Seit einem Vierteljahr war Kurt nun in der Schweiz.
Ruth hatte unterdessen ihre Wohnung gekündigt und war ganz zu Rainer gezogen. Sie mochte seine Wohnung, die ruhig gelegen war. Vom Küchenfenster aus konnte man auf die Weser blicken, manchmal sah man auch ein Schiff vorbeifahren.
An diesem Samstagvormittag im Salon Kronewinkel frisierte Ruth Elfriede Zimmermann, die in einer Illustrierten las, deren Titelbild wieder einmal Marianne präsentierte. »Ist sie nicht bildhübsch, Ruth? Sehen Sie nur, wie sie geschminkt ist. Diese Augen! Sie wirken so … betörend, nicht wahr?«
Ruth nickte mit einem Lächeln und toupierte eine Haarsträhne.
»Die Mannequins und Fotomodelle werden ganz bewusst so zurechtgemacht. Sie sollen etwas Geheimnisvolles, Unnahbares ausstrahlen.« Das hatte Marianne ihr verraten. Sie toupierte eine letzte Strähne, fixierte sie mit Haarspray und holte anschließend den kleinen Handspiegel. »Zufrieden, Frau Zimmermann?«
Ihre Kundin betrachtete sich mit höchst zufriedener Miene im Spiegel. »Wunderbar, Ruth. Ich danke Ihnen.« Die Zeitschrift hatte sie zugeklappt aufs Waschbecken gelegt.
Ruth sah eine Kundin hereinkommen, begleitet von Rainer, der jede Kundin persönlich in Empfang nahm und in den Frisierbereich brachte. Die Frau grüßte freundlich und nahm am Nachbarwaschbecken Platz, dem einzigen, das gerade frei war.
»Elfriede«, sagte die Kundin erfreut zu ihrer Nachbarin. »Schön, dich zu sehen.«
»Sieglinde, entschuldige, ich war ganz in Gedanken«, erwiderte Frau Zimmermann. »Wie geht’s den Kindern?«
»Sie tanzen mir auf der Nase rum, wenn du’s genau wissen willst.«
Frau Zimmermann lachte. »Wir waren einige Zeit Nachbarn«, erklärte sie Ruth, die ihr den Umhang abnahm. »Dann ist Sieglinde leider mit ihrer Familie weggezogen. Aber wir treffen uns noch hin und wieder auf einen Klönschnack.«
»Oder beim Friseur«, sagte ihre ehemalige Nachbarin und zeigte auf das Titelbild der Illustrierten. »Wie fühlt es sich eigentlich an, die Tante eines so berühmten Mannequins zu sein, Fräulein Fellbach?«
Elfriede Zimmermann wurde feuerrot. »Ach herrje, tut mir leid, Ruth«, raunte sie. »Ich konnte meinen Mund mal wieder nicht halten.« Etwas lauter sagte sie: »Hier weiß es noch niemand, Sieglinde.«
Ruth rang sich ein Lächeln ab, sagte jedoch nichts.
»Was?«, rief Elfie aus, die links von ihr stand. »Und das sagst du erst jetzt, Ruth?«
»Sind Sie mir jetzt sehr böse?«, fragte Elfriede Zimmermann zerknirscht.
Ruth schüttelte den Kopf. »Früher oder später wäre es eh rausgekommen.«
»Was höre ich da? Du bist Anns Tante ?«
»Und? Erzähl doch mal!«
»Ann ist deine Nichte?«
So ging es munter weiter. Von allen Seiten wurde Ruth belagert und mit Fragen gelöchert. Auch von den Kundinnen.
»Würden Sie sie um ein Autogramm bitten?«
»Für mich bitte auch!«
Schließlich kam Rainer. Er lächelte in die Runde. »Lassen wir es für heute gut sein, meine Damen, einverstanden? Selbstverständlich werden wir Ann um einen Stapel Autogramme bitten. Und jetzt lassen Sie uns weitermachen, damit Sie alle schick heimkommen.«
Alle nickten, vereinzelt wurde noch gemurmelt und geflüstert.
Ruth drückte Rainers Hand und schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln. »Ich glaube, es war albern, es unbedingt geheim halten zu wollen«, sagte sie zu Elfriede Zimmermann, als sie sie zum großen Glastresen begleitete.
»Ich verstehe schon, Sie wollten nicht, dass so was wie eben gerade passiert.« Frau Zimmermann drückte ihr etwas mehr Trinkgeld als üblich in die Hand. »Tut mir wirklich leid, Ruth, ich fürchte, ich bin eine schreckliche Tratschtante.«
Einsicht ist der erste Weg zur Besserung, würde Marianne sagen, dachte Ruth und musste ein Grinsen unterdrücken.
»Ich habe neulich gelesen, dass John Lennon – oh, ich mag die Beatles! – seine Familie für diese Japanerin – wie heißt sie noch? Yono Oko? – verlassen hat.«
»Sie meinen Yoko Ono.«
»Was findet er nur an dieser Frau?« Elfriede Zimmermann schnalzte verständnislos mit der Zunge.
Ruth machte ihr die Tür auf. »Ich glaube, das nennt man Liebe.«
Nach Salonschluss scharten sich die Kolleginnen um Ruth.
»Also doch noch mehr Geheimnisse.« Elfie lehnte am Tresen, die Arme verschränkt.
»Tut mir leid, dass ich euch nichts davon erzählt habe«, sagte Ruth zerknirscht.
»Du scheinst wenig Vertrauen zu uns zu haben.«
»Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Es wäre mir ganz einfach unangenehm, wenn ihr mich anders behandeln würdet.«
Ihre Kolleginnen schwiegen einen Moment, warfen sich nur ab und an flüchtige Blicke zu.
