlerweile ein berühmtes Mannequin und begehrtes Fotomodell. Und sie schien gereift zu sein. Sie schrieb nach wie vor sehr selten, aber Gisela nahm ihr das nicht übel. Sie hatte immer so viel zu tun.
Doch Gisela war auch besorgt, arbeitete sie zu viel? Aß sie genug? Man hörte doch ständig, dass Mannequins auf alles verzichten mussten, was lecker war. Sie hatte sogar irgendwo gelesen, dass Mannequins nur Orangensaft mit einem Wattebausch darin tranken. Angeblich quoll der im Magen auf und sorgte dafür, dass sie kein Hungergefühl hatten.
Sie hatte es nicht glauben wollen, sie glaubte es bis heute nicht. Und ihre Tochter konnte sie schlecht fragen, die würde es kaum zugeben, sollte es wahr sein.
Gisela versicherte in all ihren Briefen, dass es ihr gut ging und sie Pläne machte, um den Salon möglichst bald wieder zu eröffnen. Sie versicherte auch, wie sehr sie die ungewohnte Freizeit genoss.
Ob Marianne alles glaubte, war fraglich.
Die Wahrheit war: Gisela kam nicht gut damit zurecht, in den Tag hineinzuleben. Sie hatte nie gelernt, Däumchen zu drehen und abzuwarten, was der Tag bringen würde. Ihr Alltag war immer gut organisiert und erfüllt von Arbeit gewesen.
Nun über so viel freie Zeit zu verfügen war nicht nur ungewohnt, es war schrecklich. Weil sie nichts mit sich anzufangen wusste.
An manchen Tagen stand sie im früheren Salon und starrte die Wände an. Hier hatte sie Tag für Tag gestanden, und ihr Leben hatte einen Sinn gehabt.
An diesem Tag jedoch war etwas anders, und sie wusste nicht, was. Ob sie etwas geträumt hatte, das ihr Unterbewusstsein noch immer beschäftigte, ohne dass sie sich daran erinnern konnte?
Träge schob sie die Bettdecke zurück und stand auf.
Genauso gut könnte sie liegen bleiben, sie würde ja doch nur die Zeit totschlagen.
Sie ging in die Küche. Sie brauchte dringend einen starken Kaffee. Auf ein üppiges Frühstück würde sie verzichten und nur eine Scheibe Knäckebrot mit Quark und wenig Marmelade essen. Mehr bekäme sie ohnehin nicht herunter. Sie setzte Wasser auf und stellte Tasse und Teller auf den Tisch.
Dort lag auch noch die Ansichtskarte, die ihr Bruder geschickt hatte. Er hatte seinen Urlaub in der Schweiz spontan verlängert. Mir geht’s prima, Gisela, stand darauf. Ich genieße die Zeit. Es ist herrlich hier, und ich mag die Leute.
Im Morgenmantel stellte sie sich ans Fenster und schaute hinaus. Die Straße glänzte vor Nässe und war voller Pfützen, immerhin hatte es zu regnen aufgehört.
Ein Paar ging mit zwei kleinen Kindern spazieren. Der Junge hüpfte auf einem Bein durch die Pfützen, das Mädchen, deutlich kleiner, war an der Hand des Vaters.
Gisela lächelte wehmütig. Was für ein entzückendes Bild.
Seufzend stand sie auf und stellte das Radio an. Es lief gerade ›Zucker im Kaffee‹, und sie drehte etwas lauter.
Sie mochte das Lied, ihr gefiel auch der Sänger, der sie ein wenig an Dietmar erinnerte.
Der Wasserkessel pfiff, und sie goss ihren Kaffee auf. Währenddessen ging ihr mit einem Mal durch den Kopf, ob es wirklich sinnvoll war, an eine Neueröffnung des Salons zu denken. Was war mit ihrem Kundenstamm? Alle waren doch längst bei einem anderen Friseur und verschwendeten vermutlich gar keinen Gedanken an Salon Fellbach.
Ein eigenartiges, befremdliches Gefühl durchflutete Gisela.
Wäre sie enttäuscht, wenn es keine Wiedereröffnung gäbe? Wäre sie nicht vielmehr … erleichtert?
Und wenn ja, durfte sie erleichtert sein?
Gisela fuhr zusammen, als es an der Tür klingelte.
Wer mochte das sein? Um diese Zeit? Vielleicht Ruth?
Sie huschte zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Vor ihr stand Kurt, neben ihm eine fremde rothaarige Frau.
