Eins
Mable
D as Taxi wirkt wie ein Alien zwischen den schwarzen Limousinen. Ein gelber Farbtupfer, der sich nicht vermischen will und die Szenerie aus Bentleys und BMWs entstellt. Noch nie habe ich so viele teure, extravagante Wagen auf einem Fleck gesehen. Oder Chauffeure, die Türen öffnen, Pagen, die Koffer auf vergoldete Wagen laden, und modisch gekleidete junge Erwachsene, die sich von ihren reichen Eltern in Poloshirts und Hosenanzügen verabschieden.
Das Taxi schiebt sich durch den Stau auf der Straße. Die Reihe aus Luxuskarossen will einfach nicht enden. Nervös falte ich das Blatt mit der Wegbeschreibung meines Wohnheims in der Hand und halte Ausschau nach Studenten, die nicht danach aussehen, als gingen sie auf dem Rodeo Drive shoppen. Ist denn niemand, der an dieser Universität studiert, normal?
»Haus 17, Ma’am?«, fragt mich der Fahrer mit starkem Südstaatenakzent und ich nicke. Wir könnten nicht weiter weg von Texas sein. »Dann halte ich da vorne.«
Wieder nicke ich, als er den Blinker setzt und darauf wartet, dass gleich drei Pagen die zehn Koffer einer Studentin über die Straße schieben, die mit einem Handy in der Hand telefonierend neben ihnen hergeht, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben einen Koffer überhaupt berührt .
Kaum ist die Gruppe über die Straße, rauscht ein roter Sportwagen mit heulendem Motor an uns vorbei, bremst direkt vor der Front des Taxis und fährt in die einzig freie Parklücke weit und breit.
Ein Student mit azurblauem, engem Shirt und goldbraunem Haar steigt aus und wirft einen flüchtigen Blick in unsere Richtung, bevor er sich an die Blondine mit den drei Koffern wendet, die ihn kreischend wie ein Groupie befällt und begrüßt.
»Arschloch«, murmle ich und beobachte, wie die Hände des Typen unter den kurzen Rock des Mädchens gleiten. An seinen Fingern trägt er protzige Siegelringe und alles an ihm stinkt nach Geld wie ein Misthaufen nach Gülle.
»Ich kann hier nicht stehen bleiben, Ma’am«, sagt der Fahrer von vorn und lächelt mich entschuldigend an. Er parkt eine halbe Meile weiter am Ende der Reihe aus Limousinen und schaltet das Taxameter aus. »Macht 28 Dollar fünfzig, Ma’am.«
Ich gebe ihm dreißig, auch wenn ich mir Trinkgeld eigentlich nicht leisten kann.
Der Fahrer steigt aus und weckt in mir für einen Moment das Gefühl, genauso wie die anderen ankommenden Erstsemester Hilfe zu erhalten. Doch er tut nichts weiter, als meine vielen Taschen, die zwei Tüten und den kaputten Koffer auf den Bürgersteig zu laden, bevor er mir auf die Schulter klopft und grußlos weiterfährt.
Ich stehe da, am Rande der feinen Gesellschaft, mit mehr Gepäck, als ich tragen kann, und muss mindestens eine halbe Meile zu meinem Wohngebäude zurücklaufen.
Das ist kein Problem. Die Euphorie, an der Kingston University  – der mit Abstand renommiertesten Universität des Landes – angenommen worden zu sein, überschattet das dumpfe Gefühl, nicht hierherzugehören.
Ich hänge mir zwei Taschen über, greife nach dem Koffergriff, nehme zwei Tüten in die Hand und gehe den Bürgersteig entlang. Mein restliches Gepäck lasse ich vorerst zurück, weil ich es schlicht allein nicht tragen kann. Kaum habe ich die erste Gruppe Eltern passiert, die ihre Schützlinge in die Arme schließen, spüre ich Blicke auf mir.
Mit erhobenem Kopf versuche ich so zu tun, als würden mir die abschätzigen Lippenbewegungen, das angewiderte Rollen von Augen und das betonte Mitleid in den Mienen der Erwachsenen entgehen. Stur gehe ich weiter, fühle mich aber mit jedem Schritt mehr wie eine Verurteilte, die zu ihrem Schafott läuft. Auch wenn das Quatsch ist. Ich bin in Kingston angenommen worden, weil ich hart dafür gearbeitet habe.
Warum sollte ich mich deswegen schlecht fühlen?
Von Weitem sehe ich den roten Sportwagen, vor dem sich ein paar Studenten versammelt haben. Ich versuche mich auf diesen Punkt in der Ferne zu konzentrieren, während ich weiterlaufe, den Koffer schleppe, die Schmerzen in meiner Hand von der einschneidenden Tüte ignoriere.
Niemand bietet mir seine Hilfe an. Nicht, dass ich es erwartet hätte, aber der Märchen liebende Teil in mir hätte es sich gewünscht. Als ich endlich vor dem roten Wagen angekommen bin, lasse ich die Tüten und den Koffer los und gönne mir eine Pause. Hier muss ich abbiegen und den Fußweg durch den Park nehmen. Es sind nur noch ein paar Schritte.
»Oh, seht mal. Eine Obdachlose aus der Stadt.« Die hohe Stimme kommt aus der Studentengruppe. Ein paar von ihnen blicken in meine Richtung, lächeln mich müde an und wenden sich wieder ab. Die Blondine, die gesprochen hat, betrachtet mich, als wäre ich ein Zootier, eine andere Spezies, die sich hierher verirrt hat. »Wie süß sie ist, oder? Vielleicht sollten wir ihr ein paar Dollar geben, damit sie sich eine neue Tüte kaufen kann. Ihre wird jeden Moment reißen.«
Ein paar Frauen, die die Blonde umstehen, lachen mich aus.
