Ruth
Es war zugig am Bahngleis, und sie hatte sich an Rainer gekuschelt. Gisela stand neben ihr, auch sie schien zu frösteln.
Kurt lud gerade seine Koffer ins Abteil. Ruth sah durchs Fenster, wie er sich damit abmühte. Ihr war seltsam zumute, einerseits freute sie sich aufrichtig für ihren Bruder, andererseits ging wieder ein Abschnitt in ihrem Leben zu Ende. Die unterschiedlichen Emotionen wühlten sie auf, und sie tastete nach Giselas eiskalter Hand.
»Wir werden ihn einfach besuchen«, raunte sie ihr zu, und Gisela nickte.
Kurt kam aus dem Abteil und rieb sich die Hände. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und trug einen neuen Hut. »Extra für Bern und mein neues Leben«, hatte er gemeint.
»Tja«, sagte er nun und räusperte sich. »Dann heißt es wohl Abschied nehmen.«
Ruth machte sich los und umarmte ihn. »Pass auf dich auf, großer Bruder«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und wehe, du wirst nicht glücklich.«
»Du aber auch.« Er hielt sie etwas von sich, lächelte und nickte dann. »Dafür wird dein Rainer schon sorgen, was? Ich glaube, er ist ein netter Kerl.«
Gisela wirkte ein wenig befangen. »Kurt.« Sie holte tief Luft. »Pass gut auf dich auf, hörst du? Und melde dich gelegentlich mal, damit wir wissen, dass es dir gut geht.«
Er nickte und schien ebenfalls befangen. »Mach ich, Gisela. Und ihr kümmert euch um den Schrank in meiner Wohnung?«
»Wie besprochen.«
Kurt trat einen Schritt vor und zog sie in seine Arme. Sie ließ sich gegen ihn fallen. »Heul jetzt bloß nicht, Gisela«, sagte er so laut, dass alle es hören konnten.
Ruth musste unter Tränen lachen und putzte sich schnell die Nase.
»Als ob ich heulen würde«, sagte Gisela gespielt empört und kniff ihn in die Wange.
»Das wird mir fehlen.« Er verzog das Gesicht. »Früher hat sie mich sogar verhauen«, sagte er zu Rainer.
»Glaub ihm kein Wort!«
»Tja, dann …« Kurt hob die Hand und drehte sich um. Er stieg in den Zug, und im Abteil öffnete er das Fenster und lehnte sich heraus.
Gisela rief, er solle bloß nicht aus dem Fenster fallen.
Alle lachten, einschließlich Kurt. »Sie kann’s nicht lassen!« Ein schriller Pfiff ertönte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Kurt winkte ihnen mit einem karierten Taschentuch zu, bis der Zug aus dem Bahnhof gefahren war.
Ruth, Rainer und Gisela blieben stehen, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann machten sie sich auf den Heimweg.
Als Rainer wenig später am Rosenplatz hielt und Ruth ihrer Schwester die Autotür aufhielt, fragte sie: »Ist alles in Ordnung? Ich meine, kommst du zurecht?«
Gisela blieb vor ihr stehen. »Das hat mich auch Hannelore gefragt. Ja, mir geht’s gut, wirklich. Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme zurecht. Kurt wird glücklich werden, das weiß ich, und ich gönne es ihm von Herzen.« Sie streichelte Ruths Wange. »Und dir gönne ich dein Glück auch, kleine Schwester.«
Die Tränen kamen, bevor Ruth sie zurückhalten oder auch nur blinzeln konnte. Sie nahm Gisela in die Arme, und sie hielten sich so lange, bis Rainer sich irgendwann räusperte.
»Meine Damen, die Woche ist bald um, wenn ihr so weitermacht.« Er schmunzelte belustigt.
»Ich rufe dich morgen an«, sagte Ruth.
Gisela nickte und ging zum Haus. Ruth sah, dass sie dem Schaufenster keinen einzigen Blick widmete.
An der Tür drehte sie sich um und winkte ihnen zu. Dann verschwand sie im Haus.
»Sie kommt zurecht«, sagte Ruth und stieg wieder ein.
»Das glaube ich auch.« Rainer zwinkerte ihr zu. »Ich frage mich gerade, wer von euch mehr auf die andere achtgibt.«
»Es steht unentschieden, nehme ich an.«