Vier
Mable
D ie anderen Stipendiatinnen sind nett. Wir haben uns beim Frühstück in unserer Gemeinschaftsküche sofort verbündet. Es tut gut, über Clarisse und die ›Kings‹ zu lästern. Etwas macht uns alle gleichermaßen aus: Uns hat die harte Arbeit hierhergebracht und nicht das Einkommen unserer Eltern. Neben guten Sprachkenntnissen in zum Beispiel Russisch, Deutsch, Chinesisch oder Japanisch ist ein Jahr Mitarbeit in einem sozialen Projekt Pflicht. Da wir uns diese Mitarbeit wie die anderen Studenten nicht einfach erkaufen konnten, hat jede von uns etwas Spannendes darüber zu erzählen, was sie nach der Highschool gemacht hat. Alle männlichen Bewerber müssen außerdem ein oder sogar zwei Jahre Militärdienst nachweisen, was ich für ziemlich veraltet halte, auch wenn es den Umstand mit sich bringt, dass so gut wie kein Freshman in seinem ersten Studienjahr unter neunzehn ist.
Die Einzige, die sich von den Erstsemestern nicht zu unserer Runde gesellt, ist Lien. Zwar haben wir sie gesehen, als sie aus ihrem Zimmer gekommen ist, aber sie hat weder mit mir noch mit den anderen gesprochen. Ich habe es vermieden, zu erzählen, wobei ich sie mit Jaxon erwischt habe, auch wenn ich mich die ganze Zeit über gefragt habe, was sie dazu veranlasst hat. Und warum ausgerechnet in meinem Zimmer? Kennt sie Jaxon? Oder musste der ›King der Universität‹ nur hereinspazieren und sie ist vor ihm auf die Knie gefallen? Hat er sie erpresst? So wie er mir gedroht hat? Vielleicht glaubt Lien, dass sie tun muss, was er verlangt, wenn sie das Stipendium behalten will …?
Dieser Gedanke macht mich am wütendsten von allen, und ich werde das Bild vor meinem inneren Auge nicht los. Das Bild von einem Jaxon, der selbstgefällig dasitzt und sich einen blasen lässt, während Lien ängstlich vor ihm hockt und schluchzt.
Jaxons Grinsen verfolgt mich bis in die Dusche, auf die ich vor dem Frühstück verzichtet habe, um den anderen den Vortritt zu lassen. Ich wünschte, ich könnte die Erinnerung an Jaxon einfach abschütteln, aber es wird mit der Hitze des Wassers nur extremer. Am Ende spüre ich seine körperliche Präsenz fast auf mir, wie er mich mit diesem teuflischen Grinsen gegen die Duschwand drückt und mich berührt. Seine Lippen wandern an mein Ohr, sind lüstern und heiß, und ich erliege seinem grausamen Fantasiebild.
Fuck. Nicht nur er taucht auf. Da ist auch Sylvian. Sylvian, so nah und bedrohlich, und der Geschmack seiner Lippen wandert in meinen Mund. Wie wäre es wohl, wenn beide hier mit mir in der Dusche wären? Wenn sie mich beide nacheinander nehmen …?
Meine Finger gleiten ganz automatisch zwischen meine Beine, und nur der Gedanke daran, dass ich mich in einer Gemeinschaftsdusche befinde, lässt mich mein Stöhnen zurückhalten.
Wie viele Mädchen denken an die Kings , wenn sie es sich tun? Und wie viele stellen sich vor, dass sie mit mehr als einem von ihnen etwas haben?
Ich weiß, dass ich nur eine von vielen bin. Eine von Tausenden, die ihrem Charme, ihrem Äußeren und ihrer unwiderstehlichen Arschlochart verfallen. Aber trotzdem lasse ich es zu. Lasse das wunderschöne Prickeln durch meinen Körper gleiten, während ich mir vorstelle, wie sie mich nacheinander berühren und küssen.
Verdammt. Wie verdorben bin ich wirklich?
Ich stelle die Dusche kalt und ziehe mich so schnell wie möglich an.
Gemeinsam laufen wir hinüber zum Hauptgebäude. Teil einer Gruppe zu sein, ist so viel angenehmer, als allein vor Clarisse zu stehen. Wir betreten die breite Treppe des Hauptgebäudes, als wären wir ein Team, und die Blicke der anderen Studenten werden erträglich.
