45.

Gisela


Selbstgenähtes, -gestricktes und -gehäkeltes stand in diesem Sommer hoch im Kurs. Alle Frauen versuchten sich darin, egal, ob sie talentiert und motiviert oder leidlich begabt waren.

Gisela hatte mit großer Begeisterung zu stricken und zu häkeln begonnen und nähte an diesem Nachmittag ihr erstes Wickelkleid. Es gelang ihr sogar recht passabel, nur die kleine Tasche war ein wenig schief geraten. Das merkte man aber kaum, weil das Kleid an dieser Stelle gebunden wurde. Sie hängte es auf einen Bügel und betrachtete es zufrieden.

»Hübsch«, sagte sie. »Gut gemacht, Gisela.«

Sie könnte eine Kleiderpuppe anschaffen, das wäre sicher praktisch. Der Stoff ließe sich dann wunderbar anpassen und feststecken, und sie müsste nicht mehr auf allen vieren auf dem Fußboden herumkriechen.

»Was meinst du, Mäxchen? Soll ich?«, fragte sie den Cockerspaniel, der auf dem flauschigen Läufer neben ihr lag und den Kopf hob.

Sie hatte ihn vor ein paar Wochen aus dem Tierheim geholt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Max’ frühere Besitzerin, eine alte Dame, war gestorben, und seitdem schaute er jeden, der hereinkam, hoffnungsvoll an.

Gisela hatte die Hand ausgestreckt, und er war sofort zu ihr gekommen. »Ich nehme ihn«, hatte sie verkündet und es keinen Tag bereut.

Die beiden gingen mehrmals am Tag spazieren, manchmal wurde es ein ausgedehnter Gang, manchmal drehten sie nur eine kleine Runde. Der Hund tat ihr gut, sie fühlte sich gebraucht und hatte jemanden, um den sie sich kümmern, den sie versorgen durfte.

Max machte einmal »Wuff« und döste weiter.

Schon wieder hatte sie Ideen für neue Kleider, Röcke, Kissen, vielleicht würde sie sogar neue Vorhänge nähen.

Wenn ihr Neffe etwas größer war, würde sie Hosen für ihn nähen.

Am Tag zuvor war sie bei Ruth gewesen und hatte den Kleinen auf dem Arm umhergetragen. Und sich vorgestellt, wie es wäre, wenn sie auch einen Sohn hätte. Es tat noch immer weh, wahrscheinlich würde das für den Rest ihres Lebens so sein.

Sie würde damit zurechtkommen, es still ertragen oder mit Ruth darüber reden, so wie sie es versprochen hatte.

Ruth ging ganz in ihrer Mutterrolle auf. Sie sagte, das Muttersein stelle alles in den Schatten, von dem sie früher geglaubt habe, es mache sie glücklich.

Gisela stand auf, ging zum Fenster und dehnte den Rücken.

Sie hatte zu lange an der Nähmaschine gesessen. Ich brauche mehr Bewegung , dachte sie. Vielleicht sollte ich mir auch ein Fahrrad anschaffen. Wenn Stefan größer ist, könnte ich ihn in einem Korb mitnehmen.

Sie sah häufig Mütter mit kleinen Kindern im Fahrradkorb am Lenker.

Wenn sie nur wüsste, was sie mit den Salonräumen tun sollte. Sie konnten nicht ewig leer stehen.

Es war die richtige Entscheidung gewesen, den Salon nicht mehr zu eröffnen. Auch jetzt, einige Zeit später, fühlte es sich gut und vollkommen richtig an.

Unten auf der Straße gingen zwei junge Frauen mit ihren Kinderwagen spazieren. Gisela lächelte. Sie war auch schon einige Male mit ihrem kleinen Neffen und Max an der Weser entlangspaziert.

Sie wandte sich ab und wollte sich wieder an die Nähmaschine setzen. Sie war eine unerwartet geschickte Schneiderin. Vielleicht hätte sie damals, vor vielen Jahren, diese Laufbahn einschlagen sollen, überlegte sie.

Nein, eher nicht. Für sie wie auch für ihre Geschwister war der Salon die erste Option gewesen. Und es war gut so, sie hatten viele schöne Jahre dort verbracht. Jahre, die nun vorbei waren.

Gisela konnte es ganz ohne Wehmut und Schuldgefühle sehen und nun endlich auch das tun, was sie schon eine Weile vor sich hergeschoben hatte. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt abwarten wollen, und der war nun gekommen, das spürte sie mit einem Mal ganz deutlich.

Sie ging ins Schlafzimmer und zog einen alten, eigentlich längst ausrangierten Kittel an und schlüpfte in bequeme Pantoffeln. Dann band sie sich ein kariertes Kopftuch um und verknotete es vor der Stirn. Einen kurzen Blick in den Spiegel konnte sie sich im Vorbeigehen nicht verkneifen.

