Wenig später stand Ruth vor dem Salon und riskierte einen Blick in den schmalen Spalt des verhängten Schaufensters. Es hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Wie ihre Schwester sich Tag für Tag fühlen musste, konnte sie sich gut vorstellen.
Sie drückte auf die Klingel am Nebeneingang und wartete.
Und wartete.
Sie klingelte noch mal und wartete erneut.
Dann schepperte etwas, und kurz darauf stand Gisela vor ihr. Sie war in Unterrock, ein Träger hing über der Schulter, das blondierte Haar war offen und wirr, die Feinstrumpfhose hatte eine Laufmasche vom Oberschenkel bis zum Schienbein. Und sie trug nur einen Pantoffel.
»Ruth?« Mit offenem Mund starrte sie sie an.
»Ich sagte doch, dass ich vorbeikomme.« Ruth raschelte mit der Brötchentüte.
»Ach ja?« Gisela fuhr sich durchs zerzauste Haar. »Davon weiß ich gar nichts.«
»Wir haben doch erst vor einer halben Stunde telefoniert.«
»Ach ja?«, sagte sie wieder und runzelte die Stirn. Dann huschte ein breites Lächeln über ihr Gesicht – sie war ungeschminkt, was ganz ungewohnt war –, und sie nickte eifrig. »Stimmt! Jetzt weiß ich’s wieder.« Sie schwankte, als sie beiseitetrat.
Ruth ging an ihr vorbei und roch die Schnapsfahne. Sie war also tatsächlich mindestens angeschickert. Deshalb der seltsame Aufzug, das wirre Haar und der fragende, verwirrte Blick.
Ruth lief die Treppe hoch und wartete, bis Gisela ebenfalls oben war. »Wo ist dein zweiter Pantoffel?«
»Den kann ich nicht finden.«
»Wir suchen ihn gemeinsam.« Ruth betrat die Wohnung und verzog das Gesicht. Es roch nach kaltem Rauch, Alkohol und einem Hauch Parfüm; eine äußerst unangenehme Mischung.
Sie ging voran ins Wohnzimmer und sah eine halb leere Flasche Schlehenlikör auf dem Tisch, daneben der randvolle Aschenbecher. Sie ging zum Fenster und öffnete es.
»Hier stinkt’s fürchterlich«, sagte Gisela hinter ihr. »Verstehe ich nicht.«
»Ich schon.« Ruth ging zu ihr und legte den Arm um sie. »Ich koche uns einen Kaffee, ja?« Sie schnüffelte an ihrem Haar. »Aber vorher suchen wir deinen Pantoffel, und dann helfe ich dir beim Waschen und Anziehen.«
Sie hätte viele Fragen stellen können: Warum trinkst du um diese Zeit? Warum lässt du dich so gehen? Warum sagst du nicht, wenn es dir nicht gut geht? Ist es wegen Marianne? Oder wegen Kurt? Wegen des Salons? Oder allem zusammen?
Doch sie kannte die Antworten auf alle Fragen.
Gisela lehnte sich an sie und schniefte. »Du bist da, Ruthchen.«
Ja, und ich wäre immer da, wenn du mich nur ließest.
»Kurt geht weg«, sagte sie plötzlich und schniefte wieder. »Wo ist denn jetzt mein Pantoffel?«
Ruth entdeckte ihn unter der Couch, und sie schlüpfte mit einem kindlichen Kichern hinein. »Der alte Schlingel.«
»Komm, wir gehen ins Bad, und du wäschst dich, ja?«
»Wieso? Bin ich schmutzig?« Wieder kicherte sie.
»Das nicht.« Ruth ließ heißes Wasser ins Waschbecken laufen, suchte einen frischen Waschlappen und tauchte ihn ein. »Hier. Warte, noch etwas Seife.« Sie reichte sie Gisela, die sich auf den Wannenrand gesetzt hatte.
»Als Marianne noch ganz klein war, hab ich sie ins Waschbecken gesetzt und abgewaschen. Du hättest sehen sollen, wie niedlich sie dann immer aussah.« Sie seufzte. »Sie war ein so süßes kleines Mädchen. Mein kleines Mäuschen.« Sie nahm das Handtuch entgegen, das Ruth ihr gab. »Manchmal habt ihr auch zusammen gebadet, erinnerst du dich noch?«
»Nein, das ist zu lange her. Soll ich dir helfen?«
Gisela versuchte, den Unterrock auszuziehen und fiel dabei beinahe hintenüber in die Wanne. Ruth hielt sie schnell fest und zog ihr den Unterrock über den Kopf.