Ich habe das Gefühl, dass sie uns wie Aussätzige betrachten. Wie Aliens, die es wagen, auf ihrem Campus einzufallen. Aber ich versuche diese unterschwellige Ahnung zu verdrängen. Es interessiert mich nicht, ob mich jemand mag oder nicht mag.
Verdammt, ich wurde in Kingston angenommen.
Es gibt nichts, was mehr für mich zählt.
Nichts, was mir mehr bedeutet als das.
Wir setzen uns nebeneinander in die dritte Reihe.
Als sich der Raum allmählich füllt, rückt Harper von der anderen Seite neben mich.
»Hi, Bella«, zwitschert sie mir zu und stellt einen von zwei Kaffeebechern auf meinen Platz. »Es gibt bestimmt keine gute Kaffeemaschine bei euch im Wohnheim, oder?« Sie lächelt mich breit an, und wieder fällt mir auf, wie hübsch sie ist. Ihre rosa Wangen leuchten und ihr goldener Schmuck fasst ihr liebreizendes Gesicht perfekt ein. Sie trägt eine schmale goldene Uhr und ein lockeres Shirt, auf dem die riesige Aufschrift Prada prangt. An jedem einzelnen ihrer Finger steckt ein Ring und sie hat ihre Nägel seit gestern neu lackiert.
In einem pinken Quietschton.
»Ist das hier nicht die Einführungsveranstaltung?«, frage ich sie.
»Natürlich. Aber wer soll dir erklären, wie es wirklich abläuft, wenn nicht ich?« Ihr verschwörerisches Lächeln lässt mich für einen Moment stutzen. Warum ist Harper so nett zu mir? Lebt sie eine Art Helfersyndrom aus? Will sie sich selbst beweisen, dass sie auch mit armen, mittellosen Stipendiatinnen befreundet sein kann?
Schnell wische ich diese Gedanken beiseite, greife nach dem Kaffee und bedanke mich mit einem Lächeln. Vielleicht bin ich Harper sympathisch, so wie sie mir sympathisch ist.
Ich muss nicht in allem eigennütziges Kalkül sehen, nur weil ich es von zu Hause so gewöhnt bin.
»Schau mal, du bist im selben Jahrgang wie Ashley Cohen.« Sie nickt zu einer neuen Studentin, die gerade in der rechten Tür des riesigen Hörsaals erschienen ist. »Ich habe gehört, sie wird abwechselnd ein Semester studieren und ein Semester vor der Kamera stehen. Ist sie nicht atemberaubend?«
Auch wenn ich noch keinen ganzen Film mit ihr gesehen habe, erkenne ich Ashley Cohen, eine der bekanntesten Nachwuchsschauspielerinnen Hollywoods. »Verdient sie nicht genug Geld mit ihren Filmen? Warum studiert sie nicht Schauspielerei in Hollywood?«
»Tja.« Harper streicht einen Teil ihrer langen Haarmähne hinters Ohr. »Du studierst nicht in Kingston, um irgendwann Geld zu verdienen.«
»Sondern …?«, hake ich nach.
»Das wirst du noch früh genug verstehen.« Harper greift nach ihrem Kaffeebecher, nippt daran und scheint nicht daran interessiert, mir mehr zu erzählen.
Ich überlege, ob ich ihr von Sylvians Warnung berichte, aber irgendetwas in mir lässt mich daran zweifeln, ob ich Harper vertrauen kann. Sie beide sprechen in kryptischer Sprache. Du studierst nicht in Kingston, um irgendwann Geld zu verdienen. Hierbei geht es nicht ums College oder um ein paar Studenten. Es geht um etwas viel Größeres.
Werde ich gerade gehörig von zwei elitären Studenten verarscht? Erlauben sich Sylvian und Harper beide einen üblen Scherz mit mir?
Nachdenklich beobachte ich Ashley Cohen dabei, wie sie sich in die vorderste Reihe setzt und ein MacBook öffnet. Auch wenn mir ihr Profil von Trailern und Filmplakaten bekannt ist, wirkt sie wie eine gewöhnliche Studentin, die auf ihre erste Veranstaltung wartet. Was könnte der Grund für sie sein, hier zu studieren, wenn es nicht um Geld geht?