»Clarisse, lass sie doch in Ruhe«, ruft ihr eine der Studentinnen zu, die sich in den Armen eines muskulösen Mannes räkelt und ihre Lippen abfällig verzieht, als sie meinen Blick bemerkt. »Sie ist es nicht mal wert, dass du sie ansiehst
Ich setze ein freudloses Lächeln auf, bücke mich wieder und greife erneut nach meinen Sachen. Kaum bin ich zwei Schritte gegangen, löst sich die Blondine aus der Gruppe und stellt sich mir in den Weg.
»Du gehörst hier nicht her, Aschenputtel«, zischt sie und verengt ihre hübschen Augen zu schmalen Schlitzen. Ihr Charakter kann ihr bildschönes Äußeres nicht zunichtemachen. Ein makelloses Gesicht, das einer Puppe gleicht, eine Figur, die ebenso sportlich wie elegant ist. Sie trägt eine züchtige Bluse und einen kurzen Rock. Und jetzt fällt mir wieder ein, dass sie diejenige war, die den Typ, der unsere Parklücke blockierte, begrüßt hat. »Verschwinde dorthin, wo du hervorgekrochen bist.«
Clarisse. Dieser Name passt zu ihr.
Mein Mund fühlt sich trocken an, als ich darum kämpfe, etwas zu erwidern. Ein kluger Spruch, ein schlagfertiges Paroli, warum fällt mir bloß nichts ein? Es ist nicht leicht, vor all diesen reichen Leuten zu sprechen, die mich ansehen, als würden sie mich hassen. Auch wenn ich mir hundertmal vorgestellt habe, was ich tun werde, wenn das hier passiert, fühlt es sich in Wirklichkeit viel schlimmer an.
Die Leere in meinem Kopf will sich einfach nicht zu Worten formen, also bleibt mir nur, einen Schritt zur Seite zu machen, um einfach an der Fremden vorbeizugehen. Ich hätte damit rechnen müssen, dass sie es mir nicht so leicht macht, aber ihre Brutalität überrascht mich doch. Clarisse kommt mir absichtlich einen Schritt entgegen und stößt mich. So beladen, wie ich bin, verliere ich das Gleichgeweicht und stürze.
Der Inhalt meiner Tüten verteilt sich über den Bürgersteig und Gelächter brandet um mich herum auf. Mit hochrotem Kopf rapple ich mich wieder auf, suche meine Sachen am Boden zusammen und merke erst, dass ich an der rechten Hand durch eine Schürfwunde blute, als sich mein neuer Schreibblock rot verfärbt. Verdammt. Tränen brennen mir in den Augen, und ich halte den Kopf gesenkt, stolpere mit dem, was ich schnell habe greifen können, vorwärts und lasse meinen Koffer zurück. Ich muss in mein Zimmer. Das ist das Wichtigste.
Vielleicht sind die Studenten, bis ich zurückkomme, in ihre eigenen Apartments – ja, es gibt so gut wie keine einfachen Wohnheimzimmer in Kingston – verschwunden.
Zum Glück folgt mir niemand von ihnen, als ich durch die Tür zu Gebäude 17 trete. Ein strenger Geruch nach billigen Putzmitteln empfängt mich, und der Flur sieht aus, als würde er seit Jahren nicht bewohnt. Mit mir wurden neun weitere Stipendiaten in das Förderprogramm der Tyrell-Stiftung aufgenommen. Wo sind sie?
»Hallo?«, frage ich vorsichtig, doch niemand reagiert. Das Gebäude scheint verwaist zu sein. Als ich meine Zimmertür gefunden habe, teste ich den Schlüssel, den ich mir eben im Hauptgebäude abgeholt habe. Er passt und ich trete ein. Die Tür war nicht abgeschlossen und mein Zimmer ist nicht leer.
Auf einem der zwei Betten sitzt der Sportwagen-Typ. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Beine weit gespreizt und eine zierliche Frau dazwischen, die ihm einen bläst.
Vollkommen erstarrt stehe ich da und sehe ihnen zu. Es ist, als könnte ich nichts anderes tun. Dastehen. Zusehen. Das Mädchen dabei beobachten, wie ihre Lippen schnell und ruckartig über den Schwanz des Typen gleiten. Ich habe mich bisher von Männern ferngehalten, um nie das erleben zu müssen, was meiner Mutter geschehen ist, aber ich bin mir sicher, dass der Typ ziemlich gut bestückt ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden beim Sex erwische. An Samstagabenden kann man im Trailerpark häufig Freier beim Vögeln mit unseren Nachbarinnen beobachten.
Aber das hier ist anders.
Der gesamte Kerl ist anders.
Sein azurblaues T-Shirt ist locker hochgezogen und entblößt den trainierten, makellos gebräunten Bauch darunter. Die Siegelringe an seinen Händen wirken nicht protzig, sondern elegant, und sein Haar fängt das Sonnenlicht golden schimmernd ein, sodass seine entspannte Miene wie die eines Engels wirkt.
Da das hier mein Zimmer ist und ich meine Sachen unbedingt ablegen muss, räuspere ich mich, damit sie mich bemerken.
