32.

Ruth


Sie hatte wieder bei Rainer übernachtet und war am Montag früh aufgestanden, um in ihre Wohnung zu fahren und ein paar Sachen zu waschen. Mittlerweile hingen etliche Röcke und Blusen in seinem Kleiderschrank, ein paar ihrer Bücher standen in seinem Regal und zwei Topfpflanzen auf seiner Fensterbank.

Ihre winzige Wohnung wurde von Mal zu Mal karger. Jedes Mal, wenn sie herkam, verschwand ein weiteres Stück: ein Sofakissen, ein weiteres Buch oder Kleidungsstück, ein Kosmetikartikel. Bald stünden hier nur noch die wenigen Möbel, die sie besaß.

Rainer und sie hatten natürlich längst darüber gesprochen, dass sie richtig zusammenziehen wollten. Seine Wohnung war hübsch, geräumig und hell, sie hatte sich gleich dort wohlgefühlt. Und sein Hund schien sich zu freuen, dass nun zwei Menschen da waren, die sich um ihn kümmerten und mit Leckerchen versorgten.

Vor einigen Tagen hatte Ruth sich ein Herz gefasst und mit ihren Kolleginnen gesprochen, bevor die Gerüchteküche anfing zu brodeln. Völlig ahnungslos schienen sie ohnehin nicht zu sein, auch wenn Ruth und Rainer sich die größte Mühe gaben, ihre Beziehung noch geheim zu halten.

»Ich muss euch etwas sagen«, hatte Ruth angesetzt. »Rainer und ich sind ein Paar.«

»Was du nicht sagst«, hatte Hella ein wenig spitz entgegnet. »Ein Blinder mit Krückstock sieht, wie verliebt ihr seid.«

»Allerdings«, hatte auch Elfie gemeint. »Du hättest uns ruhig etwas früher einweihen können.«

»Tut mir leid, aber ich wusste nicht, wie ihr reagieren würdet.«

»Weil du vielleicht bald unsere Chefin sein wirst?«

»Für euch werde ich immer eure Kollegin Ruth bleiben, nichts anderes.« Sie sah, dass die Kolleginnen einen Blick tauschten. Meint sie das ernst?, schien er zu bedeuten.

»Hast du noch mehr Geheimnisse?«, fragte Elfie mit einem Lächeln, das aufrichtig wirkte.

»Nein.« Ruth schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht kroch. Sollte sie doch damit herausrücken, dass sie Anns Tante war?

»Dann ist’s ja gut.« Elfie hatte ihr zugezwinkert. »Mehr könnte ich, glaube ich, auch nicht verkraften.«

Ruth hatte an diesem Montagvormittag gerade ein paar Sachen in ihre Reisetasche gepackt, als es an der Tür klopfte. »Ja?«

»Ruth? Ich bin’s.«

»Kurt?« Sie lief hin und machte auf. »Ich wusste gar nicht, dass du in Bremen bist.« Sie umarmte ihn. »Wie schön, dich zu sehen. Komm rein.«

»Deine Wohnung sieht ganz schön … leer aus«, sagte er, nachdem sie sich gesetzt hatten.

Sie lachte. »Stimmt. Ich wohne jetzt mehr oder weniger ganz bei Rainer.«

Kurt nickte. »Ich hab dir auch was zu sagen, Ruthchen.«

»Das klingt spannend. Möchtest du was trinken? Ich kann uns Kaffee machen.«

Er winkte ab. »Nicht nötig. Ich hab schon gefrühstückt.« Er räusperte sich und schlug die Beine übereinander. »Dann hat Gisela noch nichts gesagt?«

»Gisela? Nein. Was sollte sie mir denn gesagt haben?«

»Ich dachte, sie hätte dich vielleicht angerufen und dir … Na, egal. Ich werde in die Schweiz ziehen.«

»Was? Aber ich dachte, du wolltest nur Urlaub dort machen.«

»Hab ich auch.« Er räusperte sich wieder. »Und ich hab wen kennengelernt. Beatrix.«

»Ach, sieh mal an, du hast dich in eine Schweizerin verguckt.«

»Ich glaube, ich will sie heiraten. Sie ist die Frau meines Lebens, das wusste ich gleich, als sie mir über den Weg lief. Schon verrückt, was?«

»Vielleicht, Kurt. Aber so was gibt’s. Mir ist das ja selbst passiert. Ich hätte auch nie damit gerechnet.« Sie schluckte und sah ihn an. »Und Gisela? Was sagt sie dazu?«

»Sie war genauso überrascht wie du. Nur, dass sie … Na, du kennst sie ja. Sie ist nicht so verständnisvoll wie du. Sie glaubt wahrscheinlich, dass ich’s mir wieder anders überlege, dass das wieder eins meiner … wie nennt sie das – meiner Liebesabenteuer ist, ein Strohfeuer. Aber das ist es nicht, Ruth, diesmal nicht. Diesmal ist es mir ernst.«

»Ich freue mich für dich, Kurt.« Sie legte die Hand auf seine.

