Gisela trug ein Kleid, das Ruth schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. Es stand ihr noch immer hervorragend.
»Du siehst schick aus«, begrüßte Ruth sie, als sie einstieg.
Das Wetter war wie gemacht für einen ausgedehnten Waldspaziergang, es war sonnig, und ein lauer Wind wehte. Mit nur einer Strickjacke hatte Ruth das Haus verlassen.
Auch Gisela trug über ihrem Kleid eine Strickjacke. »Was wolltest du mit mir besprechen, Ruthchen?«, fragte sie, kaum dass sie über die Große Weserbrücke gefahren waren.
»Lass uns warten, bis wir im Friedeholz sind, ja?« Sie wollte es feierlich machen.
»Wie du meinst.« Gisela sah aus dem Fenster, und Ruth konzentrierte sich auf den gemächlichen Sonntagnachmittag-Straßenverkehr. Es war herrlich, wieder am Steuer zu sitzen.
»Du fährst wirklich gut«, meinte ihre Schwester.
»Warum hast du eigentlich nie den Führerschein gemacht?«
»Es hat mich nie gereizt.« Gisela grinste schelmisch. »Aber Dietmar hat mir die eine oder andere Fahrstunde gegeben.«
»Das wusste ich ja gar nicht. Dann kannst du fahren?«
Gisela grinste wieder. »Ich denke schon.«
»Willst du auf dem Rückweg mal ans Steuer?«
»Lieber nicht.«
»Rainer hätte sicher nichts dagegen.«
»Nein, besser nicht.« Dann schwenkte sie plötzlich um. »Mal sehen.«
Ruth lachte in sich hinein.
Eine Stunde später spazierten sie durch den Wald, in dem es nach Moos und feuchtem Laub roch. Ruth hatte sich bei ihrer Schwester eingehakt. Nach ein paar Schritten sagte sie wie nebenbei: »Ich bin schwanger, Gisela.« Es war kaum heraus, da ärgerte sie sich schon. Sie hatte es doch feierlich machen wollen!
»Was?« Ihre Schwester war abrupt stehen geblieben. »Das ist ja … wundervoll, Ruthchen! Ich freue mich so für dich, für euch. Wann soll es denn kommen?«
»Im Juni.«
»Aber ihr werdet doch heiraten?«
Ruth nickte. »Aber es wird keine große Feier geben. Nur die Familie und Rosemie und so.«
Sie spazierten weiter, rechts von ihnen sprangen zwei Rehe durchs Dickicht.
»Was meinst du, ob ich eine gute Mutter sein werde?«, fragte Ruth nach einer ganzen Weile.
»Ganz bestimmt.«
»Ich habe mir lange vorgestellt, wie es wohl sein würde, und jetzt kriege ich es mit der Angst zu tun.«
»Ich glaube, das geht jeder Frau so, Ruthchen. Mach dir keine Sorgen, du wirst eine wunderbare Mama sein.«
Das kleine Ausflugslokal war gut besucht, aber sie hatten Glück, und ein Tisch wurde soeben frei, als sie ankamen.
Ruth nahm Platz und streckte die Beine aus. Ihr taten die Füße weh. »Puh, ich bin lange nicht mehr so viel gelaufen.«
»Ich auch nicht. Apfelkuchen? Mit Sahne?«
»Apfelkuchen ja, Sahne nein. Und Tee anstatt Kaffee.« Ruth legte die Hand auf den Magen und verzog das Gesicht. »Mir wird bei den seltsamsten Dingen übel. Und ich mag neuerdings Trockenfrüchte.«
»Igitt. Für mich übrigens auch lieber Tee. Ich vertrage Kaffee zurzeit nicht so gut.«
Sie bestellten beim Kellner, einem älteren, mürrischen Mann.
Ruth schaute sich um, ihr Blick fiel auf ein Paar mit zwei kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Beide waren so niedlich, dass sie den Blick nicht abwenden konnte.
»Sieh nur«, wisperte Gisela. »Sind sie nicht goldig? Wünschst du dir ein Mädchen oder einen Jungen?«
»Das ist mir völlig egal.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Es stimmt aber.«
Gisela schien ihr noch immer nicht recht zu glauben.
Der Kellner kam und brachte zwei kleine Kännchen mit Tee; Ostfriesentee für Gisela und Pfefferminz für Ruth. »Kuchen kommt gleich«, brummte er kurz angebunden.
»Die Freundlichkeit hat er nicht erfunden«, meinte Gisela leise. »Vielleicht sollte er lieber irgendwo arbeiten, wo er nicht freundlich sein muss.« Sie öffnete ihre Handtasche und legte Zigaretten und Feuerzeug auf den Tisch. »Es stört dich doch nicht?«
»Nein.«
Sie zögerte dennoch, bevor sie sich eine Zigarette anzündete und tief inhalierte. »Du hast nie damit angefangen, sei froh. Man kommt nur schwer wieder davon los.« Sie seufzte resigniert. »Ich scheine gar nicht mehr davon loszukommen. Wie oft hab ich’s schon versucht.«
Ruth gab einen Zuckerwürfel in ihren Tee. »›Versuch‹ kommt von ›Versuchung‹. Wer hat das noch mal gesagt?«
»Kurt?«
Sie musste lachen. »Nein, der war’s nicht. Es fällt mir nicht mehr ein.«
Sie lachten beide. Es war so schön, hier mit Gisela bei Tee und Kuchen zusammenzusitzen und unbefangen zu reden.