»Und jetzt ist sie erwachsen. Eine erwachsene Frau. Und so erfolgreich. Ich bin so furchtbar stolz auf sie, weißt du das?«
»Ja, ich weiß, Gisela. Ich bin auch stolz. Hier ist ein frischer Unterrock.«
Gisela nahm ihn entgegen und starrte vor sich hin. »Ich weiß nicht mehr, wofür ich noch gut bin, Ruthchen«, sagte sie leise. »Kennst du das, wenn du dich fragst, wozu du eigentlich auf dieser Welt bist?«
Ruth hockte sich vor sie hin, eine Hand auf ihrem Knie. »Das fragt sich wohl jeder hin und wieder. Du brauchst auch eine neue Strumpfhose. Warte, ich hole sie dir. Aber fall mir nicht in die Wanne, hörst du?« Sie zog sie kurzerhand auf die Beine. »Stell dich ans Waschbecken, ja? So ist’s gut. Bin gleich wieder da.«
Im Schlafzimmer musste sie eine halbe Ewigkeit nach einer neuen Strumpfhose suchen. Früher hatte Gisela peinliche Ordnung und Sauberkeit gehalten, egal, in welchem Raum. Sogar die Besenkammer war immer tipptopp aufgeräumt.
Jetzt herrschte Chaos, auf dem Bett lagen Kleider und Röcke, auf dem Teppich davor verstreut Fotos und Briefe. Dietmars Anzüge hingen noch im Kleiderschrank, seine Krawatten auf einem Bügel. Sie hatte noch nichts davon weggegeben?
Ruth stieß ein Seufzen aus. Kein Wunder, dass sie nicht abschließen konnte. Sie klammerte sich an jedes noch so kleine bisschen Vergangenheit und Erinnerung.
Ruth kniete sich hin und betrachtete die Fotos. Dietmar war darauf, mal allein, mal zusammen mit Gisela. Auf anderen Fotos war Marianne als kleines Mädchen, als Heranwachsende, als Mannequin. Das Foto hatte sie auch Ruth geschickt.
Auf zwei Fotos waren sie und Ruth zu sehen, Arm in Arm, ein lustiges Geburtstagshütchen auf dem Kopf.
Ruth stand auf, nahm Strumpfhose und Unterwäsche aus der Schublade, suchte Rock und Bluse und lief zurück ins Bad.
Gisela hockte auf dem Frotteevorleger. »Ich glaube, ich hab zu viel Likör getrunken.«
»Das denke ich auch. Hast du dich gewaschen?«
Sie nickte matt.
»Ich hab dir was zum Anziehen mitgebracht.« Während Ruth ihr dabei half, sich anzuziehen, streichelte sie sanft ihr Knie. »Du darfst nicht so viel trinken, Gisela. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Und ich hab schon wieder viel zu viel geraucht.« Es klang weinerlich. Plötzlich blickte sie auf. »Ich bin eine furchtbare Schwester, oder?«
»Nein, bist du nicht.«
»Bin ich doch.«
Ruth half ihr auf und bat sie, sich wieder auf den Wannenrand zu setzen. »Ich mache dir die Haare, ja?«
Gisela kicherte. »Du bist ja auch Friseuse. Ach, Ruthchen.« Plötzlich wurde sie ernst. »Ist das nicht seltsam, dass mir der Salon gar nicht fehlt?«
»Nein?« Ruth war überrascht und sah sie an.
»Ich schäme mich, aber es ist so.«
»Deswegen musst du dich nicht schämen.« Ruth begann, ihr Haar zu bürsten.
»Ich wollte ihn ja wieder aufmachen, aber jetzt, wo auch Kurt weggeht …«
Ob sie ihn vielleicht gar nicht wieder eröffnen will?, dachte Ruth. Wäre es ihr vielleicht sogar ganz recht, wenn er geschlossen bliebe? Weil er all die Jahre eine zu große Verantwortung und Belastung war? Hatte sie es sich nur nie eingestehen wollen und auch nicht dürfen?
Ruth wickelte ihr Haar zu einem Knoten und steckte es mit ein paar Kämmen fest. Die hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt. Es war schon Jahre her. »Du hast sie ja immer noch.«
»Was denn?«
»Die Kämme.«
»Ach ja?« Gisela fasste sich ins Haar und lächelte. »Tatsächlich. Sie gefallen mir, Ruthchen, sie sind wirklich hübsch.« Sie verzog das Gesicht. »Ich hab schreckliches Kopfweh.«
»Wo hast du die Schmerztabletten?«
»Ich glaube, im Schlafzimmer in der Kommode.«
Ruth lief hin, und als sie zurückkam, sagte Gisela: »Ich möchte einen dieser neuen Spiegelschränke haben. Die sind schick, oder? Und so ungemein praktisch.«
»Wollen wir jetzt in die Küche gehen und Kaffee kochen? Du solltest auch was essen.« Ruth half ihr auf, und sie blieb vor dem Waschbecken stehen und starrte ihr Spiegelbild an.