»Ich verstehe, wenn ihr böse auf mich seid«, sagte Ruth ein wenig kläglich. »Aber ich wollte es euch nicht vorenthalten, ich wollte …« Sie verstummte und seufzte. »Ich wollte nicht, dass sich irgendwas zwischen uns ändert.«
»Oh, es wird sich einiges ändern«, meinte Brigitte. »Wir werden dich von nun an ständig löchern. Wir wollen alles über deine berühmte Nichte wissen.«
»Damit werde ich wohl leben müssen.«
Elfie grinste. »Ich glaube, damit kannst du gut leben.«
Am Abend lagen Ruth und Rainer aneinandergeschmiegt auf der Couch und sahen fern. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und Ruth war froh, die Beine hochlegen zu können.
»Ich hab Hunger, soll ich uns die Zwiebelsuppe aufwärmen?«, fragte er gähnend.
»Ja, bitte.« Ihr Magen regte sich laut.
»Nun wissen es alle, dass du Anns Tante bist«, sagte er beim Aufstehen. »Macht dir das sehr zu schaffen?«
»Nein, nein. Es war ja nur eine Frage der Zeit, wann es herauskommt.«
»Aber du hättest es gern noch länger für dich behalten.« Er nickte. »Das verstehe ich.«
»Erst müssen die Kolleginnen verdauen, dass wir beide ein Paar sind, und dann erfahren sie noch, dass ich Anns Tante bin. Sie müssen sich ja fragen, ob ich noch mehr Geheimnisse mit mir herumtrage.«
»Die Spekulationen wirst du doch sicher ausgeräumt haben.«
»Das hoffe ich.«
»Glaubst du, dass sie ein Problem damit haben, dass wir liiert sind?«
Sie antwortete nicht gleich. »Anfangs kam es mir vor, als stünde ihnen auf der Stirn geschrieben, dass ich mich ins gemachte Nest setzen will, indem ich mir den Chef schnappe.« Sie dachte kurz nach, bevor sie weitersprach. »Aber ich glaube, es ist für sie in Ordnung. Ich bin und bleibe die Ruth, die sie kennen. Ob nun die Tante eines berühmten Mannequins oder die zukünftige Chefin.«
Autsch, das war ihr herausgerutscht, und sie spürte, wie sie errötete. »Ich meine, ich wollte damit nicht sagen …«
Rainer grinste amüsiert. »Was? Dass du nicht ihre zukünftige Chefin sein willst?«
»Nein, ich … Du machst mich ganz nervös!«, schimpfte sie und musste lachen.
Er schwieg einen Moment, stand nur da und schaute sie an. Dann ging er zur Tür. »Ich kümmere mich ums Essen.«
Als die Zwiebelsuppe vor ihr stand, schaffte sie nur ein paar wenige Löffel. Sie verzog das Gesicht und schob den Teller weg.
»Schmeckt sie dir nicht? Gestern warst du noch ganz verrückt danach.«
»Ich hab keinen Hunger mehr.« Ihr war schon wieder übel, speiübel, und sie fragte sich, ob sie sich vielleicht etwas eingefangen hatte.
Lustlos knabberte sie an einem Stück Brot, während Rainer sich auch ihre Suppe schmecken ließ.
Allmählich beruhigte sich ihr Magen wieder, und sie lehnte sich zurück. »Ich bin furchtbar müde, ich glaube, ich gehe gleich schlafen.«
»Ich dachte, wir sehen uns den Krimi an.«
Ruth gähnte, und er lächelte nachsichtig. »Verstehe, sieht aus, als müsste ich allein auf Mördersuche gehen.« Er stand auf und hob sie vom Stuhl, obwohl sie lachend protestierte.
Er trug sie ins Bett und sah sie eine Weile an.
»Was ist denn?« Sie schlüpfte aus ihren Kleidern, zog das Nachthemd an und kuschelte sich unter die Bettdecke.
Er setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Ich bin ein Blödmann, ich weiß, aber ich kann nicht anders. Ich wollte warten bis morgen zum Frühstück. Ich wollte den Sekt aufmachen und …« Er seufzte schwer. »Aber ich tu’s jetzt. Willst du mich heiraten, Ruth? Willst du meine Frau werden?«
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Ja!«
Er sah überrascht aus, grinste aber dann. »Also willst du doch die künftige Chefin sein.«
Sie lachte kopfschüttelnd. »Natürlich, was dachtest du denn?«
»Ich dachte, du würdest wenigstens etwas Bedenkzeit brauchen. Das ist in den meisten Filmen doch so, oder?«
Ruth musste laut lachen. »Das hier ist das Leben, Rainer, kein Film.« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn lange. »Ich sage Ja, Ja, Ja!«
Er öffnete die obere Schublade in seinem Nachtschrank und nahm ein kleines Kästchen heraus. »Den hätte ich ja fast vergessen. Gefällt er dir?« Er steckte ihr den Ring an.
»Er ist … wunderschön, Rainer!« Sie betrachtete den schlichten, leicht ziselierten Goldring. Sie hatte sich nie etwas aus Schmuck gemacht, aber diesen Ring würde sie bis an ihr Lebensende tragen.
»Möchtest du eine klassische, furchtbar spießige Verlobungsfeier?«
»Nein, du etwa?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bräuchte nicht mal eine große Hochzeitsfeier. Aber meine Mutter würde nie mehr ein Wort mit mir reden.«
»Und das könnte ich nicht verantworten. Aber es wird nur eine kleine, ganz familiäre Feier, ja?«