Es ist, als würde sich die Luft im Raum verändern, als der Typ die Augen öffnet. Er nimmt mich mit seinem Blick auf so intensive Weise gefangen, dass sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildet. Dann hebt er die Hand, legt sie um den Nacken der Frau vor sich und hält sie dominant fest. Sie wimmert, als er ihren Kopf auf seinen Schoß drückt und mich dabei mit seinem Blick fixiert.
Ich bemerke ein Strahlen in seinen Augen, das Aufleuchten von Lust. Seine Lippen öffnen sich sinnlich, und seine Hüfte zuckt, während ein kalter Schauer über meinen gesamten Rücken läuft. Dieser fremde Typ kommt und sieht mich dabei an, als wäre ich es, die in ihm diese Gefühle erzeugt. Und als wäre das Mädchen, das zwischen seinen Beinen hockt, nur Beiwerk.
Er sinkt nach seinem Orgasmus zurück, lässt die Studentin los und lächelt mich schief an. »Gibt es in dem Loch, wo du herkommst, keine Türen?«
»Was?«, frage ich perplex.
Das Mädchen weicht vor ihm zurück, wirft mir einen schüchternen Blick zu und wischt sich über den Mund. Kniend bleibt sie vor ihm sitzen, wie es die Frauen im Trailerpark tun, wenn ihre Freier wollen, dass sie die Devote spielen.
»Ob du so etwas wie Türen nicht kennst?«, wiederholt der Schönling seine Frage und bleibt schamlos mit geöffneter Hose vor mir sitzen. »Sonst würdest du wissen, dass man anklopft, bevor man einen Raum betritt, oder?«
Jetzt, da er vollkommen unbedeckt ist, kann ich seine beachtliche Länge feststellen. Feucht und nass glänzt sein Schaft und bindet meine Aufmerksamkeit, als hätte ich nie zuvor ein männliches Geschlechtsteil gesehen.
»Und Schwänze kennst du wohl auch nicht?«
Ich beiße mir auf die Zunge und richte den Blick zur Decke. »Das ist mein Zimmer. Ich würde gerne meine Sachen reinbringen.«
Kein Laut ist zu hören. Ich versuche so zu tun, als wären die beiden nicht da, und lege meine Bücher, die ich in den Armen trage, auf das zweite Bett. Als ich mich wieder zur Tür wenden will, höre ich seine Stimme.
»Geh.«
Aus irgendeinem unbestimmten Grund weiß ich, dass er nicht mich meint. Aber ich habe ebenfalls nicht vor, zu bleiben, und greife nach der Türklinke.
»Dich meinte ich nicht.«
Mit glühend rotem Kopf drehe ich mich um, während das Mädchen – eine schlanke Asiatin in einem knappen Sommerkleid – an mir vorbeihuscht. »Das ist mir klar«, erwidere ich mit fester Stimme. »Das Letzte, was ich tun würde, ist von jemandem wie dir Befehle entgegenzunehmen.«
Der Fremde hebt eine Braue, richtet sich mit einem Schwung zu voller Größe auf und schließt seinen Gürtel. Dabei blitzen die Ringe an seinen Händen im Sonnenlicht auf. »Ist das so, ja?«, fragt er mit rauer Stimme, die in meinem Magen ein unangenehmes Kribbeln auslöst, und kommt auf mich zu.
Auch wenn ich krampfhaft nach einem Satz suche, den ich ihm an den Kopf werfen kann, rollt sich meine Zunge zusammen und ich bringe kein Wort hervor. Wieder bleibt mir nichts als Flucht.
»Das heißt, du wirst mir nicht den Schwanz lutschen, nur weil ich es dir sage?«, fragt er mit noch tieferer Stimme.
Seine Frage ist so unverschämt und sein Verhalten widert mich so sehr an, dass ich Lust bekomme, ihm wehzutun. Ich habe früh gelernt, wie man sich gegen Männer wehrt.
Doch als ich mich ein weiteres Mal umdrehe und ihn ansehe, ist es, als würde für einen Moment alles stillstehen.
Er lächelt mich unter seinen langen Wimpern hervor an und mein Herzschlag setzt aus.
Vielleicht ist das einfach nicht mein Tag. Vielleicht habe ich zu wenig Wasser getrunken oder die vielen superreichen Studenten draußen auf der Straße haben meine Synapsen verschmelzen lassen. Aber da stehe ich und kann für einen Moment nichts anderes tun, als diesen Fremden anzusehen. Es ist, als würde ein Strahlen von ihm ausgehen. Als würde er die Umgebung reflektieren wie glasklares Wasser. Seine Augen sind so blau wie das Meer und sein Lächeln so einnehmend wie ein warmer Sommermorgen. Da ist plötzlich ein Gefühl, das in mir entsteht, ein Flimmern der Sehnsucht, die Gewissheit, dass dieser Mann aus dem Märchen entsprungen ist, von dem mir meine Mom als Kind erzählt hat.
Ein Retter.
Ein Prinz.
Ein Versprechen, das ewig hält.
Sein Gesicht wirkt wie gemeißelt. Markante Wangen- und Kieferknochen geben die Form für seine gerade Nase und die sinnlichen Lippen. Er sieht wirklich aus wie ein Engel. Ein gefallener.
»Nein, werde ich nicht«, murmle ich eine Antwort auf seine Frage, die ewig her zu sein scheint. Als er einen weiteren Schritt auf mich zumacht, um die unsichtbare Grenze der höflichen Distanz zwischen uns zu überwinden, weiche ich zurück und stoße gegen die Tür.