»Weißt du, seit Dietmar tot ist, denke ich oft darüber nach, dass das Leben verdammt schnell vorbei sein kann. Es kam so plötzlich, niemand hätte doch damit gerechnet, dass er einen Herzinfarkt …« Er brach ab und seufzte. »Da fühlst du dich quicklebendig und dann auf einmal – zack! Plötzlich ist alles vorbei, und du hast noch nicht mal annähernd das getan, was du immer gern tun wolltest. Du bist aus deinem elenden Trott nicht rausgekommen, weil du gedacht hast, du hättest noch ewig Zeit.« Er seufzte wieder. »Hast du aber nicht, weil nämlich niemand weiß, wann das Licht ausgeht.« Er hob den Kopf und schaute sie an. »Ich will nicht, dass es mir auch so geht, Ruth. Allein die Vorstellung …« Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mehr warten, bis ich mir zu hundert Prozent sicher bin, ob ich Beatrix wirklich heiraten möchte. Weil es diese hundert Prozent nicht gibt. Ich bin mir zu achtzig Prozent sicher, vielleicht auch nur zu siebzig. Eine Garantie gibt dir keiner.«

»Stimmt.«

»Ich glaube, ich hab einen Fehler gemacht«, sagte er dann. »Ich hätte allein zu Gisela gehen sollen. Ich glaube, ich hab sie überrumpelt, als ich plötzlich mit Beatrix vor der Tür stand. Manchmal bin ich so ein Schafskopp.«

Ruth strich über seinen Handrücken. »Du kannst ja noch mal mit ihr reden. Wann lerne ich deine Beatrix denn kennen?«

»Sie ist schon wieder zurück in der Schweiz, ihre Mutter ist krank geworden. Eigentlich wollten wir zusammen zurückreisen. Ich muss hier noch ein paar Dinge erledigen.«

»Wie schade, dass sie schon wieder weg ist.«

»Du lernst sie schon noch kennen.«

»Ja, auf eurer Hochzeit.«

Er grinste sie an. »Besser als nie.«

Er sah so glücklich aus. Wann hatte sie ihn zuletzt so gelöst, so heiter erlebt?

Das wollte sie ihm gerade sagen, als das Telefon klingelte.

Sie lief hin und nahm ab.

»Ruthchen, bist du das?«

»Gisela?« Sie klang so verwaschen.

»Ja, ich bin’s. Ich wollte nur mal deine Stimme hören.«

»Geht’s dir gut? Du klingst so merkwürdig.«

»Kurt war gestern da, Ruthchen, er …«

»Ich weiß, er ist gerade hier und hat mir alles erzählt.«

Irgendwo fiel etwas um, und Gisela fluchte. »Und jetzt geht er auch weg. Alle gehen weg.« Sie schniefte.

»Ich nicht, Gisela, ich bleibe.« Sie sollte ihr von Rainer erzählen. Aber nicht am Telefon. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Alles ist in bester Ordnung.« Wieder ein Lachen.

Ob sie betrunken war? Am frühen Morgen?

»Weißt du was, Gisela? Ich komme vorbei, und wir reden mal wieder ganz in Ruhe. Einverstanden? Ich gehe beim Bäcker vorbei und bringe frische Brötchen mit.«

»Nein, nein, lieber nicht«, stammelte ihre Schwester. »Ich bin … Es ist ungünstig … Ich bin gar nicht angezogen.«

Ruth musste lachen, unterdrückte es aber. »Dann ziehst du dir was an. Ich bin in einer halben Stunde da.« Sie legte einfach auf.

Kurt war aufgestanden und zu ihr gekommen. »Ist was?«

»Sie hat ganz seltsam geklungen, als sei sie angeschickert.«

»Angeschickert? Um diese Zeit?« Er hob die Augenbrauen.

»Ich gehe hin und sehe nach ihr.«

Er breitete die Arme aus und drückte sie an sich. Eine seltene Geste. »Du bist eine klasse Schwester, Ruthchen. Ich fürchte nur, das weiß sie nicht.« Er gab sie frei und ging zur Tür.

»Sehen wir uns noch mal, bevor du …« Es fiel ihr mit einem Mal schwer, es auszusprechen. Weil es ihr plötzlich unwirklich vorkam, dass auch ihr Bruder Bremen verlassen würde. Dass er in einem anderen Land leben würde, fern der Heimat. Mit einer Frau, die sie nicht mal kannte. Alles änderte sich gerade so plötzlich, so rasend schnell.

»Klar.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Auch das war so selten vorgekommen, dass sie ihn verblüfft anschaute. »Ihr könnt mich zum Bahnhof bringen, wenn ihr wollt.«

»Du fliegst nicht?«

Ihr Bruder verzog das Gesicht. »Ich gewöhne mich einfach nicht dran. Das ist nichts für mich.«

Ruth machte die Tür hinter ihm zu, zog sich rasch um und verließ anschließend die Wohnung.

Sie hatte ein ungutes Gefühl, was sie bei ihrer Schwester erwarten würde.