Ihr Sohn kam in einer lauen Juninacht zur Welt.
Bis kurz zuvor hatten sie und Rainer sich nicht auf einen Namen einigen können, doch als er dann neben ihr lag und sie mit seinen blauen Augen anschaute, wusste sie, dass sie ihn Stefan nennen wollte. Und Rainer davon überzeugen würde.
Die Hebamme hatte Rainer wieder nach Hause geschickt, kurz nachdem er Ruth ins Krankenhaus gebracht hatte. »Das dauert noch, Herr Kronewinkel, die Ersten brauchen immer etwas. Legen Sie sich noch mal hin, wir rufen Sie an.«
Doch er war nur rasch heimgefahren, hatte sich umgezogen und einen Kaffee getrunken und war dann wieder hergekommen.
Seinen kleinen Sohn hatte er staunend und ehrfürchtig betrachtet. So sieht ein stolzer, glücklicher Vater aus, hatte Ruth gedacht.
Nachdem er gegangen war, waren ihr die Augen zugefallen.
Das Letzte, was sie dachte, war, dass sich ihr Leben von nun an komplett verändern würde. Natürlich hatte sie das zuvor bereits gewusst, nun jedoch spürte sie es auch. Bis vor Kurzem hatte ihr der Gedanke ein wenig Angst gemacht, sie überfordert, doch nun fühlte sie sich vorbereitet, gerüstet.
Gisela kam am frühen Nachmittag, im Arm einen Blumenstrauß für Ruth und einen Teddybären mit blauer Schleife für Stefan.
»Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
»Du musst nicht flüstern«, sagte Ruth mit einem Lächeln. »Meine Bettnachbarin schläft so fest, dass man sie wahrscheinlich wegtragen könnte.« Sie hatte zwei Tage zuvor das vierte Mädchen geboren und gemeint, ihr Mann wäre sicher furchtbar enttäuscht, dass es wieder kein Junge war.
Ruth wollte sich aufsetzen und verzog das Gesicht.
Gisela half ihr und klopfte das Kissen in ihrem Rücken auf.
»Hast du den Kleinen schon gesehen?«
Ihre Schwester nickte. »Die Schwester hat ihn mir gezeigt. Er lag ganz brav in ihrem Arm und hat geschlummert. Er ist hinreißend, Ruthchen.«
»Ja, das ist er.«
Gisela setzte sich auf die Bettkante, den hellbraunen Teddybären auf ihrem Schoß.
»Die Blumen sind sehr hübsch. Danke, Gisela, auch für den niedlichen Bären.«
Eine Krankenschwester kam herein und brachte eine Vase.
Gisela stellte die Blumen hinein und ging zum Waschbecken an der Wand.
Als sie zurückkam, waren ihre Augen gerötet und glänzten feucht.
»Was hast du denn?«, fragte Ruth erschrocken.
Sie nahm wieder Platz und zog ein Taschentuch aus der Rocktasche, mit dem sie sich die Augen tupfte. Dabei verschmierte sie den blauen Lidschatten. »Ich möchte dir etwas erzählen, Ruthchen. Etwas, das ich noch nie jemandem erzählt habe.« Sie holte tief Luft und strich über ihren beigen Rock.
»Marianne war gerade in die Schule gekommen, als ich wieder schwanger wurde. Die Ärzte hatten mir gesagt, ich könnte keine Kinder mehr bekommen, und nun war ich schwanger. Dietmar und ich, wir haben uns so gefreut. Wir hatten uns immer mindestens zwei Kinder gewünscht.« Sie zerknüllte ihr Taschentuch. »Mir ging’s gut, wirklich gut. Mir war längst nicht so übel wie bei Marianne. Und dann … ich war bereits Ende des fünften Monats …«
Ruth hielt den Atem an. Sie ahnte, was nun kam.
»Ich hatte eine Fehlgeburt, Ruthchen, ich hab unser Kind verloren.« Ein paar Tränen liefen ihr übers Gesicht in den Blusenkragen.
»Oh Gott, Gisela, warum hast du mir das nie erzählt?«
»Ich hab’s niemandem erzählt. Ich konnte nicht, es ging nicht. Ich konnte nicht mal mit Dietmar darüber sprechen. Er hat still für sich getrauert und ich für mich.« Sie sah Ruth an. »Wie Marianne und ich, als er starb. Ich hab einfach nicht darüber sprechen können.«
Ruth griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Der Arzt meinte, es wäre ein kleiner Junge gewesen. Ein Sohn. Ich habe mir so sehr einen Sohn gewünscht, genau wie Dietmar.« Sie lächelte traurig. »Er wäre heute siebzehn und bestimmt ein stattlicher, hübscher junger Mann.«
Jetzt weinte Ruth, sie konnte gar nicht mehr aufhören. »Es tut mir so leid, so furchtbar leid.«
»Weißt du, was man sagt: Töchter ziehen fort und gründen eine Familie, Söhne bleiben bei der Mutter. Ich glaube, ich habe das immer falsch verstanden, ich dachte, ein Sohn hätte mich nicht allein gelassen, er wäre geblieben.« Sie lachte auf. »Was war ich doch für eine Närrin. Es ist ganz anders gemeint: Wenn ein Sohn eine Familie gründet, kümmert er sich auch weiterhin um seine Mutter. Eine Tochter dagegen wird sich vor allem um ihre eigene Familie kümmern.« Sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach. »Ich stelle mir oft vor, wie es wäre, wenn wir diesen Sohn bekommen hätten. Wenn er nicht … gestorben wäre.«
Ruth wischte mit dem Handrücken über ihre Nase. »Eines steht jedenfalls fest, Gisela. Du wärst furchtbar stolz auf ihn. Genau wie auf Marianne.«