Obwohl der Typ definitiv ein Arschloch ist, fällt es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine gesamte Statur strotzt nur so vor Männlichkeit. Seine Bewegungen sind bestimmt, sein Muskelspiel definiert und seine modische Kleidung rundet sein Erscheinen zu einem perfekten Bild ab.
Mein Mund wird trocken, als er eine Hand nach mir ausstreckt. Ich bleibe stehen, werde von der Energie erfüllt, die seine Nähe in mir auslöst, versuche mich selbst dazu zu bringen, ihn von mir zu stoßen, erwarte gleichzeitig, dass er mich packt – als er an mir vorbeigreift und die Tür erneut öffnet.
»Schade. In deinem Mund würde ich bestimmt gleich ein zweites Mal kommen.«
Ich gehe zur Seite, damit er durch die Tür gehen kann. »Träum weiter.«
»Tue ich.« Sein Lächeln weitet sich zu einem schiefen Grinsen und er zieht die Tür auf. Bevor er allerdings hindurchgeht, blickt er mich noch einmal an. Seine Miene verändert sich. Der Ausdruck auf seinen bildschönen Zügen wird abschätziger und in seinen Augen entsteht ein gefährliches Blitzen. »Wie heißt du?«
»Mable«, schießt es aus mir hervor und ich beiße mir auf die Zunge. Warum antworte ich diesem Typen überhaupt irgendetwas und behandle ihn nicht wie Luft?
»Amabelle Weaver?«, spricht er meinen vollen Namen aus.
Verwundert öffne ich den Mund. Woher kennt er meinen Namen?
»Ich bin Jaxon. Jaxon Tyrell.«
Mein Atem stockt.
»Mein Vater finanziert dir dein neues Luxusleben und ich werde es dir zur Hölle machen. So wie du aussiehst, hältst du es keine Woche durch. Vor allem nicht, wenn du mir nicht ab und an einen bläst. Überleg es dir, Belle, ob du nicht doch Befehle von mir entgegennehmen willst.« Sein Mund verzieht sich zu einem diabolischen Lächeln, bevor er die Tür ganz aufreißt, dadurch verschwindet und sie hinter sich zuknallt.
Ich wage es erst wieder zu atmen, nachdem das letzte Geräusch seines Abgangs verklungen ist. »Fuck«, murmle ich leise und versuche die Gänsehaut von meinen Armen zu reiben. Die Begegnung mit Jaxon Tyrell, dem Sohn und Erben der Tyrells, die mit ihrer Stiftung mein Stipendium finanzieren, habe ich mir anders vorgestellt. Ich wusste nicht einmal, dass er noch hier studiert. Seine Drohung hingegen versuche ich nicht allzu ernst zu nehmen. Offensichtlich gehört er zu der Sorte verwöhntes Arschloch, das zeitlebens auf alles und jeden hinabgeblickt hat.
Nachdem ich mich gesammelt – und lange genug gewartet habe, damit Jaxon reichlich Zeit blieb, zu verschwinden –, gehe ich zurück nach draußen, um meine restlichen Taschen und den Koffer zu holen.
Das Wohnheim liegt in zweiter Reihe hinter den stattlichen anderen Gebäuden des Campus. Hier, im Schatten der architektonisch beeindruckenden Häuser, ist es wesentlich ruhiger als an der Straße. Es scheint eines der Gebäude zu sein, die noch nicht vollständig saniert wurden. Zu beiden Seiten erstrecken sich hotelähnliche Apartmentanlagen mit gläsernen Balkonen, bodentiefen Fenstern und weiß gestrichenen Verzierungen an den Außenwänden.
Mein Wohnheim wirkt zwischen den aufgemotzten Bauten wie ein Schandfleck.
Absicht? Will die Kingston University deutlich machen, wer in welche Kaste gehört?
Als ich über den Kiesweg gehe, fällt mir ein Student auf, der im Schatten an der gegenüberliegenden Hauswand lehnt. Der Geruch nach Tabak strömt mir entgegen, und ich sehe in dem Moment in das Gesicht des Kerls, als auch er in meines blickt. Es ist, als wäre der Schatten um ihn herum ein Teil von ihm.
Alles, was ihn ausmacht, wirkt düster. Seine hochgekrempelte schwarze Lederjacke, die schwarzen Stiefel, die schwarzen Chinos und die schwarzen Tattoos an seinen Armen. Nicht zuletzt seine Augen, das schwarze Haar und sein Dreitagebart.
Vielleicht weil ich glaube, an der besten Universität des Landes angenommen worden zu sein, bedeute gleichermaßen, dass man von mir Höflichkeit erwartet, nicke ich ihm wie zum Gruß zu.
Aber er reagiert nicht, ascht nur ab und fixiert mich weiter, während ich an ihm vorbeigehe.
Okay , bete ich mir selbst vor. Das College ist voller Freaks. Das Wichtige ist nur, dass sie dich nicht vom Lernen abhalten.
Als ich zurück zur Straße gelange, fallen mir die vielen bunten Farbtupfer auf, die auf der Wiese verteilt liegen. Ich laufe eine ganze Weile unbehelligt daran vorbei, ohne mich zu wundern. Doch dann lese ich die weiß-schwarze Aufschrift meines Lieblingspullis auf einem der Stoffe im Gras und erkenne, dass es sich bei den vielen zerstreuten Flecken um meine Kleidung handelt.