»Ich hätte Lust auf ein Cognäcchen. Du auch?« Gisela winkte ab. »Nein, für dich natürlich nicht.« Sie hob die Hand, und als der Kellner an den Tisch kam, sagte sie: »Einen Cognac, bitte. Und für meine Schwester eine Waldmeisterbrause.«
Nachdem sie den Kuchen gegessen hatten, lehnte Gisela sich zurück. »Gestern ist ein Brief von Marianne gekommen. Ich glaube, es geht ihr nicht gut. Sie schreibt es natürlich nicht so direkt, du kennst sie ja. Aber ich …« Sie verstummte kurz und zog ihr Taschentuch aus der Rocktasche. »Ich mache mir wirklich Sorgen. Ich fürchte, sie hat uns schon eine ganze Weile was vorgemacht. Ihr ist das alles über den Kopf gewachsen, und sie wollte nicht, dass wir uns sorgen. Vielleicht hat sie sich auch selbst was vorgemacht und sich eingeredet, dass das genau das Leben ist, das sie wollte. Aber ich glaube das nicht, Ruth. Du etwa?«
»Nein, ich auch nicht. Sie hat einen harten Schnitt gemacht, als sie nach London ging, und nach so einer Entscheidung hat man oft das Gefühl, nicht mehr zurückzukönnen.«
»Aber sie kann jederzeit wieder heimkommen, das sollte sie doch wissen.«
»Das meinte ich damit nicht, ich meinte, dass man sich selbst unbedingt etwas beweisen will. Dass man durchhalten will, egal wie schwierig, wie schlimm es gerade ist. Weil man das, was man angefangen hat, auch zu Ende bringen will.«
Gisela machte »Hmm«, und Ruth redete weiter. »Sieh mal, du hast uns jahrelang vorgemacht, der Salon wäre dein Leben. Die ganze Verantwortung auf deinen Schultern hast du dir nie anmerken lassen. Man kann sich selbst ganz prima in die Tasche lügen. Weißt du noch, wer das gern gesagt hat?«
»Unser Vater.«
Ruth nickte. »Unser Vater.«
Gisela sah sie bestürzt an. »Du hast recht. Ich hätte es gern besser gemacht.«
»Du hast es so gut gemacht, wie du konntest.«
Ihre Schwester schwieg einen Moment, dann sagte sie leise: »Tut mir leid, ich hätte das mit Marianne nicht ansprechen sollen. Jetzt habe ich die Stimmung verdorben.«
»Nein, schon gut.« Ruth fuhr mit dem Zeigefinger über den Tassenrand. »Vielleicht solltest du ihr ganz offen deine Sorgen mitteilen.«
»Bin ich dann nicht wieder die Glucke, die übertrieben über sie wacht?«
»Nein, das finde ich nicht. Jede Mutter wäre besorgt, wenn sie wüsste, was für ein Leben ihre Tochter führt.« Und ich bin bald auch Mutter, dachte Ruth beglückt. An die Sorgen, die sich einmal machen würde, mochte sie jetzt noch nicht denken.
»Ich hab Angst, wieder was falsch zu machen, Ruth. Und ich will in Zukunft alles richtig machen.«
»Man kann nie alles richtig machen, und das muss man auch gar nicht. Du bemühst dich aufrichtig, das allein zählt.«
Wieder schwieg Gisela einen Augenblick. »Ich brauche eine Aufgabe, Ruthchen, ich muss beschäftigt sein. Dieses Rumsitzen und Nichtstun macht mich wahnsinnig.«
»Willst du damit sagen, dass du doch überlegst, den Salon …«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Es sah energisch aus. »Weißt du, wie es war, jeden Tag wieder sehen zu müssen, dass es nicht gut läuft, dass immer weniger Leute kommen? Sich jeden Tag wieder zusammenreißen zu müssen, damit es irgendwie weitergeht? Es war wie ein Befreiungsschlag, als mir klar wurde, nein, als ich mir eingestanden habe, ihn nicht mehr eröffnen zu wollen.« Sie hob die Augenbrauen. »Ja, ich glaube, ich musste mich vom Salon befreien.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Weißt du was, ich glaube, ich schaffe mir ein Haustier an. Vielleicht einen kleinen Hund, mit dem ich täglich rausmuss. Und ich werde noch mehr schneidern, das macht mir richtig Spaß.«
Ruth lächelte. »Da hast du deine Aufgaben.«
»Und ich werde natürlich die beste Tante für euer Baby sein, die ihr euch wünschen könnt. Jetzt ist’s aber genug von Selbsterkenntnissen und neuen Vorhaben.« Sie hob ihre Tasse. »Auf dich, Ruthchen, und auf euer Baby.«
»Mir ist schlecht von der Waldmeisterbrause«, sagte Ruth später, als sie zum Parkplatz zurückspazierten.
