34.

Ruth war länger unterwegs gewesen, und als sie zurückkam, schlief Gisela und atmete tief und ruhig.

Sie deckte den Tisch und räumte die Einkäufe weg. Wie gut, dass sie hergekommen war und für Gisela da sein konnte. Vielleicht standen sie wirklich beide vor einem Neuanfang.

Als der Wasserkessel pfiff, kam Gisela aus dem Wohnzimmer.

»Hast du gut geschlafen?«

»Ja, ich glaube, ich habe geschlafen wie ein Baby.« Sie nahm Platz und betrachtete den gedeckten Tisch. »Wie schön das aussieht, Ruthchen.« Sie wirkte erholt und viel klarer.

»Ich hab dir deine Lieblingsmarmelade mitgebracht.«

»Erdbeere?«

»Nein, Kirsch.«

Sie schauten sich an, beide verwundert, bis Ruth schließlich lachen musste und Gisela einfiel. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Ruth war froh, dass sie nichts sagen musste. Das Lachen fiel ihr so viel leichter.

Als der Kaffee auf dem Tisch stand und sie eine Kleinigkeit gegessen hatten, setzte Ruth an, um von Rainer zu erzählen. »Ich habe mich verliebt.«

»Sag bloß! In wen denn?«

»In meinen Chef.«

»Ach, du lieber Himmel.«

Ruth musste erneut lachen. »So schlimm ist es gar nicht.«

Sie erzählte von ihrem ersten Treffen, dem Abend im Kino, und dass sie inzwischen fast bei ihm wohnte. »Ich werde meine Wohnung kündigen und ganz bei Rainer einziehen.«

Gisela sah sie mit großen Augen an. »Das geht aber alles ganz schön fix, Ruthchen.«

»Ich weiß, aber es fühlt sich richtig an.«

Gisela biss in ihr Brötchen, legte es schließlich beiseite und sah sie nachdenklich an. »Ich überlege gerade, ob ich beleidigt sein sollte, weil du mir erst jetzt von ihm erzählst.«

Ruth spürte sofort wieder das vertraute Gefühl von schlechtem Gewissen, das sie überkommen wollte. Nein, sagte sie sich, dafür gab es keinen Grund. Und versuch bloß nicht, dich zu rechtfertigen. »Das hätte ich längst getan«, sagte sie deswegen ehrlich. »Aber es war so schwierig zwischen uns, so anstrengend.«

Gisela nickte. »Ich weiß. Du hast recht. Und ich bin auch gar nicht beleidigt. Ich will mich ändern, Ruth, unbedingt. Ich will eine bessere Schwester, eine bessere Mutter werden. Glaubst du, ich kriege das hin?«

»Wenn du es wirklich willst, schaffst du es auch.«

»Du glaubst, es ist nur eine Frage des Willens?«

»Ja, ich denke schon.« Ruth schenkte Kaffee nach.

»Ich war so gemein zu dir.« Giselas Stimme zitterte. »Ich hab dich spüren lassen, dass ich mich damals um dich kümmern musste. Ich hatte doch gar keine andere Wahl, was hätte ich denn tun sollen? Dich wegschicken? Als du vor mir standst in deinem niedlichen rot gepunkteten Kleidchen und mit deinem Koffer und Anton … Ich wusste, dass sich alles ändern würde. Mein ganzes Leben, alles.« Sie schluchzte laut auf. »Aber ich hatte keine Wahl, und ich wollte ja auch für dich da sein.«

»Und das warst du. Du hast mir wieder eine Familie gegeben, und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Vielleicht habe ich meine Dankbarkeit nicht immer so gezeigt, wie ich’s hätte tun müssen …«

Gisela schüttelte den Kopf und streckte die Hand nach ihrer aus. »Ich war damals überfordert, schrecklich überfordert. Ich hatte manchmal solche Angst, dass ich nicht schlafen konnte. Und ich fühlte mich …« Sie stockte, bevor sie weitersprach. »Ich fühlte mich betrogen.«

Ruth schluckte. Betrogen. Ja, sie verstand das. Ihre Schwester war damals frisch verheiratet, und sie und Dietmar konnten ihre gemeinsame Zeit nicht genießen, weil Ruth zu ihnen gekommen war. Ihnen war die Möglichkeit genommen worden, sich auf ihre kleine Familie konzentrieren zu dürfen.

Gisela musste große Schwester und Mutter sein, ohne dass sie jemand gefragt hatte, ob sie das überhaupt wollte, bereit dazu war. Und später hatte sie dann noch mit ansehen müssen, wie ihre Tochter und ihre Schwester sich verbündeten, zu einer Einheit geworden waren und sie ausgeschlossen hatten.

Ruth schluckte erneut. Sie wollte etwas sagen, nur was?

»Ich hab dir alles genommen, als ich dich aus dem Salon geworfen habe«, sagte Gisela leise weiter.