»Verdammt!« Ich sehe mich wütend um, um denjenigen auszumachen, der für den Blödsinn verantwortlich ist. Dabei fällt mein Blick auf die Blondine, die mir vorhin in den Weg getreten ist und mich mit einem hässlichen Lachen beobachtet. Sie sitzt, umringt von ihrer Clique, auf der Motorhaube des roten Sportwagens, dicht an der Seite von Jaxon, der jetzt eine Sonnenbrille trägt und sich als Einziger nicht dafür zu interessieren scheint, was mit meinen Sachen passiert.
Ich verdrehe die Augen, weil der Prank so unfassbar kindisch ist, und fange an, meine Kleidung aufzusammeln. »Megawitzig!«, rufe ich der Gruppe zu, nachdem ich alles beisammen habe und zurück in meine Tüte stopfe. »Das Niveau für den Kindergarten habt ihr schon mal erreicht, was? Dumm nur, dass das hier das College ist.« Da ist er, der einigermaßen coole Spruch, der mir locker-leicht über die Lippen kommt. Doch im nächsten Moment wünsche ich mir, ich hätte einfach weiter meine Klappe gehalten.
Das blonde Püppchen löst sich von Jaxon und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Ihre ansehnlichen Lippen sind vor Ekel verzogen und in ihren Augen steht blanker Hass. »Du bist nichts als Dreck, genauso wie deine Billig-Ramschkleider. Wir können nichts dafür, wenn sie uns anflehen, ihnen die Beerdigung zu geben, die sie verdienen. Bevor sie weiter von dir getragen werden müssen.«
Ich greife nach meinem Koffer und ignoriere sie.
»Kehr um, Bitch!«, ruft sie mir hinterher. »Du und deine stinkenden Klamotten werden niemals hierhergehören!«
Gelächter verfolgt mich bis über die Wiese. Ich werde so wütend, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten, weil ich mit voller Kraft den verschissenen Koffergriff umklammere. Was haben diese reichen Kids davon, mich so zu behandeln? Wie kann man darauf aus sein, ein so lächerliches Klischee zu bedienen? Als kämen sie direkt aus einer Netflix-Serie über Mobbing an Eliteschulen und hätten es ausgerechnet auf mich abgesehen.
Toll.
Wenn die nächsten vier Jahre wie eine Netflix-Serie ablaufen werden, bin ich am Arsch.
Zwei Schritte später und der Griff meines Koffers reißt plötzlich. Argh! Langsam wird meine Ankunft am College zur reinen Tortur. Ich schleife meinen Koffer weiter hinter mir her und begegne dabei wieder dem Blick des Typen im Schatten. Er lehnt noch immer an der Hauswand. Noch immer rauchend. Noch immer fast regungslos.
»Danke für deine Hilfe!«, rufe ich ihm wütend zu.
Er reagiert nicht einmal.
»Arschloch«, murmle ich und kämpfe mich bis zum Wohnheim vor. Es wundert mich nicht mehr, dass mir niemand hilft. Ich scheine in eine Parallelwelt der Reichen geschlittert zu sein, die in mir die Verkörperung des unwürdigen Proletariats sehen. Mühselig schleppe ich den Koffer die Stufen zur Wohnheimtür hinauf. Er entgleitet mir im letzten Moment. »Shit«, fluche ich den Tränen nahe und sehe meinen wenigen Sachen, die ich mit zum College genommen habe, dabei zu, wie sie die Treppe hinunterpurzeln.
»Oh no!« Eine schrille Stimme von rechts und eine Frau stürzt vor, versucht die vom Wind aufgewirbelten Blätter und Ausdrucke, die ich für meine erste Vorlesungswoche vorbereitet habe, einzusammeln, bevor sie auf dem Rasen landen.
»Ist schon gut, danke.« Ich nehme ihr die Blätter aus der Hand und will mich abwenden. Heute erwarte ich nicht mehr, dass jemand grundlos nett zu mir ist.
»Das tut mir wirklich total leid mit deinem Koffer.« Die Fremde bückt sich erneut und sammelt den Inhalt meines Kulturbeutels auf. »Mir ist mal mein Koffer eine Rolltreppe runtergestürzt. In Paris, in der Metro. Die haben ellenlange Treppen dort, und am Ende ist er komplett aufgeplatzt und meine ganzen Souvenirs sind am Boden zersprungen. Das klang wie eine billige Ausrede, als ich das meinen Freunden erklären musste.« Sie richtet sich wieder auf und drückt mir die gefüllte Kulturtasche in die Hand. »Hi, ich bin Harper.«
»Mable«, entgegne ich schüchtern und sehe sie erst jetzt richtig an.
Ihre haselnussfarbenen Augen weiten sich, als sie meinen Namen hört, und ihre vollen Lippen öffnen sich leicht. Ihr gesamtes Äußeres ist bezaubernd wie das einer Elfe. Langsam komme ich mir vor wie auf einem Laufsteg, auf dem kein Platz für mich ist. Wie kann jede einzelne Person auf diesem Campus hübsch sein? Harpers dunkelblonde Locken legen sich zauberhaft um ihr schmales Gesicht, und ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass sie jemals etwas Fieses tun könnte. Lass dich nicht von ihrem Aussehen blenden … »Das ist ein wahnsinnig schöner Name«, sagt sie andächtig und wiederholt ihn. »Mable .« Wenn sie ihn ausspricht, klingt er um einiges schöner, als ich es gewohnt bin.
»Eigentlich heiße ich Amabelle, aber …«
»Mable ist schöner, definitiv.«
»Danke.« Ich wende mich ab, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, und stopfe alles, was ich gerade aufgesammelt habe, in meine Tüten.
