44.

London


Marianne


Ruths Hochzeit lag schon wieder ein halbes Jahr zurück. Die Zeit verging so schnell, dass es ihr manchmal vorkam, als wäre sie nur ein kurzer Windhauch, der vorbeizog. Zu flüchtig, um ihn wirklich wahrzunehmen, zu rasch, um ihn festzuhalten.

Wie sie im Grunde kaum noch etwas festhalten, in sich bewahren konnte. Ihr Alltag, ihr Leben bestand nur noch aus Zeitdruck, Hektik und Stress. Es gab nicht mal ausreichend Gelegenheiten, in Ruhe über etwas nachzudenken.

In ein paar Tagen würde eine wichtige Modenschau stattfinden, ein Ereignis, das viele Fotografen und Reporter sich nicht entgehen lassen wollten. Das bedeutete: noch mehr Zeitdruck, noch mehr Hektik.

In London war es so heiß und stickig, dass man kaum durchatmen konnte und sich verzweifelt mit dem Erstbesten, was man zur Hand hatte, Luft zufächelte. Der Asphalt flirrte, und die Menschen waren gereizt und schlecht gelaunt, auch die, die sonst den Sommer, die Sonne herbeisehnten. Träge saßen sie auf den Bänken an der Themse oder im Park und stöhnten.

Die Eingangstüren in den Kaufhäusern und Geschäften standen den ganzen Tag offen, trotzdem war es drinnen unerträglich.

Marianne war im Kaufhaus Liberty gewesen, um Ruths kleinem Sohn etwas Niedliches zum Anziehen zu kaufen. Doch nach nur wenigen Minuten war sie wieder ins Freie geflüchtet.

Sie dachte gern daran zurück, wie sie Ruth auf deren Hochzeit überrascht hatte. Sie hatte sich nicht in der Aufmerksamkeit und offenen Bewunderung gesonnt, im Gegenteil, es war ihr eher ein wenig unangenehm gewesen. Aber sie gehörte dazu, sie war ein Mensch, der anderen wichtig war. Sie hatte eine Familie, die sie liebte, Freunde, denen sie etwas bedeutete.

Der Tag war viel zu schnell vorbeigegangen – ein Windhauch –, und als sie nach Paris weitergeflogen war, hatte sie still für sich geweint. Sie hatte Sehnsucht und Heimweh empfunden, dabei hatte sie gerade erst alle wiedergesehen.

Nach der Modenschau in Paris war sie zusammengebrochen, hatte für drei Tage in die Klinik gemusst. »Emotionale und körperliche Erschöpfung«, hatte der Arzt gemeint, und sie hatte gelächelt. So wie sie es gelernt hatte, und so wie sie es machte, wenn sie nicht wollte, dass ihr jemand in die Karten schaute.

Anthony war gekommen, mit einem Strauß Blumen, der so üppig gewesen war, dass die Krankenschwester keine passende Vase gefunden hatte. »Du musst besser auf dich aufpassen, Süße«, hatte er gesagt und ihre Hand getätschelt. »Der Stress darf dich nicht so belasten. Haben sie dir was zum Aufpäppeln gegeben?«

Sie hatte genickt. Die Tabletten und Dragees würden ihr wieder auf die Beine helfen. Für das, was sie aber weit dringender brauchte, gab es kein Medikament: Wärme, echte Fürsorge, Uneigennützigkeit, Liebe.

Anthony hatte noch ein wenig geplaudert und von einem neuen Mannequin berichtet, das er in Stockholm entdeckt hatte. »Auf der Straße kam sie mir entgegen, und ich hab sie gleich angesprochen. Sie kommt ganz groß raus, so wie du, Ann.«

Marianne hatte gedacht: Das arme Ding.

»Wann bist du wieder bereit?«, hatte er gefragt. »Wir brauchen dich für Aufnahmen. Die Chefredakteurin hat angerufen, dass sie nur dich will.«

Nachdem sie entlassen worden war, hatte sie zwei volle Tage nur geschlafen und erschreckend lebhaft geträumt.

Wieder von ihren Eltern und vom Salon. Auf allen vieren hatte sie auf dem Fußboden gehockt und Haare zusammengefegt. Bis ihre Mutter gekommen war und ihr aufgeholfen hatte. »Lass uns lieber tanzen gehen«, hatte sie gesagt und ihr liebevoll übers Haar gestrichen.

Bin ich ein kleines Mädchen oder eine erwachsene Frau?, hatte sie im Traum überlegt. Sie hätte beides sein können.

Ihr Vater hatte in der Stube am Fenster gesessen, seinem Lieblingsplatz, den Sportteil der Tageszeitung auf dem Schoß. Lächelnd hatte er aufgeblickt, als sie hereingekommen war. »Ich habe mich schon gefragt, wo du so lange bleibst.«

Sie war so froh gewesen, so glücklich, ihn zu sehen. Es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten.

Als sie aufgewacht war, hatte sie geweint.

Dann und wann träumte sie auch von Ruth. Sie gingen zusammen aus, saßen an einem Tisch in der Ecke und beobachteten die Männer um sie herum. Wenn einer zu ihnen kam, um eine von ihnen zum Tanzen aufzufordern, versteckten sie sich blitzschnell unter dem Tisch und kicherten, wenn er wieder abzog. »Mir sind die alle zu doof«, flüsterte Ruth im Traum. »Sie müssten doch sehen, dass wir unter dem Tisch hocken. Ich will keinen Mann, der mich nicht sieht.«

Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken. Es war Mary, die ihr erzählte, dass sie in Manchester bleiben würde und sich mit ihrer Jugendliebe verlobt hatte. »Verrückt, was? Als ich mich damals von ihm getrennt habe, war ich froh, dass ich mein altes Leben hinter mir lassen und anderswo neu anfangen konnte. Mein altes Leben kam mir so erbärmlich, so öde vor.«

Wie gut ich dich verstehe , hatte Marianne gedacht. Sie war ganz wehmütig geworden. Doch sie sagte nur: »Das ist wirklich verrückt, Mary«, und krönte es mit einem fröhlichen Lachen. Auch das hatte sie gelernt und bis zur Perfektion einstudiert. So konnte niemand hinter ihre Fassade blicken.


Mitten in der Nacht wurde sie wach und setzte sich auf.

Hatte sie geträumt? Wieder von zu Hause, von ihren Eltern? Warum lächelte sie? Und warum fühlte sie sich, als hätte sie sich über Nacht von einer Last befreit?

Sie stand auf und ging im Dunkeln umher, die Arme vor der Brust verschränkt, weil ihr kühl war.

Ihre Mutter hatte den Entschluss, den Salon nicht wieder eröffnen zu wollen, als eine Art Befreiungsschlag bezeichnet. Marianne war überrascht gewesen, sie hatte nicht gewusst, dass der Salon eine Last, eine Bürde gewesen war. Ich bin ein ganz neuer Mensch , hatte ihre Mutter geschrieben. Weil ich es mir endlich eingestanden habe.

Marianne sank aufs Bett, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Wieder musste sie lächeln, weil sie nun, im komplett wachen Zustand, begriff, dass auch sie sich längst etwas eingestanden hatte.