»Du hättest sie nicht austrinken müssen.«
»Aber sie war lecker.«
»Dann beschwer dich nicht.«
Es war wie früher, vor unzähligen Jahren, als sie sich häufig auf diese freundschaftlich-liebevolle Art geneckt hatten.
Wie hatte Ruth das vermisst. Sie hakte sich bei ihrer Schwester ein.
Die war stehen geblieben und blickte sich um. »Ich glaube, wir hätten da hinten nicht rechts, sondern links gehen müssen.«
»Rechts ging es zur Wolfsschlucht, und wir wollen zum Parkplatz.«
»Ich glaube trotzdem, dass wir hier falsch sind. Kannst du noch laufen?«
»Willst du mich tragen?«
»Es käme auf einen Versuch an.«
»Womit wir wieder bei der Frage wären, von wem der kluge Satz stammt.«
Kichernd schlenderten sie weiter.
Am Wagen angekommen, klopften sie ihre Schuhe aus, und als Ruth sich auf den Fahrersitz setzen wollte, sagte Gisela: »Ich glaube, ich möchte doch fahren.«
»Na also.«
Gisela stellte den Fahrersitz ein und überprüfte im Rückspiegel ihre Frisur. »Es fühlt sich ganz seltsam an, hier zu sitzen. Hoffentlich hab ich’s nicht verlernt. Wir nehmen den Schleichweg, ja? Auf der Hauptstraße hätte ich Angst.«
Sie zog ihre Lippen nach und machte einen Kussmund. »Nur für den Fall, dass die Polizei uns anhält.«
Ruth erkannte sie kaum wieder. Betrunken oder auch nur beschwipst konnte sie nicht sein, von einem Glas Cognac. »Konzentrier dich lieber darauf, dass der Spiegel richtig eingestellt ist.« Ruth musste dennoch lachen.
Gisela ließ den Motor an und jubelte. »Oh, er läuft!« Sie schaltete in den Rückwärtsgang, und es gab ein knirschendes, scheußliches Geräusch. »Oh, das war der falsche Gang. Verrat’s bloß nicht Rainer, ja?«
»Das macht nichts. Mir passiert das hin und wieder auch.«
Mit hochkonzentrierter Miene fuhr Gisela aus der Parklücke, schaltete in den ersten Gang und fuhr ruckelnd an.
»Du musst die Kupplung langsamer loslassen, sonst hoppelt der Wagen.«
Sie schaltete in den zweiten Gang und gab etwas mehr Gas.
»Oh, das macht Spaß, Ruthchen!« Sie setzte den Blinker und bog auf die Hauptstraße.
Nach wenigen Metern fuhr sie links ab auf die Nebenstraße, den Schleichweg. »Fahre ich dir zu schnell?«
»Nein, nein. Beim vierten Gang musst du ein bisschen vorsichtig sein. Manchmal erwischt man den zweiten.«
Ein beigefarbener VW Käfer überholte sie, und Gisela fluchte leise. »Dem fahre ich jedenfalls zu langsam. Warum fährt er nicht auf der Hauptstraße?«
»Vielleicht wohnt er hier irgendwo.«
»Hast du das Gesicht von dem Fahrer gesehen? Ich kann mir denken, was er gedacht hat.«
»Dass er neidisch auf Rainers schickes Auto ist?«
Giselas Mundwinkel zuckte. »Weißt du, was Dietmar gern gesagt hat? Dass Frauen nicht ans Steuer gehören.«
»Und trotzdem hat er dir Fahrstunden gegeben?«, fragte Ruth verblüfft.
»Ich nehme an, er hat gehofft, dass ich es mit der Angst zu tun kriege und froh bin, wenn er weiterfährt.«
»Du solltest auch den Führerschein machen.«
Gisela sah sie kurz an. »Wer weiß, vielleicht tue ich das sogar, Ruthchen.«
Nach einer Weile begann es zu nieseln, und der Wind warf Blätter an die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer quietschte, und Ruth verzog das Gesicht.
Gisela wollte ihn wieder ausschalten, erwischte aber den Blinker. »Ach, du Schreck!« Sie hantierte an den Hebeln und war für einen kurzen Moment unaufmerksam.
Der genügte, um den Wagen ein wenig ins Schlingern zu bringen und einen der Begrenzungspfähle zu streifen.
»Huch! Hab ich ihn erwischt?«, fragte Gisela erschrocken.
»Ich glaube schon. Halt mal an, ja? Ich steige aus und sehe nach.«
Ruth lief hin, blickte sich rasch um, richtete den Pfahl, der etwas schief dastand, trat ihn fest und schaute sich dann die Stoßstange des Wagens an. Alles gut gegangen , dachte sie erleichtert. Die Stoßstange hatte nicht mal einen Kratzer.
»Erledigt«, sagte sie beim Einsteigen. »Und der Wagen hat nichts abgekommen.« Sie grinste ihre Schwester an. »Wir werden also nicht verhaftet, Gisela. Du hast dir ganz umsonst die Lippen nachgezogen.«