35.

Gisela


Früher war sie eine leidenschaftliche Köchin gewesen, sie hatte auch gern für Dietmar gebacken, der eine Naschkatze gewesen war. Umso mehr freute sie sich auf diesen Tag. Kurt hatte seine Abreise sogar um einen Tag verschoben, um dabei sein zu können.

Gisela war früh aufgestanden, um alles in Ruhe vorzubereiten. Endlich konnte sie mal wieder nach Herzenslust am Herd stehen, den Tisch festlich decken und eine Flasche vom teuren Rotwein aufmachen, den Dietmar so gern getrunken hatte. Sie selbst würde sich eisern zurückhalten, das hatte sie Ruth und auch sich selbst versprochen.

Der vergangene Montag, als Ruth überraschend vor der Tür gestanden hatte, um nach ihr zu sehen, hatte alles verändert. Es war, als hätte sie sich ihr Leben zurückgeholt.

Die Tränen, die sie vor Ruth geweint hatte, hatten sich lange, viel zu lange aufgestaut. Sie hatte ihren Kummer, ihre Trauer in sich eingeschlossen und nicht gewollt, dass jemand sie ihr nahm. Nun fühlte sie sich wie neugeboren, wie frisch erwacht und endlich wieder lebendig.

Noch am Montagabend hatte Gisela Marianne einen langen, sehr ehrlichen Brief geschrieben, hatte sie mit jedem Satz in ihr Herz schauen lassen. Es hatte sich so gut angefühlt, fast schon berauschend.

Gisela band die Schürze um und stellte fest, dass sie einen Fleck hatte. Auch ihren Haushalt hatte sie viel zu lange vernachlässigt, doch auch das würde sich ändern.

Sie würde wieder regelmäßig aufräumen, sauber machen und entrümpeln. Sie würde wieder frische Blumen kaufen, neue Sofakissen nähen, Romane lesen, zu Musik durch die Wohnung tanzen und … Moment, dachte sie, einiges davon hab ich noch nie getan. Weil ich mir albern vorgekommen wäre.

Lächelnd stellte sie den Zwiebeltopf auf den Tisch. Sie warf einen Blick in das aufgeschlagene Kochbuch und vergewisserte sich, dass sie nichts vergessen hatte, einzukaufen. Aber wenn sie eine Zutat vergessen hätte, wäre es jetzt ohnehin zu spät. Heute war Sonntag, und die Geschäfte waren geschlossen.

Gisela blinzelte. Wo hatte sie nur wieder ihre Brille hingelegt? Sie blickte sich in der Küche um.

Es klingelte an der Tür. Nanu, wer konnte das sein?

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, den Backofen auszuschalten und zu öffnen, damit der Biskuitboden für die Mokka-Sahne-Torte abkühlen konnte.

»Mach dir bloß nicht so viel Arbeit«, hatte Ruth noch gesagt. Wenn sie wüsste, wie gern ich mir so viel Arbeit mache , dachte sie, während sie zur Tür ging.

Sie hätte kaum überraschter sein können, als Hannelore vor ihr stand. »Ich hoffe, ich störe dich nicht. Ich dachte, ich sehe mal nach dir.«

Sie hab ich auch furchtbar vernachlässigt. Gibt’s eigentlich irgendwas, das ich nicht vernachlässigt habe?

»Komm rein, Lore. Lass uns in die Küche gehen.« Sie trat beiseite. »Schicker Mantel«, sagte sie, als Hannelore an ihr vorbeiging. »Neu?«

»Ein Geschenk von Wilfried.«

Ach je, er scheint noch eine Menge gutmachen zu müssen. Als wäre es mit einem schicken Mantel getan.

»Als wär’s mit einem teuren Mantel getan«, sagte Hannelore prompt, als sie sich an den Tisch setzte.

Gisela musste laut lachen. »Genau das Gleiche habe ich eben auch gedacht.«

Hannelore schnupperte. »Hier riecht’s aber gut.«

»Ich koche für alle.«

»Ein Familienessen, wie schön.« Sie fragte nicht weiter nach, und Gisela sah sich auch nicht bemüßigt, mehr zu sagen.

»Möchtest du was trinken, Lore?«

»Was hast du denn da?«

»Einen Apfelsaft vielleicht?«

»Klingt gut.« Ihre Freundin sah müde aus und – alt. Gisela war ganz erschrocken, normalerweise sah sie aus wie das blühende Leben. Wilfried tat ihr nicht gut. Sie sollte ihn endlich auf den Mond schießen.

Gisela nahm eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank und stellte sie zusammen mit einem Glas auf den Tisch. »Huch, der Biskuit!« Sie holte die Form aus dem Ofen und stellte sie auf den Herd.