Ich weiß, dass es mir persönlich ums Geld gehen sollte. Meine Mom hat ihr ganzes Leben in einem Trailerpark verbracht und ich musste sie zusammen mit meiner Schwester zurücklassen. Geld bedeutet für mich alles. Freiheit, Sicherheit, Unabhängigkeit, Gesundheit und Frieden. Ich hätte auch jedes andere College besucht. Hauptsache, ich würde nach vier Jahren einen gut bezahlten Job finden, der meine Schwester und mich endlich aus dem Elend des Mobilhauses befreit, in dem wir zu dritt auf engstem Raum leben. Dass mich ausgerechnet die Kingston Universität angenommen hat und mir ein Vollstipendium zugesichert wurde, erfüllt mich mit tiefster Dankbarkeit. Dass auch Stars und Sternchen wie Ashley hier studieren würden, war mir im Vorhinein gar nicht bewusst.
Ich weiß nur, dass fast jeder zweite Präsident der Vereinigten Staaten zuvor in Kingston war. Und dass so gut wie alle hohen Positionen in der Politik und den Vorstandsverbänden der Wirtschaft mit Kingston-Absolventen besetzt sind. Ist es das, ›worum es geht‹? Studiert man in Kingston, um an die ›Macht‹ zu kommen?
»Du solltest weniger grübeln.« Harper stupst mich an, sodass ich beinahe meinen Kaffee verschütte. »Schau mal. Reece ist da. Gleich geht es los.«
Bei dem Namen Reece horche ich auf. Ich habe nicht vergessen, dass er einer derjenigen ist, die mir Harper gestern auf dem Foto gezeigt hat. Ein weiterer der Kings . Als er allerdings nach vorne zum Pult geht, seine mitgebrachten Blätter ordnet und erwartungsvoll zu uns in die Menge blickt, ist alles Schlechte, was ich je über ihn gehört habe, aus meinem Gedächtnis gelöscht.
Reece Crescent ist heiß wie flüssiges Gold. Meine Finger verkrampfen sich um den Becher in meiner Hand und ich versuche mehrmals zu schlucken. Es ist, als würde ich einer Statue ins Gesicht blicken. Einem makellosen Muster menschlicher Existenz.
»Er ist höllisch attraktiv, nicht wahr?«, flüstert Harper mir zu.
Ich bin nicht der Typ Frau, der seiner Freundin jede innere Gefühlslage offenbart, aber ich kann auch nicht lügen. Also nicke ich und versuche mich hinter meinem Kaffee zu verstecken.
»Hallo und herzlich willkommen an der Kingston Universität.« Reece’ Stimme ist wohlklingend wie eine sanfte Sommerbrise und schickt Wärme mitten in meinen Bauch. Seine Kleidung ist schlicht, aber edel. Er trägt eine hellbeige Jeans und einen roten, engen Pullover, der seine trainierte Körperstatur betont. Seine Augen sind blau, wenn auch nicht ganz so eisig wie die von Jaxon, und sein Gesicht strahlt pure Männlichkeit aus.
Die Art von Männlichkeit, die man seinen Eltern vorstellen möchte. Diese Art, die man heiraten will. Und für die man zu einer Hausfrau werden würde, die ihrem Ehemann alles hinterherträgt, wenn es nötig wäre.
»Okay, Mable«, flüstert Harper mir zu. »Du musst aufhören, ihn so anzustarren. Denk daran, was ich dir gestern erzählt habe. Reece gehört zu den Kings, ja? Und die Kings sind die letzten Arschlöcher. Du musst dich von ihnen fernhalten, auch wenn das jetzt nicht so rüberkommt, weil er nett ist.«
Mhm , denke ich, kommt überhaupt nicht so rüber.