»Komm, Mäxchen!«, rief sie und verließ mit Putzeimer und einer Rolle Müllsäcken die Wohnung.


Kurz darauf stand sie am Tresen und strich liebevoll darüber. Ja, alles hatte seine Zeit, und die Zeit von Salon Fellbach war unwiederbringlich vorbei.

Gisela stellte Eimer und Putzmittel ab und blickte sich um.

Sie horchte in sich hinein, zunächst noch ein wenig misstrauisch und besorgt. War sie wirklich bereit? War sie imstande, mit diesem letzten Punkt abzuschließen?

Sie ging in den leeren Frisierbereich und schaute sich auch hier um. Nur eine Trockenhaube war ihnen noch geblieben, die Einzige, die beim Brand heil geblieben war. Wie ein Mahnmal stand sie in der Ecke, ein Zeitzeugnis.

»Tut mir leid, altes Mädchen, aber deine Zeit ist auch endgültig abgelaufen.« Gisela schob die Haube in den Eingangsbereich. Beim nächsten Sperrmüll würde sie sie an die Straße stellen.

Anschließend räumte sie die letzten Haarpflegeprodukte und eine Schachtel mit Wicklern und Clips aus dem Regal in eine Kiste. Dann nahm sie die Kasse vom Tresen und stellte alles neben die Trockenhaube.

Jetzt wurde es doch ein wenig eng in ihrem Hals. Einen großen Schritt war sie bereits gegangen, und nun gab es kein Zurück mehr. Aber Gisela wollte auch nicht mehr zurück.

Es war eine reifliche Überlegung gewesen, einen Schlussstrich zu ziehen. »Ich hoffe, du verzeihst mir, Papa«, sagte sie leise. »Aber es muss sein, es ist an der Zeit.«

Sie nahm das Radio aus dem leeren Regal und ging damit in den früheren Frisierbereich. Zu Mireille Mathieus ›Hinter den Kulissen von Paris‹ begann sie zu schrubben.


Als sie leise Schritte hinter sich hörte, wirbelte sie herum.

Ruth stand da und blickte sich mit großen Augen um. »Gisela …« Dann stutzte sie und begann zu lachen. »Schick siehst du aus.« Langsam kam sie näher. »Du machst also ernst.«

Gisela nickte, den Wischlappen noch in der Hand. Sie war fast fertig, nur das Schaufenster fehlte noch. Sie wollte das Laken herausnehmen, das Fenster putzen, bis es glänzte, und dann ein großes Schild hineinhängen: Räume zu verpachten. »Wo ist der Kleine?«, fragte sie mit rauer Stimme.

Ruth legte den Arm um ihre Taille. »Er schläft im Kinderwagen.« Sie nickte in Richtung Tür. »Und?«, fragte sie dann leise.

»Mir geht’s gut«, versicherte Gisela aus reiner Gewohnheit. Sie hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, sich niemals etwas anmerken zu lassen. »Mir geht’s wirklich gut, Ruth­chen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Ich hab’s im Geiste schon so oft durchgespielt und mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen wird …« Sie holte tief Luft und versuchte das, was sie spürte, in Worte zu fassen. Auch das war neu für sie, und sie müsste es wohl erst noch lernen. »Ich bin … erleichtert, ja, wirklich. Und ich habe kein schlechtes Gewissen. Es ist die richtige Entscheidung.«

Ruth lehnte das Gesicht an ihre Wange. Sie waren fast gleich groß.

Im Radio sang Peter Alexander ›Verbotene Träume‹, und sie sahen sich verwundert und belustigt zugleich an.

»Ich erkenne dich kaum wieder«, sagte Ruth nach einer Weile. Vielleicht hatte auch sie vorübergehend mit den Tränen kämpfen müssen. »Ich bin so froh, dass wir uns wiedergefunden haben.«

Gisela lächelte. Wiedergefunden, das klang sehr schön und traf es auf den Punkt.