»Kurt?«, fragte Gisela ungläubig. »Ich dachte, du bist noch in Zürich. Oder in Genf.«
»Ich hoffe, wir stören nicht, Gisela.« Er räusperte sich, und erst jetzt fiel ihr auf, dass er sehr elegant aussah. Der Anzug musste neu sein, sie hatte ihn noch nie an ihm gesehen. »Dürfen wir reinkommen? Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
»Ich … ähm … hab nichts an. Ich meine, ich hab nur einen Bademantel an.«
»Dann ziehst du dir vielleicht was über?« Er warf der Frau einen kurzen Blick zu. »Wir warten so lange.«
Gisela schloss die Tür, lief ins Schlafzimmer und zog die Sachen an, die sie am Abend zuvor an den Schrank gehängt hatte. Auf eine Strumpfhose verzichtete sie, es hätte zu lange gedauert. Schnell schlüpfte sie wieder in ihre Pantoffeln und lief zur Tür, um zu öffnen.
Ganz außer Atem sagte sie: »Bitte, kommt doch rein. Lasst uns gleich ins Wohnzimmer gehen.«
Dort blieben Kurt und seine Begleitung vor dem Couchtisch stehen, und ehe Gisela sie bitten konnte, Platz zu nehmen, sagte ihr Bruder: »Darf ich dir Beatrix vorstellen? Beatrix, das ist meine Schwester Gisela.«
Perplex murmelte sie: »Freut mich.«
Die Frau mochte um die vierzig sein, sie war sehr elegant gekleidet und gut frisiert. Ihr Haar war mahagonifarben, und ihre Haut zart und sehr hell. Ihre Augen waren von einem Blau, das Gisela nie zuvor gesehen hatte.
»Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau König.« Sie sprach mit Schweizer Akzent.
Endlich ging Gisela ein Licht auf, es war ein ganzes Lichtermeer. Sie war der Grund, dass Kurt so lange in der Schweiz geblieben war! »Bitte setzen Sie sich doch, Frau …«
»Hottiger. Aber bitte nennen Sie mich Beatrix. Eine schöne Wohnung haben Sie.« Sie nahm Platz und schaute sich um.
Bestimmt wollte sie nur freundlich sein, glaubte Gisela. Ihre Wohnung war schon lange nicht mehr schön im klassischen Sinn, sie war nicht mal besonders gemütlich. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sie vernachlässigt.
Früher hatte es hübsche Zimmerpflanzen gegeben, die gehegt und gepflegt worden waren. Sie hatte den gekachelten Couchtisch jeden Tag abgewischt und poliert, die Tischdecke gewechselt und frische Blumen hingestellt. Den Servierwagen in der Ecke hatte sie mit ihren schönsten Kristallkaraffen und den passenden Gläsern bestückt. Heute stand nur eine schlichte Karaffe darauf, deren Henkel einen kleinen Sprung hatte, und die beiden Gläser hatten Lippenstiftränder. Wieso fiel ihr das erst jetzt auf? Auf dem Tisch lagen eine Illustrierte und die aufgeschlagene Tageszeitung, daneben der volle Aschenbecher. Und im Zimmer stank es zum Himmel.
Was ist nur aus mir geworden?
Eilig und mit rotem Gesicht lief Gisela zum Fenster und öffnete es. Straßenlärm drang zu ihnen hoch, und sie wunderte sich, dass ihr auch das auffiel. Normalerweise achtete sie gar nicht darauf.
Sie rang sich ein Lächeln ab, dabei wäre sie vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.
Kurt hatte neben Beatrix Platz genommen. Ein wenig steif und geziert hockten sie nebeneinander.
»Willst du dich nicht auch setzen, Gisela?«, fragte er.
Sie stand noch immer am Fenster und wusste nicht recht, wohin. Wohin mit sich selbst, der Scham über ihre Aufmachung und Unordnung und der Verwirrung über ihre Gedanken.
Etwas wacklig setzte sie sich in einen der beiden Sessel und versuchte, die Beine übereinanderzuschlagen. Es war, als hätte sie die Kontrolle über ihren Körper verloren und verlernt, wie man die Beine übereinanderschlägt.
»Ich dachte, ich stelle euch mal einander vor«, begann Kurt.
Seine Hände wischten über seine Hosenbeine, das kannte sie bereits. Als kleiner Junge hatte er das schon getan. »Beatrix und ich sind uns in Bern begegnet«, sagte er weiter und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schwieg jedoch.
»Bern, richtig.« Gisela nickte. »Ich wusste nicht mehr
genau … Eine Urlaubsbekanntschaft also, wie nett.«
Und ein neuerliches Strohfeuer, das ihren Bruder ereilt hatte. Auch das kannte sie. Er war in all den Jahren immer mal wieder verliebt gewesen, mal mehr, mal weniger. Zuletzt in Heidelinde – und nun in Beatrix. Ihren Nachnamen hatte Gisela vergessen.