»Ich hoffe, ihr freut euch aufs College«, führt Reece weiter aus. »Darauf, endlich hier zu sein. Ich studiere im Seniorjahr und werde euch während der Einführungswoche begleiten. Außerdem werden alle, die im Studium Generale Lineare Algebra belegen, eine meiner Übungen besuchen. Gewöhnt euch also schon einmal an mein Gesicht.« Er lächelt und ich freue mich schon jetzt auf Mathematik. »Euch stehen vier harte Studienjahre am College bevor. Und wenn ihr euch qualifiziert, könnt ihr einen zwei- bis dreijährigen Master anschließen. Was ich euch dringend empfehlen würde, denn zurzeit sind über die Hälfte der Senatoren in Washington Kingston-Abgänger. Und ich kenne kein börsennotiertes Unternehmen, das ohne einen Spitzenabsolventen aus Kingston auskommt. Aber auch das College ist eines der anspruchsvollsten auf der Welt. Vorbereitung und Vernetzung im Vorhinein wird also nicht schaden. Nach dieser Woche werdet ihr keinen Tag Freizeit mehr haben, glaubt mir. Nutzt also die Gelegenheit und lernt einander kennen. Und lernt alles kennen, was diese Universität zu bieten hat, damit ihr in Zukunft so effizient wie möglich mit eurer Zeit umgehen könnt.«
Ich hänge an Reece’ Lippen und lausche dem wohligen Klang seiner Stimme. Es ist, als würden seine Worte mich einlullen und davontragen, und es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Als ich mich nach zehn Minuten umsehe, bemerke ich, dass es nicht nur mir so geht. Ein Stich der Eifersucht bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Reece kann jede aus diesem Hörsaal haben. Vermutlich sogar einige der Männer. Ich brauche nicht eine Minute damit zu verschwenden, ihn anzuschmachten wie eine besonders fette Schokotorte. Es ist viel wichtiger, dass ich mich darauf konzentriere, was er uns erzählt.
»Seine Mutter ist die Erbin eines schwedischen Modelabels«, raunt mir Harper nach einer Weile zu. »Die Crescents sind die Koryphäen im Design. Du trägst heute das, was sie sich gestern ausgedacht haben. Vergiss all die teuren Marken wie Dolce oder Chanel. Die Crescents sind reicher als sie alle zusammen.«
»Warum erzählst du mir das?«, frage ich mit einem wehleidigen Lächeln und bringe Harper damit zum Lachen. »Mach ihn ruhig noch interessanter.«
»Es ist gut, seinen Feind zu kennen. Reece ist ein verwöhntes Rich Kid, der noch nie für irgendetwas wirklich arbeiten musste. Er hält diese Veranstaltung nur, weil er dabei die Mädchen abcheckt, die er in der ersten Woche vögeln wird. Trau seinem unschuldigen Lächeln nicht, Mable. Er wird dich zerstören, wenn er will. Und ich werde da sein, um dich vor ihm zu beschützen.«
Ich sehe sie fassungslos an. Von was bitte spricht sie? Sie klingt fast noch schlimmer als Sylvian!
Auch nach der Veranstaltung komme ich nicht dazu, Harper zu löchern. Denn kaum hat Reece seine Ansprache beendet, ruft er Harper zu sich. Sie schenkt mir ein Augenrollen, bevor sie zu ihm nach vorne geht.
Ich folge den anderen Stipendiatinnen nach draußen.
Dort, an der Wand in der Eingangshalle, lehnt Jaxon, umringt von seiner ihn anhimmelnden Clique. Er fixiert unsere Gruppe und ich fühle mich schlagartig unwohl.
»Geht schon einmal vor«, sage ich den anderen Stipendiatinnen und bleibe bei der Tür zum Hörsaal zurück, um auf Harper zu warten. Dass Reece mit ihr sprechen will, macht mich nervös. Wie gut kennen die beiden sich? Kann ich ihrem Urteil über die Kings trauen? Aber wieso sonst sollte sie mich vor ihnen warnen?
»Bis gleich, Mable!«, ruft mir Rachel zu und bindet im Gehen ihre roten Haare zusammen. Sie folgt dem Strom der anderen hinaus, während ich zurückbleibe.
Da Jaxon und seine Clique mich weiterhin fixieren, halte ich es für besser, wieder zurück in den Hörsaal zu gehen. Der Raum ist groß genug, sodass ich von dem Gespräch, das Reece mit Harper führt, nichts mitbekommen werde, solange ich mich in der Nähe der Tür aufhalte.
Als ich allerdings eintrete, unterbreche ich die beiden nicht beim Reden. Reece hat Harper gegen die Tafel gedrängt, seine Hand lässig neben ihren Kopf gestützt, und keilt sie mit seinem anderen Arm ein. Sie steht eingeschlossen da, die Hände zu Fäusten geballt und einen trotzigen Ausdruck im Gesicht.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen, nicht sicher, ob ich sehen sollte, was hier geschieht. Die beiden wirken so intim … Sind sie zusammen? Will Harper deshalb, dass ich mich von den Kings und damit auch von Reece fernhalte?