»Weißt du noch, wie lebhaft es hier früher zugegangen ist? Wie die Trockenhauben gedröhnt und gebrummt haben und es nach Haarspray und Festiger roch? An manchen Tagen haben die Kunden sich die Klinke in die Hand gegeben.« Ruth hob einen Finger. »Hörst du das, Gisela?«, flüsterte sie. »Hörst du die Stimmen, das Geplapper, das Brummen der Hauben?«

»Ja«, flüsterte Gisela. »Ich kann es ganz deutlich hören.«

»Schön war’s, oder?«

»Sehr schön, Ruthchen.« Sie klatschte zweimal in die Hände und lauschte. »Jetzt ist es still, ganz still.«

Es war ein besonderer, ein inniger Moment, und beide waren ganz still. Sogar Max gab keinen Laut von sich.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Ruth irgendwann. »Mit den Räumen, meine ich.«

»Ich dachte, ich hänge ein Schild ins Schaufenster, dass sie zu pachten sind. Was meinst du? Es wird wahrscheinlich nicht leicht werden, aber vielleicht findet sich jemand, der Räume für zwei, drei Büros sucht. Das wäre doch ideal.«

Ruth schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Salon Fellbach ist Geschichte. Eine Geschichte, die ich meinem Sohn erzählen werde.«

Gisela schluckte. »Wie schön, Ruthchen. Ich glaube, ich muss heulen.«

»Ich auch.«

Sie sahen sich an und mussten lachen.

Im Radio begann Udo Jürgens ›Immer wieder geht die Sonne auf‹ zu singen, und wieder schauten sie sich verblüfft an.

»Als würden sie die Lieder nur für uns spielen«, meinte Gisela kopfschüttelnd.

Ruth lief hin, um lauter zu stellen, dann nahm sie Giselas Hand und führte sie in die Mitte des Raumes. Die beiden tanzten über den blank gewienerten Linoleumboden.

Gisela spürte ein unbändiges Gefühl von Lebensfreude, Glück und Freiheit aufsteigen. Sie hatte ihr Leben zurück. Es war, als fiele eine Last von ihren Schultern. Sie lachte und drehte sich schneller und schneller.

»Wenn uns jemand sieht, wird er uns für vollkommen übergeschnappt halten.« Ruth kicherte. »Ich höre schon, wie sie tratschen: Die Fellbach-Schwestern drehen durch und tanzen in ihrem früheren Salon.«

»Frau Jansen zum Beispiel.«

»Oder Herr Plön.« Ruth prustete. »Aua, du bist mir auf die Füße getreten.«

»Verzeihung, ich bin aus der Übung.«

Plötzlich sagte eine weibliche dunkle Stimme hinter ihnen: »Was macht ihr denn da?«

Gisela blieb wie angewurzelt stehen. »Ruthchen«, flüsterte sie. »Hast du das gehört? Das klingt wie Marianne.« Sie kniff die Augen zu und machte sie wieder auf.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ihr ein Tanzlokal eröffnet habt, wäre ich früher gekommen.«

Langsam drehte Gisela sich um.

Und tatsächlich: Ihre Tochter stand im Eingang, eine große Handtasche quer über der Schulter.

»Marianne?«, fragte Gisela ungläubig.

»Du bist nicht wiederzuerkennen, Mama. Und ich meine nicht deine todschicke Aufmachung.«

Gisela lief zu ihr und umarmte sie, wollte sie gar nicht loslassen. Der Cockerspaniel sprang an ihnen hoch und bellte aufgeregt.

»Bist du’s wirklich, Mama? Was ist passiert, dass ich dich kaum wiedererkenne?«

»Sehr viel.« Gisela gab sie frei. »Ich freue mich so, dass du da bist! Wie lange kannst du bleiben? Oder musst du gleich wieder weiter?«

Ruth kam zu ihnen. »Ich kann nicht glauben, dass du hier vor uns stehst.«

Marianne sah müde aus, erschöpft, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und wie mager sie war!

»Dein Sohn ist hinreißend, Ruthchen. Er schläft wie ein kleiner Engel.« Sie schaute von einer zur anderen. »Ich wollte euch überraschen. Und nein, Mama, ich muss nicht gleich wieder weiter.«

»Gott sei Dank.«

Sie hockte sich hin und kraulte Max am Ohr. »Ihr habt mir so gefehlt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr.« Sie machte eine längere Pause und blickte sich um.

Ob es ihr etwas ausmachte, dass es den Salon nicht mehr gab, fragte Gisela sich.

»Ich werde nicht wieder nach London zurückgehen.«

Gisela blinzelte, sagte aber kein Wort.

»Was? Du willst nicht zurück?«, fragte Ruth. »Was ist mit deinem Beruf?«

»Es läuft auch ganz gut ohne mich weiter. Die eine geht, die andere kommt.« Marianne zuckte die Schultern. »Ich hatte das alles so satt. Die ewige Hektik, der Stress, das Hungern und das ständige Reisen und in irgendwelchen Hotelzimmern übernachten müssen. Es ist genug, es reicht. Ich will mein altes Leben zurück.« Sie lachte. »Na, vielleicht nicht ganz. Erst mal werde ich mich erholen, ausruhen, und dann sehe ich weiter.«

Gisela nickte, lächelte, noch immer fassungslos und überwältigt vor Glück. »Ja, dann siehst du weiter.«