Im Radio sang Michael Holm ›Mendocino‹, und die neue Kundin wippte summend mit dem Fuß. Sie war eine von vielen jungen Frauen, die neu in den Salon kamen. Natürlich hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Ruth die Tante der berühmten Ann war, und der Terminkalender, der ohnehin stets voll war, quoll bald über. Unangemeldete Kundinnen musste Rainer immer häufiger abweisen oder auf spätere Termine vertrösten. Meistens funktionierte das sogar, weil sie unbedingt in diesem Salon und am liebsten auch von dieser Friseuse frisiert werden wollten. Dafür nahmen sie lange Wartezeiten in Kauf.
Noch immer wurde Ruth mit Fragen und Bitten überhäuft, etwas über Marianne zu erzählen, preiszugeben. Sie hatte ihr in einem Brief davon geschrieben und noch keine Antwort erhalten. Natürlich hatte sie ihr auch von ihrer Verlobung erzählt.
»Waren Sie schon mal in London, Fräulein Fellbach?«, fragte die Kundin sie und riss sie damit aus ihren Gedanken.
»Nein. Ich hätte meine Nichte zwar gern besucht, aber sie ist ständig unterwegs und hätte gar keine Zeit.« Dass sie Angst vorm Fliegen hatte und allein beim Anblick eines Schiffes schon seekrank wurde, behielt Ruth für sich.
»London muss furchtbar aufregend sein.« Die Kundin seufzte verträumt.
Ruth rang sich ein Lächeln ab. Manchmal wurde es ihr zu viel, und jedes Mal freundlich zu lächeln oder etwas Nettes zu sagen fiel ihr mitunter schwer. »Ich glaube, so beneidenswert ist es nicht, als Mannequin zu arbeiten.«
»Nicht?«
»Die Arbeit ist furchtbar stressig, ständig sitzen sie im Flugzeug oder im Zug, ständig müssen sie in einem Hotelzimmer übernachten. Sie müssen sich alles verkneifen, was lecker ist: Eiscreme, Nudeln, Schokolade«, zählte sie auf. »Und regelmäßig geht es auf die Waage. Eiserne Disziplin und Strenge mit sich selbst, ich weiß nicht, ob ich das auf Dauer mögen würde.«
Die Kundin sah sie entgeistert im Spiegel an. »Das klingt wirklich nicht sehr angenehm.«
»Viele Mannequins halten das auch nicht sehr lange durch.« Marianne hatte ihr geschrieben, dass viele schon nach wenigen Monaten wieder heimwollen. Manche wurden auch krank, wie Mary, ihre Mitbewohnerin.
Nein, Mannequin war kein Traumberuf.
»So hab ich das noch nie gesehen«, sagte die Kundin nachdenklich und auch enttäuscht.
Ruth frisierte weiter und versuchte, die aufkommende Übelkeit zu ignorieren, die sich schon wieder bemerkbar machte.
Am Abend machten sie und Rainer einen Spaziergang an der Weser. Rudi hatte so lange im Flur gestanden und war an seiner Leine hochgesprungen, die an der Garderobe hing, dass sie sich erbarmt hatten.
Ruth war müde und gähnte fast ununterbrochen. Seit ein paar Wochen war sie im Grunde ständig müde und schlief, sobald sie sich nur hinlegte und die Augen zumachte.
»Was ist mit dir?« Rainer küsste sie aufs Haar. »Du bist schon den ganzen Tag so still und in dich gekehrt.«
»Ich weiß auch nicht«, sagte sie träge.
Über ihnen braute sich etwas zusammen, dunkle Wolken zogen auf, und es wurde ganz plötzlich windig.
»Lass uns heimgehen.« Er rief nach Rudi, der am Ufer entlangrannte und die Enten aufscheuchte.
Sie schlenderten weiter, und plötzlich traf Ruth die Ahnung – oder war es eine Erkenntnis? – wie ein Schlag: Konnte es sein, dass sie ein Kind erwartete? War ihr deshalb neuerdings dauernd übel? Kamen daher die Müdigkeit und die Erschöpfung?
»Rainer?« Sie war abrupt stehen geblieben.
Rudi zog kläffend an der Leine. Es begann zu nieseln, und er konnte Regen nicht ausstehen.
»Rainer?«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich … wir … Ich glaube, ich bin schwanger.«
»Was?« Er hob sie hoch. »Wir bekommen ein Kind!«
»Warte, ich bin mir ja noch nicht sicher.« Sie musste lachen und zugleich weinen. War das ein Beweis für ihr Hormondurcheinander?
»Und wann kannst du das sein?«
»Ich mache gleich morgen früh einen Termin beim Arzt.«
Drei Tage später bestätigte der Arzt Ruths Hoffnung.
Sie konnte es noch immer nicht recht glauben, es fühlte sich unwirklich an. Lange hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie es wäre, Mutter zu sein. Dann war der Gedanke, die Vorstellung mehr und mehr in den Hintergrund gerückt, hatte keine Rolle mehr gespielt – bis Rainer unverhofft in ihr Leben getreten war.
Nun empfand sie mit einem Mal Angst und sogar Panik. Würde, konnte sie eine gute Mutter sein? War sie überhaupt bereit, Mutter zu werden?
Am Abend rief sie Gisela an. Sie wollte ihr von der Schwangerschaft erzählen. Sie hatte auch das Bedürfnis, mit ihr über ihre Gedanken, ihre Befürchtungen zu reden. Aber nicht am Telefon. »Was würdest du von einem Sonntagsausflug halten? Rainer leiht mir bestimmt das Auto. Ich könnte dich abholen, und wir fahren raus aufs Land.«
»Ich weiß nicht«, sagte Gisela zögernd.
Sie ist träge geworden , dachte Ruth. Früher hatte sie mehr Pep, mehr Freude an Unternehmungen.
»Gib dir einen Ruck, Gisela. Ich würde auch gern mit dir über etwas sprechen.«
»Ist was passiert, Ruthchen?«
»Ja, aber ich möchte das nicht am Telefon bereden.«
»Gut, einverstanden. Ich war sonntags ewig nicht mehr raus aus der Stadt. Wir könnten ins Friedeholz fahren, einen langen Spaziergang machen und anschließend irgendwo Kaffee trinken und ein Stück Torte essen.«
Allein bei dem Wort »Torte« wurde Ruth schon übel. Doch sie lächelte tapfer. »Abgemacht.«