Beide drehen gleichzeitig die Köpfe in meine Richtung. Es ist, als würde heißes Feuer auf meiner Haut lodern, als ich Reece’ interessierten Blick auf mir spüre. Er betrachtet mich derart intensiv, dass ich am liebsten hinauslaufen würde.
Scheiße. Ich bin das wirklich nicht gewöhnt, dass mich attraktive Männer abchecken. Ist das etwas Gutes? Oder sind sie genauso pervers und billig wie die Typen aus der Gegend, in der ich aufgewachsen bin?
»Lass mich in Ruhe, Crescent«, zischt Harper und drückt seine Hände beiseite. Er lässt es geschehen, weil seine Aufmerksamkeit längst nicht mehr bei ihr zu sein scheint. »Und lass Mable in Ruhe! Ich warne dich!«
Reece’ bildhübsche Lippen verziehen sich zu einem schiefen Lächeln, und er lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Tafel, während Harper auf mich zustürmt.
»Komm, wir gehen«, murmelt sie und reißt mich mit sich herum.
»Amabelle?«
Es ist, als würde ein Tornado mich davon abhalten weiterzugehen und mich herumwirbeln. Natürlich ist es falsch, mich Reece zuzuwenden. Ich sollte auf Harper hören und ihn ignorieren. Aber es fällt schwer, da mein Name aus seinem Mund so verdammt verlockend klingt.
»Amabelle Weaver«, stellt er fest, stößt sich von der Tafel ab und macht ein paar Schritte auf uns zu. Dabei bewegt er sich wie ein Gott. Ein Gott, der im Olymp wandelt und keinerlei dunkle Gedanken kennt. »Du solltest Freitagabend auf meine Party kommen.«
»Lass es einfach, Reece«, murmelt Harper an meiner Seite.
Seine Augen leuchten auf, bevor er vor uns stehen bleibt und mich mit einem breiten Lächeln fixiert. »Harper hasst mich. Ich erinnere sie daran, dass sie es sich nicht erlauben kann, Vorlesungen zu schwänzen, nur um neue Freunde zu finden. Deswegen solltet ihr Freitagabend gemeinsam kommen. Normalerweise laden wir keine Freshmen ein, aber für dich mache ich eine Ausnahme, Amabelle.«
»Nur Mable.«
»Tu Harper einen Gefallen und begleite sie, Nur-Mable. Und sorg dafür, dass sie nicht noch einmal eine Vorlesung schwänzt, um mich anschmachten zu können.«
»Ich schmachte dich nicht an!«, wirft Harper ihm wütend entgegen.
Reece hebt in perfekter Manier eine Braue. Jetzt, da ich weiß, dass er von einer Schwedin abstammt, wird mir klar, warum sein Haar und seine Haut so hell sind. Hell und strahlend schön. »Natürlich nicht, Harper. Also. Kommst du?« Reece lächelt so breit, dass ich schmelze.
Ich schmelze und kann nichts dagegen tun. Bevor ich darüber nachdenken kann, habe ich längst genickt und damit ein Aufblitzen in seinen Augen erzeugt.
»Wunderbar.«
»Nein!«, zischt Harper.
»Party-Zusagen in Kingston sind verbindlich. Wir sehen uns Freitagabend.«
»Sie wird nicht kommen!«
Reece’ Gesichtsausdruck wird geradezu mitleidsvoll, als Harper laut aufstöhnt, mich am Oberarm packt und hinauszerrt.
»Bis Freitag«, raunt Reece und schickt mit seinem tiefen Bariton ein vibrierendes Summen mitten in meinen Magen.
»Ich habe dir gesagt, dass du dich fernhalten sollst, und das Erste, was du tust, ist, einer Einladung zu ihrer Party zuzusagen«, murmelt Harper wütend vor sich her, während sie durch die Halle marschiert und mich mit sich schleift.