»Ich habe dir deine Sachen mitgebracht.«
»Hm?«
Harper zeigt auf meinen Rucksack und eine weitere meiner Taschen, die ich vorhin am Bürgersteig zurückgelassen habe, weil ich nicht alles auf einmal tragen konnte.
»Du hast sie den ganzen Weg hierhergetragen?«, stelle ich verdutzt fest.
»Ich wollte helfen.« Harper zwinkert und wischt sich eine Locke aus dem Gesicht. »Ich weiß, das tun nicht viele hier. Die meisten sind einfach verwöhnte Bonzen. Ich studiere im zweiten Jahr und habe schon zu oft dabei zusehen müssen, wie ihr fertiggemacht wurdet. Also bin ich dieses Mal zur Stelle.« Sie strahlt mich an, und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Das ist nett von dir …«
»Nett? Ich stürze mich für dich vor die bissigen Löwen! Das ist nicht nett! Ich bin todesmutig!« Sie lacht ein glockenklares Lachen, schultert meine Tasche, den Rucksack und hält mir die Tür auf. »Ich komme mit rein. Und nachdem du das Gröbste ausgepackt hast, gibt es eine Campustour.«
Ich will sie nicht vor den Kopf stoßen und zugeben, dass ich nach allem lieber allein wäre, also folge ich ihr wortlos in mein neues Wohnheimzimmer.
Harper bleibt für eine Weile mitten im Raum stehen, bevor sie schwer seufzt. »Na, wenigstens kannst du es alleine bewohnen, oder?«
»Kann ich?«, frage ich verdutzt.
»Die untere Etage hat zehn Zimmer. Ihr seid fünf Stipendiatinnen. Die höheren Semester werden in Verbindungen aufgenommen, zumindest wurden sie das bisher. Ja, ich glaube, bis auf die Bettwanzen unter der Decke bist du hier drin allein.«
Mein Blick schnellt nach oben, aber Harper lacht wieder.
»Nur ein Scherz. Bettwanzen sollte es hier keine geben. Aber … na ja.« Sie legt meine Sachen auf dem linken Bett ab und lässt sich daneben auf die Matratze sinken. Das Wohnheimzimmer ist klein, aber für eine einzige Person großzügig und bietet mehr Platz, als ich mir jemals erträumt hätte. Das Fenster zeigt zum Park hinaus und neben den zwei Betten stehen jeweils zwei Schreibtische und zwei Schränke. Der gesamte Raum schreit für mich nach Luxus. »Wo kommst du her, Mable?«
»Aus Woodlyn, Philadelphia.«
»Oh, das ist gar nicht so weit weg. Wirst du am Wochenende öfter nach Hause fahren?«
»Vielleicht …«, weiche ich aus. Die Wahrheit ist: Ich sollte jedes Wochenende nach Hause fahren, um nach meiner Mom und meiner Schwester zu sehen. Aber ich bin auch froh, dem Trailerpark entkommen zu sein. Solange ich meiner Mom Geld schicke, wird sie mich sowieso nicht vermissen.
»Soll ich dich alleine lassen?«, fragt Harper mich geradeheraus. Sie hat sich mit den Händen nach hinten abgestützt und die Beine überschlagen. Mit dem einen wippt sie auf und ab. Auch wenn ich am liebsten Ja sagen würde, schüttle ich den Kopf.
Vielleicht kann sie mir erklären, was gerade passiert ist. Wieso ich kaum eine Stunde auf dem Campus bin und schon das Gefühl habe, die elitäre Schicht der Universität hätte sich gegen mich verschworen.
»Super. Hatte ich nämlich auch nicht vor.« Harper springt auf und verschränkt die Hände ineinander. »Soll ich dir beim Auspacken helfen oder möchtest du das später machen? Ich könnte dich herumführen. Bis heute Abend um sechs habe ich Zeit.«
»Eine Tour wäre super«, gebe ich zu und muss ebenfalls lächeln, weil Harpers Strahlen ansteckend ist.
Sie hakt sich bei mir unter und führt mich aus dem Zimmer. »Das hässlichste Gebäude auf dem Campus kennst du nun ja bereits. Es darf bei einer anständigen Tour nicht fehlen. Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob sie das letzte Wohnheim auch noch renovieren, aber jedes Mal streiten sie darüber, ob es nicht besser abgerissen werden sollte.« Sie bleibt mitten im Flur stehen und zeigt nach oben. Eine feine Linie aus Verzierungen läuft an den Wänden entlang. »Siehst du? Sie sagen, das Gebäude sollte unter Denkmalschutz gestellt werden. Jefferson soll hier drin gewohnt haben.«
»Der Präsident?«
»Genau der. Sie haben schon die Wohnheime, in denen die anderen neun Präsidenten der Kingston-Ära studiert haben, abgerissen. Das Jefferson-Haus soll wohl bleiben.« Sie führt mich weiter zur Tür hinaus und schlägt nach rechts ein. Im Gegensatz zu mir, die nicht mehr als einen einfachen Pullover und bequeme Leggings trägt, ist sie komplett zurechtgemacht. An ihren Handgelenken klimpern goldene Kettchen, ihre weißen Sneaker sind mit Emblemen verziert, ihre Jeans sieht aus, als wäre sie an ihre schlanken Beine gegossen, und ihr Oberteil trägt einen überdeutlichen Fendi-Aufdruck. »Das hier ist das Physiker-Gebäude. Zwei Hörsäle, ein paar Übungsräume und das physikalische Labor.« Harper bleibt vor einem der vielen architektonisch glanzvollen Gebäude stehen, die rund um die kreisförmige Grünfläche gebaut wurden. Der Campus ist riesig, an vielen Stellen verwinkelt und erinnert mehr an das Schloss aus Harry Potter, als an eine moderne Universität. Nur dass es nicht auf einer Bergspitze gebaut wurde, sondern inmitten eines unendlich scheinenden Waldes. Der Wald, den man von allen höheren Stockwerken aus sehen kann und Kingston wie ein Schutzwall umgibt, sorgt nicht nur für schlechten Handyempfang, sondern auch für eine stets mystische Atmosphäre, selbst wenn wie heute die Sonne scheint. Ich habe mir eine Karte ausgedruckt, sie auswendig gelernt und bin trotzdem sehr dankbar für eine Führung. »Weißt du, mich hat Physik bisher am meisten interessiert. Vielleicht sollte ich mein Hauptfach wechseln.«
Wir laufen durch einen Lichthof, der die Physikfakultät mit weiteren Hörsälen verbindet. Alle Bänke und Laternen, die zwischen den ordentlich gestutzten Rasenflächen stehen, sind mit metallenen Ornamenten verziert, als handle es sich dabei um besonders wertvolle Möbelstücke.