»Kaum zu glauben, dass ich das bin«, murmelte sie. »Ich bin alt geworden, Ruthchen, sieh nur.«
»Jünger werden wir alle nicht.«
Ihre Schwester stutzte und sah sie entgeistert an. Dann begann sie aus heiterem Himmel, hemmungslos zu weinen. »Dietmar«, schluchzte sie. »Das hat er auch immer gesagt. ›Jünger werden wir alle nicht‹, hat er immer gesagt. Er fehlt mir so schrecklich, Ruthchen, oh Gott, er fehlt mir so.« Sie schrie es beinahe, als hätten die Worte die ganze Zeit in ihrem Hals gesteckt und könnten nun endlich befreit werden.
Es war das erste Mal seit Dietmars Tod, dass Ruth sie so erlebte, dass sie sich so gehen ließ und alles aus sich herausweinte, was sich angestaut hatte.
Ruth zog sie neben sich auf den Wannenrand und hielt sie. »Weine nur, Gisela, weine nur.«
Ihre Schultern bebten, ihr ganzer Körper bebte. »Ich fühle mich so allein, so schrecklich allein.«
»Das bist du aber nicht.« Ruth umschlang sie mit beiden Armen und hielt sie ganz fest. »Du bist nicht allein, nie gewesen.«
»Weißt du was, Ruthchen«, sagte sie plötzlich ganz leise. »Ich bin auch so ungeheuer … wütend auf ihn!« Sie war mit jedem Wort lauter geworden. »Ich bin wütend, weil er mich allein gelassen hat! So wütend!«
Sie schluchzte, zitterte und schniefte, dann wurde sie still. »Und dafür schäme ich mich so, Ruthchen. Ich darf doch nicht wütend auf ihn sein. Wie kann ich denn wütend sein?«
»Du darfst wütend sein, weil er gegangen ist. Weißt du noch, was der Pastor gesagt hat, als Papa gestorben ist?«
Gisela schniefte wieder. »Er hat eine ganze Menge gesagt«, meinte sie trocken. »Dabei hat er ihn kaum gekannt.«
»Er hat gesagt, die Trauer hat viele Gesichter. Erst ist es, als würde einem der Himmel auf den Kopf fallen, man ist so traurig, so niedergeschlagen, dass man nicht klar denken kann. Dann kommt der Punkt, an dem man den anderen verwünscht. Weil er einfach weg ist. Weil man allein zurückgeblieben ist. Und dann kommt irgendwann der Moment, an dem man sich zu fragen beginnt, wie es weitergehen soll. Wie man selbst weiterleben kann und will.«
»Wenn ich bloß wüsste, an welchem Punkt ich bin, Ruth. Ich bin so oft alles zusammen: traurig, wütend, verzweifelt. Ich fühle mich so leer.« Sie hielt inne und sah Ruth an. »Nein, ich habe mich leer gefühlt. Ich glaube, es wird besser.« Sie lächelte, als sei sie selbst überrascht.
Ruth stand auf und nahm ihre Hand, und sie gingen in die Küche.
Gisela sank auf einen Stuhl und putzte sich die Nase, während Ruth feststellte, dass die Butter im Kühlschrank ranzig war und das einzige Glas Marmelade – Hagebutte; allein vom Geruch wurde ihr schon übel – schimmelig.
»Weißt du was, ich laufe schnell los und kaufe ein. Du hast fast gar nichts mehr im Haus«, erklärte sie fröhlich.
»Aber du kommst doch wieder?«
»Natürlich. Komm, am besten, du legst dich bis dahin ins Bett und schläfst ein bisschen.«
Gisela blickte an sich herab. »In dem Aufzug?«
Ruth musste lachen. »Du hast recht. Dann legst du dich eben auf die Couch.«
Als sie Gisela zudeckte, hielt die ihre Hand fest und drückte sie. »Ich schäme mich, Ruthchen. Ich schäme mich vor dir.«
»Das musst du nicht.«
»Tue ich aber. Ich hab am frühen Vormittag einen sitzen und dann auch noch dieser Weinkrampf.«
Ruth setzte sich zu ihr. »Den Weinkrampf finde ich gar nicht schlimm. Ich glaube, es war gut, dass du mal alles rausgeweint hast. Aber das mit dem Trinken muss aufhören, versprichst du mir das? Wenn du was auf dem Herzen hast, rufst du mich einfach an oder du kommst vorbei. Du wirst dich immer allein fühlen, wenn du dich still für dich betrinkst und alle ausschließt.«
»Du hast recht, Ruthchen.« Es klang kleinlaut. »Ich war so allein mit mir. Und das ist nur schwer auszuhalten.«
»Du hast doch mich.«
Gisela nahm ihre Hand und legte sie an ihre Wange. »Kannst du mir verzeihen?«
Ruth nickte, ohne eine Sekunde zu zögern. Sie hatte lange auf ein Gespräch wie dieses, auf ein Zeichen von Gisela gewartet. Sie war bereit für einen Neuanfang und ihre Schwester offenbar auch.