»Er war nett!«, bringe ich zu meiner Verteidigung hervor, froh, dass wir mittlerweile allein sind und Jaxons Clique verschwunden ist. »Ich glaube nicht, dass irgendetwas von dem, was er gerade gesagt hat, gelogen war. Er macht sich Sorgen um dich. Hast du wirklich deine Vorlesung ausfallen lassen?«
»Er lügt!«, fällt sie mir ins Wort. »Er lügt, nichts weiter! Gott … Es ist doch nicht so schwer, ihrem dämlichen Aussehen mal nicht zu verfallen.« Sie stürmt durch die Tür, hat noch immer meinen Arm gepackt und zieht mich mit hinaus ins Tageslicht.
Mir fällt gerade noch auf, dass der Steinboden der Treppe merkwürdig schimmert und überall Federn liegen, als es passiert.
Harper rutscht der Länge nach aus und zieht mich mit sich. Ich komme mit einem überraschten Schrei hart auf der obersten Steinstufe auf, während Harper über die Seifenlauge davonrutscht.
»Du musst an den Rand!«, ruft sie mir zu und schlittert zurück zur Gebäudewand, während sie auf dem Stein immer wieder ausrutscht.
Ich versuche ihr zu folgen, falle aber erneut hin und stoße mir sämtliche Glieder auf dem harten Stein.
»Mable!«, ruft sie, zeigt mit einer Hand über mich.
Ich blicke hoch und ein Schwall klebriger Flüssigkeit ergießt sich auf meinen Kopf.
Gelächter brandet um mich herum auf, und meine Augen sind zu verklebt, als dass ich sehen könnte, wer sich über uns lustig macht. Nachdem ich es endlich geschafft habe, meine Augen sauber zu wischen, sehe ich weiße Schneeflocken um mich herum tanzen.
Schnee?
Nein, Federn.
Ungläubig blicke ich auf meine Hände, das viele Eigelb auf meiner Kleidung und den Treppenstufen. Auf die Federn, die jeden freien Zentimeter meiner Haut bedecken. Ich sehe aus wie ein Hühnchen. Definitiv. Und ich kann nicht anders, als zu lachen.
»Alles okay mit dir?«, fragt Harper, die vorsichtig an mich herangerutscht ist.
Unten vor der Treppe stehen Hunderte Studenten, sehen zu mir hoch und lachen mich aus. Aber ich lache auch. Ich kann das Ganze einfach nur lustig finden. Der Streich ist so dumm, und weil er so dumm ist, ist er irgendwie gut, sodass ich mit einsteige.
Harper lacht ebenfalls. Erst vorsichtig, zurückhaltend, aber dann lässt sie sich von mir anstecken, als ich eine Handvoll Federn nehme und nach ihr werfe. Die meisten bleiben an meinen klebrigen Fingern hängen, aber ein paar fliegen ihr entgegen.
»Der erste Tag in Kingston und schon das zweite Mal ein Streich wie im Kindergarten«, rufe ich lachend und beginne mich mit ihr abzuwerfen.
Harper wehrt sich kreischend und wir haben für ein paar wertvolle Sekunden einfach nur Spaß. Spaß. Ein unbeschwerter Moment. Hühnereier und Federn sind im Vergleich zu dem, was mein Leben zuvor ausgemacht hat, lächerlich winzige Probleme.
Eigentlich sind es überhaupt keine.
Im Trailerpark gab es Nächte, in denen ich Angst hatte, erschossen zu werden.
Es gab Tage, an denen ich glaubte, meine Mutter würde nie wieder aufwachen.
In meiner Highschool fanden Drogenrazzias statt und die Polizei hat mich nicht nur einmal grob gefilzt.
Was sind schon Federn dagegen?
Gemeinsam rutschen wir die Treppe hinunter und hören gar nicht mehr auf zu kichern. Ich will am liebsten für immer auf diese Weise lachen. Diesen einen Moment festhalten. Es war ein Streich. Einfach nur ein Streich, den sich irgendwelche Studenten für uns ausgedacht haben. Ein ziemlich aufwendiger, guter Streich sogar.
Wenn ich daran denke, dass ›Späße‹ an meiner High School daraus bestanden, jemand anderem eine Waffe an den Kopf zu halten und ihm zu drohen, ihn umzulegen, wenn er nicht sein Handy aushändigte …
Auf der untersten Treppenstufe angekommen, hat mich die Erinnerung an meine Vergangenheit eingeholt. Ich weiß, dass ich nicht so tun kann, als wäre es vorbei. Meine Schwester wohnt noch immer im Trailerpark. Ich kann nicht lachen, während sie leidet. Noch ist nicht alles gut.