»Was studierst du?«, frage ich Harper.
»Jura«, sagt sie und steckt sich den Finger in den Mund. »Mein Vater ist der oberste Richter des Supreme Courts.«
»Wow, dein Vater ist Robert Mitchell?«
»Ja, und da ist der Studiengang leider so eine Art Familientradition.« Sie seufzt und führt mich weiter. »Was ist dein Hauptfach?«
»Wirtschaft. Aber ich werde versuchen, so viele Kurse in Philosophie wie möglich zu belegen.«
»Uh, interessant. Die Philosophie des Erfolgs. Eigentlich eine ziemlich überlegte Kombi.«
»Es reizt mich, zwei gegensätzliche Disziplinen zu verbinden.«
»Würdest du sagen, Geld und Philosophie sind gegensätzlich?« Harper überlegt für einen Moment. »Ist es nicht einfach nur so, dass die Philosophie das Geld erklärbar macht? Eigentlich hat Geld ja gar keinen Wert, weil es nur Papier ist … Ach nein, das ist dann Psychologie. Psychologie ist auch ein echt cooles Fach.«
Ich setze zu einer langen Antwort an, merke aber, dass sie eine rhetorische Frage gestellt hat und gedanklich bereits beim nächsten Thema ist.
»Die Bibliothek.« Wieder bleibt Harper stehen und breitet die Hand aus. »Kein Student, der noch alle beisammen hat, lernt dort. Daher ist es der perfekte Ort, um allen aus dem Weg zu gehen.«
»Verstehe.«
»Weißt du, Mable«, beginnt sie nach einer Weile, nachdem sie mir die anderen Gebäude gezeigt hat und mit mir durch den Lichthof des Hauptgebäudes mit all seinen alten, Ehrfurcht vermittelnden Hörsälen hindurchmarschiert ist. »Ich würde die Tour auf dem Campus ja gerne bei der Kantine enden lassen, aber vorher muss ich dir etwas anderes zeigen.« Sie führt mich eine steinerne geschwungene Treppe hinauf, an deren Ende mehrere gekrönte Steinlöwen auf uns warten, und betritt einen langen Flur, der durch die hohen, verzierten Decken wie ein Saal wirkt. An den Wänden hängen Bilder, anfangs gewaltige Gemälde, schließlich vergilbte Fotografien und dann brillant, scharf gestochene Aufnahmen. Es sind ausschließlich Männer darauf zu sehen. Weiße, junge Männer, die vor einer holzvertäfelten Wand wie in einem Jagdschloss posieren. »Der Flur der Weisen«, sagt Harper abfällig und bleibt mit mir vor dem letzten Bild stehen. »Das sind sie.«
Es braucht einen Augenblick, bis ich den Mann, der auf der letzten Fotografie mit zwei anderen rund um einen Sessel posiert, erkenne. Jaxon.
»Merk dir all diese Gesichter, Mable, und halt dich von ihnen fern. Halt dich so weit fern, wie du nur kannst.«
Ich bin versucht, ironisch zu fragen, was sonst passieren würde, aber ich kann mir die Antwort denken. Drei der vier Männer sehen aus, als wären sie Raubtiere und würden nach etwas dürsten. Jaxon Tyrell steht da, die Hand gönnerhaft auf die Lehne eines Stuhls gelegt, der ein Thron sein könnte.
Sein kaum sichtbares Lächeln ist das eines Teufels, der sich hinter engelsgleicher Schönheit verbirgt und es in vollen Zügen genießt, der Herrscher über die Hölle zu sein. Tyrells Augen strahlen wie Opale, die spitz und scharf auseinanderbrechen werden, wenn man ihn verärgert. Seine Lippen sind sinnlich und schön wie ein verbotener Apfel im paradiesischen Garten. Das ebenmäßige Gesicht sendet Güte und Offenheit aus, aber ich weiß, dass seine helle Haut und das dunkelblonde Haar nur darüber hinwegtäuschen, wie schwarz sein Innerstes ist. Es ist, als würde die Fotografie mit mir sprechen, als wäre sein Geist in das Bild gebannt. Ich habe ihn erst wenige Minuten erlebt, und doch geht mir seine Drohung, das raue Klingen seiner Worte und das Bild, wie er einen Blowjob bekommt, nicht aus dem Kopf.