»Eine Urlaubsbekanntschaft, ja.« Kurt warf Beatrix einen flüchtigen Blick zu, lächelte und tastete nach ihrer Hand.
»Das stimmt nicht ganz, Gisela«, sagte er schließlich. »Ich, ähm, wir … wir haben beschlossen … wir wollen zusammenziehen.«
Gisela fiel fast aus dem Sessel. Zusammenziehen? Nach so kurzer Zeit? »Ach so?« Mehr fiel ihr dazu nicht ein.
»Ich weiß, es kommt sehr plötzlich. Für uns auch.« Wieder huschte ein verliebter Blick zu der Frau neben ihm.
Erst jetzt begriff Gisela wirklich, was das bedeutete. Dass Kurt und Beatrix entweder hier in Bremen … oder …
Sie mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. »Gefällt Ihnen Bremen?« Sie wusste nicht, weshalb sie das gefragt hatte. Vielleicht, um Kurt mehr zu entlocken.
Beatrix nickte. »Eine sehr schöne Stadt.«
»Ich werde nach Bern ziehen, Gisela.« Damit klärte Kurt endlich auf, was sie bereits geahnt hatte.
»Nach Bern«, sagte sie fassungslos. Hatten alle vor, sie zu verlassen?
»Mir gefällt die Stadt, ich mag das Land. Ich fühle mich wohl dort«, sagte er leise, als wollte er sich dafür entschuldigen.
Er plapperte noch ein paar Sätze über die schöne Landschaft, das regnerische Bremer Wetter und wie sehr er die Berge liebte. Das war Gisela neu, früher hatte er das flache Land gemocht. Alles schien plötzlich auf dem Kopf zu stehen, verkehrt herum zu sein, sie selbst eingeschlossen.
»Kurt hat mir erzählt, was mit Ihrem Salon passiert ist. Tut mir sehr leid«, sagte Beatrix mitfühlend.
»Danke.«
»Dann … werden Sie ihn nicht wieder eröffnen?«
»Ich würde gern.« Gisela schluckte. Mehr würde sie nicht preisgeben, schlimm genug, dass ihr Bruder das wahrscheinlich bereits getan hatte und Beatrix bestens informiert war. Es war ihr unangenehm, dass jemand Fremdes Bescheid wusste.
»Wir werden sehen«, sagte sie schließlich. »Entschuldigung, ich habe Ihnen noch gar nichts angeboten. Wie unhöflich. Möchten Sie einen Kaffee? Oder vielleicht einen Tee?« Oder einen Schnaps. Der wäre mir am liebsten.
»Nein, vielen Dank.« Beatrix schenkte ihr ein Lächeln. »Wir wollten auch nicht lange bleiben, nicht wahr, Kurti?«
Kurti. Gisela schluckte. Früher hatte ihr Bruder auch Kosenamen gehasst.
»Was machen Sie beruflich?«, fragte sie der Höflichkeit halber.
»Ich bin Sekretärin.«
Natürlich. Wie Heidelinde. Ihr Bruder schien ein Faible für Sekretärinnen zu haben. »Wie interessant.«
Ein längeres Schweigen entstand, und sie hätte am liebsten erleichtert aufgestöhnt, als Kurt endlich aufstand und Beatrix galant die Hand reichte. »Dann wollen wir mal wieder.«
An der Tür bedankte er sich, und Gisela fragte sich, wofür. Für ihre Gastlichkeit? Für die nette Unterhaltung?
»Und jetzt?«, fragte sie mühsam und mit rauer Stimme. »Wie … ich meine, wie geht es jetzt weiter, Kurt? Wann wirst du …« Sie hatte so viele Fragen und wusste, dass sie kaum eine stellen konnte. Sie wünschte, er wäre allein gekommen.
»Wir bleiben so lange, bis ich hier alles geregelt habe«, sagte er, ohne sie anzusehen.
»Tja, dann … Aber … du kommst doch noch mal und verabschiedest dich?« Es fiel ihr so schwer, es auszusprechen. Es war, als träumte sie.
»Klar.« Er tätschelte kurz ihre Schulter, lächelte verkrampft und legte den Arm um Beatrix. »Bis dann, Gisela.«
Auf der Treppe drehte er sich noch mal um. »Ich werde es Ruth sagen.«
»Ist gut.« Gisela schloss die Tür und lehnte die Stirn daran, die Augen geschlossen. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen, alles an ihr war wie zu einem Eisblock gefroren.