Hannelore nippte an ihrem Saft. »Wilfried und ich fahren zwei Wochen nach Belgien. Brügge, Antwerpen, Brüssel …« Sie seufzte. »Ich wollte immer schon mal hin.«

»Ja, ich auch. Dann seid ihr wieder …?«

Hannelore nickte. Sehr glücklich sah sie aber nicht aus. »Ich weiß, was du denkst, Gisela. Ich sollte ihn verlassen, verschwinden oder ihn rauswerfen. Ja, das wäre noch besser. Aber ich kann’s einfach nicht.« Sie spielte mit dem oberen Mantelknopf. »Er hat sich verändert, ob du’s glaubst oder nicht. Aber ich bin misstrauisch, ich kann das nicht ablegen.«

»Ich könnte das auch nicht.« Gisela holte ein zweites Glas und schenkte sich ein. »Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe, Lore. Ich war … ich bin … ich habe beschlossen, mich zu ändern, mich und mein Leben umzukrempeln.«

»Ehrlich gesagt, ist mir schon aufgefallen, dass du irgendwie anders bist. So … entspannt.« Hannelore kramte in ihrer Handtasche und zog ein kleines, hübsch eingepacktes Geschenk heraus. »Für dich.«

»Für mich? Ich habe doch gar nicht Geburtstag.«

»Ich wollte dir einfach eine kleine Freude machen.«

Gisela war so gerührt, dass sie schon wieder weinen musste. War die Schleuse erst mal geöffnet, flossen die Tränen ganz offenbar ungehemmt.

»Ach, du Schreck, du weinst doch nicht etwa«, sagte Hannelore bestürzt.

»Es ist nur, weil ich mich so freue. Danke, Lore.«

»Pack doch erst mal aus.«

Während Gisela die Schleife löste, sagte sie: »Es gefiel mir so gut, und ich musste gleich an dich denken.«

Gisela riss das Geschenkpapier auf und hielt ein hübsches Brillenetui in Händen. Normalerweise gab es sie nur in einem schlichten Schwarz oder Dunkelblau, doch dieses war aus feinstem hellen Nappaleder und hatte eine verzierte Schließe.

»Das ist … wunderschön, Lore!«

»Ich dachte, du verlegst doch dauernd deine Brille …«

Und schon wieder liefen ein paar Tränen, und sie wischte sie rasch mit dem Handrücken weg. »Danke, Lore, vielen Dank. Es ist zauberhaft. Und du wirst es nicht glauben, aber ich habe meine Brille schon wieder verlegt.«

Hannelore lachte kopfschüttelnd und stand auf. »Komm her.«

Sie umarmten sich lange und fest.

»Ruth hat sich übrigens unsterblich in ihren Chef verliebt, und Kurt zieht zu seiner Beatrix in die Schweiz«, sagte Gisela wie nebenbei.

»Wie bitte? Und das sagst du erst jetzt?« Hannelore betrachtete sie eingehend. »Kommst du damit zurecht, Gisela?«

»Ja.«

»Du schwindelst mich auch nicht an?«

»Nein.«

»Zur Abwechslung glaube ich dir.«

»Das kannst du auch. Ich habe beschlossen, ein anderer Mensch zu werden, eine bessere Mutter und eine bessere Schwester. Weil die Menschen, die ich liebe, es verdient haben.« Sie hob die Augenbrauen, war selbst ganz überrascht über ihre Worte.

»Das klingt sehr schön, Gisela. Ich glaube, ich muss auch ein bisschen weinen.« Hannelore wischte sich über die Augen. »Ich sollte mich verabschieden, ich muss noch packen. Wir fahren morgen früh los.«

Gisela brachte sie zur Tür und entdeckte ihre Brille neben dem Telefon. »Da ist sie ja!«

An der Tür umarmten sie sich erneut.

»Ich will auch eine bessere Freundin werden, Lore, ich versprech’s.«

Hannelore hielt sie etwas von sich. »Auch das glaube ich dir. Grüße an Ruth und Kurt.«

»Ich werde es ausrichten.«

»Und an Marianne, wenn du ihr schreibst. Geht es ihr gut?«

Gisela seufzte und zuckte die Schultern. »Ich bin nicht sicher. Sie schreibt nicht mehr so häufig, weil sie so viel um die Ohren hat. Ich glaube, sie arbeitet viel zu viel, sie passt nicht auf sich auf.«

»Und du kannst es nicht.« Ihre Freundin nickte. »Aber sie wird wissen, dass du für sie da bist.«

»Das hoffe ich.«

Ich bin für Dich da, mein liebes großes Mädchen. Ich war es leider nicht immer, aber ich bin es jetzt , hatte sie in ihrem letzten Brief geschrieben.

»Viel Spaß in Belgien. Und wenn Wilfried wieder der alte wird …«

»Schicke ich ihn zum Teufel.«