Seit Tagen war es im Salon wie im Taubenschlag zugegangen.
Ruth ging es inzwischen stetig besser, die Übelkeit war so gut wie verschwunden, nur dann und wann regte ihr Magen sich. Zum Beispiel, wenn eine Kundin stark parfümiert war oder es im Treppenhaus nach gebratenen Zwiebeln roch. Neuerdings hatte sie eine Schwäche für Dörrobst, dabei mochte sie es eigentlich gar nicht.
Die letzten Kunden waren gerade gegangen, und sie, Hella und Brigitte waren dabei, aufzuräumen. Rainer war zum Großhandel gefahren, um ein paar Dinge einzukaufen. Er war schon seit Stunden unterwegs.
Als im Radio ›Was so alles geschieht auf der Carnaby Street‹ von Peggy March lief, blieb Ruth stehen und lauschte. Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil sie wieder an Marianne denken musste.
Ruth wünschte, ihre Nichte könnte bei der Hochzeit am Wochenende dabei sein, aber sie hatte gleich abgesagt.
Ich hab zu viel zu tun, Ruthchen, tut mir so leid! Ich wäre furchtbar gern dabei und würde Dich so gern mit kleinem runden Bäuchlein unter dem Kleid sehen.
»Was hast du denn?«, fragte Brigitte und schob sie sacht beiseite, weil sie im Weg herumstand.
»Ich musste nur gerade an meine Nichte denken.«
Brigitte legte kurz den Arm um ihre Schultern, dann fegte sie weiter.
»Überanstreng dich ja nicht, hörst du?«, sagte Elfie streng.
»Warum gehst du nicht nach Hause?«
»Weil Rainer noch nicht zurück ist.«
»Ach ja, stimmt.« Sie wies auf den Stuhl in der Ecke. »Dann setz dich, bis er kommt.«
»Und sehe euch bei der Arbeit zu? Ganz bestimmt nicht.«
Elfie nahm ihr kurzerhand den Wischlappen aus der Hand.
»Na schön, wie du meinst.« Ruth sank auf den Stuhl und spürte erst jetzt, wie sehr ihre Füße brannten.
Über ihr an der Wand hingen Poster von bekannten Mannequins, auch Marianne war darunter.
Noch immer wurde Ruth von Kundinnen bestürmt, und natürlich wollten alle ihr Haar genauso tragen.
Die Eingangstür wurde schwungvoll geöffnet, und Rainer kam mit einem lauten »Bin wieder da!« herein.
Als er Ruth auf dem Stuhl sitzen sah, ließ er beinahe die vollen Taschen und Tüten fallen und lief zu ihr. »Alles in Ordnung? Du hast dich doch nicht überarbeitet?«
»Nein, Elfie und Brigitte sorgen schon dafür, dass das nicht passiert. Ich durfte nicht weiter aufräumen.«
Er warf den beiden einen raschen Blick zu und nickte.
»Wir sind dann auch fertig.« Brigitte schlüpfte aus ihrem Kittel. »Bis morgen.«
Auch Elfie verabschiedete sich, und als sie allein waren, setzte Rainer sich neben Ruth und nahm ihre Hand. »Ich habe Gisela unterwegs getroffen.«
»Im Großhandel?«, fragte sie verblüfft.
»Nein, auf dem Osterdeich. Sie hatte einen Einkaufsbummel gemacht und wollte eigentlich hierherkommen.« Seit einiger Zeit kam sie regelmäßig in den Salon und ließ sich von Ruth frisieren. »Dann war sie nicht da?«
Ruth schüttelte den Kopf. »Ich rufe sie gleich an, wenn wir zu Hause sind.«
»Ich wollte kommen«, sagte Gisela später am Telefon. »Aber plötzlich wurde ich so müde, dass ich gleich nach Hause bin und mich hingelegt habe.«
»Du wirst doch hoffentlich nicht krank?«
»Und verpasse eure Hochzeit? Ganz bestimmt nicht. Ich würde gern morgen Vormittag kommen. In Ordnung?«
»Lieber etwas früher, am besten gegen neun. Danach sind wir komplett ausgebucht. Hast du was von Marianne gehört?«
»Nein, du?«
»Seit ihrer Absage nicht, nein.«
Beide schwiegen einen Moment, weil jede wusste, dass die andere besorgt war.
»Sie meldet sich bestimmt zu eurer Hochzeit«, meinte Gisela schließlich. »Mit einem riesigen Geschenk per Post.«
»Mir wäre lieber, sie würde selbst kommen.«
Nach dem Gespräch schmiegte Ruth sich an ihren zukünftigen Mann, der es sich auf der Couch bequem gemacht hatte.
»Was läuft denn?«
»Ein Spielfilm. Ich weiß gar nicht genau, worum’s geht. Er ist so langweilig, dass ich schon ein paarmal eingenickt bin.« Er gähnte. »Soll ich uns eine Schallplatte auflegen?«
»Ach ja, bitte.« Sie musste ebenfalls gähnen.
Er stand auf und ging zum Plattenspieler. »Peggy March oder Graham Bonney?«
»Leg ruhig deine geliebten Beatles auf.« Sie lächelte mit geschlossenen Augen.
Die Plattennadel rauschte, und dann erklang ›Eleanor Rigby‹. Ruth mochte das Lied sehr und sang leise mit.
Rainer kam wieder zu ihr, und sie bettete den Kopf auf seine Brust. »Wenn dein Bauch noch größer ist, dürfte das schwierig werden.« Er gab ihr einen Kuss. »Wie fühlst du dich?«
»Gut und sehr müde.« Sie liebte diese Abende, wenn der Fernseher aus war und sie still beieinandersaßen oder lagen und Musik hörten. Manchmal lasen sie auch oder plauderten.
»Schön, oder?«, flüsterte sie. »Wünschst du dir eigentlich einen Sohn oder eine Tochter?«
»Das ist mir vollkommen egal.«
»Glaub ich nicht.«
»Es stimmt aber.«
»Ich dachte, alle Männer wünschen sich als Erstes einen Stammhalter.«
»Hmm … Nein, mir ist es wirklich egal. Und du? Was wünschst du dir?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Mal denke ich, ein Sohn wäre schön. Dann wieder denke ich an ein Mädchen.« Sie lauschte seinem Herzschlag und musste an ihre erste gemeinsame Nacht denken.
Die Wohnung war vorerst groß genug, weil es ein weiteres Zimmer gab, das sich gut als Kinderzimmer eignete.
Rainer träumte von einem Häuschen am Stadtrand, irgendwo im Bremer Speckgürtel. Ruth dagegen würde am liebsten in der Stadt bleiben. Sie war es so gewohnt und würde sich mit einem Ortswechsel schwertun.
»Ein Haus auf dem Land wäre fein«, sagte er in die Stille hinein.
»Hast du meine Gedanken gelesen?«
»Ich wünschte, ich könnte. Sag bloß, du hast auch über ein Haus nachgedacht?«
»Ich habe daran gedacht, dass wir, wenn unsere Familie größer wird, eine neue Wohnung brauchen.«
»Und du willst nach wie vor nicht raus aufs Land.« Es war keine Frage, sondern offenbar eine Feststellung.
»Müssen wir das heute entscheiden?« Sie war ein bisschen verstimmt. Neuerdings hatte sie nicht nur eigenartige Heißhungerattacken, auch ihre Stimmungen konnten blitzschnell wechseln.
»Nein, Schatz.« Er küsste sie aufs Haar.
Sie kuschelte sich an ihn, froh, dass das Thema vom Tisch war. Vorerst.