36.

Später saßen sie zu viert beisammen, aßen, tranken und plauderten. Kurt war bester Laune, er schien sich uneingeschränkt auf sein neues Leben zu freuen. Gisela hatte ihn selten so vergnügt und unbefangen erlebt – und so geschwätzig.

Rainer Kronewinkel mochte sie vom ersten Augenblick an. Ein sympathischer, offener Mann mit Manieren, das gefiel ihr.

Was hatte Ruth doch für ein Glück, ein Glück, das sie ihr von Herzen gönnte.

Rainer hatte ihr einen Strauß weißer und gelber Freesien mitgebracht, ihre Lieblingsblumen. Bestimmt hatte Ruth es ihm verraten. »Die sind wunderschön, vielen Dank, Herr Kronewinkel.«

»Rainer, bitte.«

»Dann bitte auch Gisela.«

Auch Kurt verstand sich gut mit ihm. Die beiden unterhielten sich angeregt über Autos. Gisela hatte nicht mal gewusst, dass Kurt ein Autonarr war. Er besaß zwar den Führerschein, hatte aber eine Ewigkeit nicht mehr am Steuer gesessen.

Alle lobten ihr Essen, das ihr wirklich gut gelungen war.

»Es war schön, mal wieder für mehrere zu kochen. Das hat mir gefehlt.« Es stimmte.

Sie hatte sich auch an ihre selbst auferlegte Regel gehalten und nur ein Glas Wein zum Essen getrunken. Die Selbstdisziplin fühlte sich unerwartet gut an.

»Gibt’s eigentlich Nachtisch?«, fragte ihr Bruder, als sie und Ruth das Geschirr in die Küche brachten. Auch Rainer war aufgestanden, um zu helfen.

»Er ist nämlich kein Pascha, musst du wissen«, sagte Ruth.

Gisela drehte sich zu Kurt um. »Natürlich gibt’s Nachtisch.«

Verstohlen öffnete er den oberen Knopf seiner Weste – er hatte sich besonders fein gemacht –, und grinste verschämt, als alle lachten.


»Was würdest du von einer kleinen Spritztour halten, Kurt?«, schlug Rainer nach dem Essen vor.

»Ihr wollt euch nur vor dem Abwasch drücken«, meinte Ruth betont streng. Dann winkte sie großzügig ab. »Aber wir würden uns zu viert in der Küche eh nur gegenseitig auf die Füße treten.«

»Eine Spritztour?« Kurt stand auf. »Da sage ich nicht Nein.«

»Möchtest du fahren?«

Seine Augen wurden größer und größer. »Ich darf deinen Opel fahren?« Er strahlte wie ein kleiner Junge. »Na, und ob!«

»Seid pünktlich zum Kaffee wieder da«, bat Gisela. »Es gibt Mokka-Sahne-Torte!«

»Glaubst du allen Ernstes, wir würden das verpassen wollen?«

Als die beiden gegangen waren, stellte sie den Boiler an und wischte den Tisch ab. »Glaubst du, es ist zu früh, wenn ich Rainer auch das Du anbiete?«

»Überhaupt nicht.« Ruth lächelte. »Es geschieht gerade so viel, Gisela, und das meiste davon zu früh. Ich glaube, ich gewöhne mich langsam daran. Danke, dass ihr ihn so nett aufgenommen habt.«

Gisela band ihre Schürze um. »Er ist ja auch sehr nett. Ich wünschte, Marianne könnte bei uns sein. Wäre das nicht schön, wir alle mal wieder zusammen?«

»Oh ja. Sie hat mir schon länger nicht mehr geschrieben. Ich hoffe, es geht ihr gut.«

»Das hoffe ich auch.« Gisela drehte sich zu ihr um. »Ich mache mir Sorgen. Ich glaube, sie arbeitet zu viel. Ich weiß, was zu viel Stress anrichten kann.«

Ruth legte die Hand auf ihren Unterarm. »Sie weiß das auch, Gisela. Aber du hast recht, ein bisschen besorgt bin ich auch. Der Erfolg kam so schnell, sie hatte doch gar keine Zeit, sich daran zu gewöhnen. Vielleicht kann sie ihn nicht mal richtig genießen. Hat sie dir auch ein neues Foto geschickt?«

Gisela nickte. Sprachlos hatte sie es sich wieder und wieder angeschaut. Es war ein Ganzkörperfoto für die neue englische Vogue . Marianne war erschreckend mager und blass, aber das schien derzeit gefragt zu sein. Sie trug ein furchtbar kurzes roséfarbenes Kleid, dazu kniehohe rote Lackstiefel. Ihr Lächeln mit den beiden niedlichen Grübchen am Mundwinkel war kokett, verführerisch und gleichzeitig unnahbar.

Sie konnte unschuldig, verspielt und auch sinnlich wie eine Verführerin lächeln. Kein Wunder, dass die Fotografen sich um sie rissen und sie inzwischen regelmäßig auf den Titelbildern der großen Illustrierten war.

Früher hatte Gisela sie oft ermahnen müssen, sie solle auf ihren Gang achten. Sie hatte immer ein wenig mit den Armen geschlenkert und den Kopf etwas eingezogen. »Ich bin viel zu groß, Mama«, hatte sie gesagt. »Die Jungs in meiner Klasse sind alle kleiner. Das ist schrecklich.«

Inzwischen werde ich sie wohl nicht mehr ermahnen müssen, hatte Gisela gedacht.

»Sie ist bildhübsch, nicht wahr?«, sagte Ruth ehrfürchtig und bewundernd. »Aber ich bin ehrlich, Gisela. Ich glaube, ich möchte nicht mit ihr tauschen. Keinen einzigen Tag.«