Ich weiß schon jetzt, dass ich mir Harpers Tipp zu Herzen nehmen und mich von ihm fernhalten werde. Ich muss kein zweites Mal in den Genuss seiner Arroganz kommen.
Obwohl Jaxon das Zentrum der Fotografie bildet, sitzt ein anderer auf dem roten Polster. Ein junger Mann, der meine Aufmerksamkeit noch etwas länger bindet als der grausame Engel an seiner Seite. Wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich bei dem schwarzhaarigen Mann um den Kerl, der vorhin in der Nähe meines Wohnheims im Schatten geraucht hat.
Auf der Fotografie wirkt er um einiges weniger düster. Fast fromm. Nicht ein einziges Tattoo ist unter seinem schicken Anzug zu sehen und seine Augenränder sind heller als heute Mittag. Ich empfinde so etwas wie Neugierde, weil ich sein reales Äußeres gerne mit dem auf dem Bild zusammenbringen würde.
»Sylvian Silvano«, flüstert Harper in meinen Nacken. »Der Typ auf dem Stuhl. Und Jaxon Tyrell, gleich neben ihm. Und das hier ist Reece Crescent.« Sie zeigt auf den Mann links des thronartigen Stuhls. Sein Haar ist um einiges heller als das von Jaxon und seine Schönheit noch makelloser. Wenn Jaxon der gefallene Engel ist, ist Reece der, der noch immer im Himmel schwebt. Er ist der Einzige, der auf dem Bild breit und freundlich lächelt, was ihn von den anderen abhebt. Als würde er gar nicht wirklich dazugehören. Als wäre er viel zu nett für das, was Jaxon heute zu mir gesagt hat.
»Wer ist der Typ ganz hinten?«
Harper seufzt. »Romeo.«
»Er heißt Romeo?«, frage ich mit einem Kichern und räuspere mich schnell. Harper wirkt eine Spur zu ernst für Scherze.
»Vergleich ihn nicht mit Julias Romeo. Romeo Portcharles ist wie ein schneidendes Messer. Eine lebendige Waffe. Den anderen solltest du aus dem Weg gehen. Vor Romeo musst du fliehen.«
Auf ihre Worte hin fröstelt es mich. Neben den drei schönen Gesichtern wirkt Romeo im Hintergrund unscheinbar. Sein Haar ist dunkel wie das von Sylvian, doch seine Haut ist milchig und seine Augen sind matt.
»Jaxon, Sylvian, Reece und Romeo. Sie regieren den Campus. Sie bestimmen seit drei Jahren über alles und jeden. Selbst die Professoren tun, was sie sagen. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie die Stipendiatinnen hassen. Weil Jaxon seinen Vater hasst und dieser die Stiftung gegründet hat, von deren Geld eure Stipendien bezahlt werden.« Harper dreht sich zu mir um und blickt mich ernst an. »Mable, es tut mir leid, wenn ich dir das so offen sage, aber bisher hat kaum eine der Stipendiatinnen das erste Studienjahr überstanden.«
Ich hebe eine Braue. »Was?«, frage ich nur.
»Das Stipendienprogramm läuft im vierten Jahr. Von den fünfzehn Frauen, die hier mit einem Stipendium angefangen haben zu studieren, sind noch drei da. Lass dich nicht von ihnen unterkriegen, ja?« Harper betrachtet mich besorgt und wieder fällt mir keine passende Erwiderung ein.
»Was müssen die Studenten tun, um auf einem dieser Bilder zu landen? Besonders fies sein?«
Harper bleibt noch immer ernst. »Mit den besten Noten abschließen.«
Sie sind also fies und intelligent. »Gibt es so einen Gang auch für Frauen?«
»Nein.«
»Frauen werden bei gleicher oder besserer Leistung nicht auf ein Foto gedruckt …?«
Harper verzieht das Gesicht. »Das ist Kingston. Sei einfach froh, dass sie uns überhaupt hier studieren lassen.«
Ich hebe beide Brauen, sage aber nichts mehr. Bei allem, was ich über die Universität gelesen habe, ist mir nicht ein schlechtes Wort über sie untergekommen. Ja, Kingston ist konservativ eingestellt und politischer Aktivismus findet auf dem Campus so gut wie nicht statt. Dafür achten sie auf eine strikte Frauenquote und fördern Studenten egal welcher Herkunft – solange sie genügend Geld haben.
»Du glaubst, ich erzähle Blödsinn, oder?«, fragt Harper mich und dreht sich von der Wand weg hin zu der schweren Flügeltür, die am Ende des Ganges in den nächsten Raum führt. »Ich hoffe, dass du das auch noch glaubst, nachdem du die ersten Wochen überstanden hast. Vielleicht wird dieses Jahr alles anders, hm?«
Nervös wringe ich die Finger. Was Harper anzudeuten versucht, klingt nicht besonders berauschend. »Was genau ist passiert, dass so viele Stipendiatinnen das Studium wieder aufgegeben haben?«
Harper lächelt bitter. »Viel. Hör auf meinen Rat und halt dich von den Kings fern. Dann wird es leichter.«
»Den ›Kings‹?«, frage ich schmunzelnd.
»Den Kings«, wiederholt Harper ernst. Ein paar Sekunden verstreichen, in denen die Stille des leeren Ganges den Nachhall ihrer Worte verstärkt, bis sie plötzlich wieder strahlt. »Und? Lust auf einen Kaffee? Ich lad dich ein!«