»Nein, das stimmt so nicht. Natürlich war ich anfangs fassungslos.« Ruth lächelte. »Aber sieh es mal so: Hättest du mich nicht rausgeworfen, hätte ich Rainer nicht getroffen.«

»Du bist mir deswegen nicht mehr böse?«

»Nein.« Sie überlegte, ob sie es überhaupt je gewesen war. Sie wusste es nicht mehr. Es war nicht mehr wichtig. »Danke, dass du mir das alles gesagt hast. Das bedeutet mir viel.« Und es ändert alles . Das sagte sie jedoch nicht laut, weil sie es dann näher hätte erklären müssen, und das konnte sie nicht.

»Weißt du, was mir heute Morgen durch den Kopf gegangen ist?«, sagte sie nach einer kleinen Weile. »Vielleicht gründe ich ja doch noch eine Familie.«

»Das Muttersein ist wunderbar, Ruthchen. Aber ich habe auch da so viele Fehler gemacht.«

»Man kann alles hinbiegen, wenn man will.«

»Glaubst du?«

Ruth nickte überzeugt.

»Was sagst du eigentlich zu unserem Bruder?«

»Er hat sich verliebt, ganz plötzlich, genau wie ich.«

»Du findest es nicht zu überstürzt?«

»Das kann man sich manchmal nicht aussuchen.«

»Das meinte ich nicht. Ich meine, dass er in die Schweiz ziehen will.«

»Er will einfach keine Zeit vergeuden.« Was er über Dietmar gesagt hatte, verschwieg sie besser. Es würde ihre Schwester nur wieder traurig machen. So weit war sie vermutlich noch nicht.

Gisela stützte das Kinn in die Handfläche und schaute zum Fenster. »Er hat recht. Wie sagtest du vorhin so passend: Wir werden nicht jünger.« Eine Weile schien sie tief in Gedanken versunken, dann lächelte sie plötzlich und sah Ruth an. »Ich glaube, ich möchte den Salon nicht wieder aufmachen. Jetzt, wo auch Kurt weggeht … Wie sollte das funktionieren? Ich müsste eine Friseuse einstellen.« Sie holte tief Luft und atmete aus. »Nein, das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich wünschte, es wäre so. Die Wahrheit ist: Ich bin froh, dass ich einen Grund habe, ihn nicht mehr aufmachen zu müssen.« Wieder atmete sie heftig aus. »Und ich bin froh, dass ich es endlich mal ausgesprochen habe.«

Ruth fiel etwas ein. »Weißt du noch, als ich vor dem verhängten Schaufenster stand, kurz nach dem Brand, und du mir erzählt hast, dass du den Salon wohl nicht wieder aufmachen kannst? Du hast überlegt, wieder eine Hypothek aufzunehmen, hättest aber nicht gewusst, wie du die Raten zahlen sollst. Und dann wolltest du noch was sagen. Wolltest du mir sagen, dass du auch nicht gewusst hättest, warum du ihn wieder aufmachen sollst, wofür?«

Gisela überlegte noch, schließlich nickte sie. »Bist du jetzt entsetzt oder enttäuscht von mir?«

»Nein, ganz und gar nicht, im Gegenteil, ich verstehe dich.«

»Wirklich?« Es klang ungläubig.

»Der Salon war eine große Verantwortung, er war …«

Während Ruth noch nach einem Wort suchte, sagte ihre Schwester leise: »Er war viel mehr als das. Er war eine Last, eine Bürde, die ich nicht freiwillig übernommen habe.«

»Das wusste ich nicht.« Nun war Ruth doch ein wenig entsetzt. So hatte sie das noch nie gesehen.

»Was hätte ich denn tun sollen? Papa sagen, dass er jemand anderes finden soll?«

»Wie damals, als er mich zu dir gebracht hat.«

Zögernd nickte Gisela. »Wie damals, ja.«

Ruth umschloss ihre Hände und drückte sie. Eine Zeit lang sagten beide nichts.

Bis Gisela mit einem Mal vorschlug: »Warum kommt ihr am Sonntag nicht zum Essen, du und dein Rainer? Oder hast du ihm so viel von mir erzählt, dass er mich nicht kennenlernen will?«

Ruth erstarrte. »Was? Wie kommst du …«

»Nur ein Scherz, Ruthchen. Ich wollte mal sehen, ob ich’s noch kann. Weißt du noch, früher haben wir uns oft so gekabbelt, aber nie gemein, immer ganz …« Sie schien nach einem Wort zu suchen. »Schwesterlich-freundschaftlich.«

Wie schön, dass sie das sagte. Und dass sie sich noch daran erinnern konnte. Ruth hatte geglaubt, sie hätte all diese positiven Ereignisse längst vergessen. »Natürlich erinnere ich mich. Und wir kommen Sonntag sehr gerne.«

»Weißt du was, ich werde auch Kurt einladen. Es wird ein Kennenlern- und gleichzeitiges Abschiedsessen werden.«

Ruth lächelte. »Ich finde, das ist eine wundervolle Idee.«

Ja, dieser Tag, dieses Gespräch würde alles verändern, das wusste sie mit absoluter Gewissheit.