»Hey, mach dir nichts draus«, flüstert Harper mir zu, nachdem wir aufgestanden sind und zur Wiese gehen, auf der wir nicht länger ausrutschen können. »Du hast recht, es ist Kindergarten.«
»Ja«, erwidere ich leise, mit den Gedanken ganz woanders. »Ist es.«
»Wieso hast du mitgelacht?«, fragt Rachel mich, als wir die Gruppe Stipendiatinnen erreichen. An ihrer Kleidung hängen ebenfalls Federn und eine Menge Eierschalen, die sich Brittany und Kady gegenseitig von der Kleidung zupfen. »Ist dir nicht klar, dass sie das gemacht haben, um uns alle bloßzustellen?«
Ich drehe mich um und werfe der Menge in meinem Rücken einen Blick zu. Allmählich lösen sich Grüppchen von den Schaulustigen und gehen Richtung Bibliothek, in der wir unsere nächste Einführungsveranstaltung haben. Die Vorführung ist vorbei. Doch Clarisse steht weiterhin dort und sieht kalt und hochnäsig in meine Richtung. Neben ihr sitzt Jaxon auf einer Mauer und sieht desinteressiert in eine andere Richtung. Es ist merkwürdig, ihn von der Ferne zu sehen. Er schafft es, dass ich zugleich Angst vor ihm empfinde und Wut. Als würde ich gleichzeitig weglaufen, aber auch gefangen werden wollen … Verdammt. Harper hat recht. Es ist schwer, ihrem Charisma nicht zu verfallen.
Um Rachel zu zeigen, was ich von dem Ganzen halte, wende ich mich von Clarisse ab und hebe die Schultern. »Es ist einfach kindisch. Um uns bloßzustellen, müssen sie sich einiges mehr einfallen lassen, oder?«
»Ich hoffe, dass sie sich nichts mehr einfallen lassen«, grummelt Rachel und zieht kurzerhand ihren Pullover aus. Rachel hat die Highschool mit sechzehn Jahren abgeschlossen und das erste College in drei statt vier Jahren absolviert. Nach einem Auslandspraktikum in Japan wurde sie in Kingston angenommen. Sie ist hübsch, rothaarig, und die zwei Bauchnabelpiercings und Tattoos zeugen davon, dass sie früher um einiges punkiger ausgesehen haben muss. »Was macht eigentlich sie hier?«, fragt Rachel mich und nickt unfreundlich in Harpers Richtung.
»Ich habe ebenfalls keinen Sinn für alberne Streiche …«, wehrt Harper sich.
»Ist Clarisse nicht deine beste Freundin?«, unterbricht Rachel sie. »Ihr seid auf jedem Instagram-Bild zusammen zu sehen. Ganz schön komisch, dass du dich plötzlich bei Mable einschleimst, oder?«
Harper reißt die Augen auf. »Wie kommst du …«
»Du hast meine Freundschaftsanfrage angenommen. Das habe ich gesehen, als ich ausnahmsweise Empfang hatte. Ich weiß, dass du ein öffentliches und ein privates Profil hast. Und du bist so blöd gewesen, mich auf dein privates freizuschalten. Also weiß ich, welches Bild du letztes Wochenende noch gepostet und gestern Abend gelöscht hast.«
»Du spinnst doch«, erwidert Harper und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich weiß nicht, warum du etwas dagegen hast, dass ich Mable mag.«
»Du magst sie? Du kennst sie doch kaum.«
»Aber du?«
»Okay, beruhigt euch, Mädels«, schaltet Brittany sich ein. Sie war bisher eine der Ruhigeren. Wäre ich oberflächlich, würde ich niemals vermuten, dass sie es nach Kingston geschafft haben könnte. Ihr Äußeres ist billig und durch das viele Make-up und die blond gefärbten Haare wirkt sie … hohl. Doch das ist ein Trugbild. Nur wenige ihrer Worte haben gereicht, um festzustellen, dass sie wahnsinnig klug ist. »Das war für uns alle gerade nicht so toll. Ich finde es beeindruckend, dass du es mit Humor nehmen kannst, Mable.«
Womit sonst? , will ich fragen, schweige aber. Ob ich nun mit Eierschalen beworfen werde oder mit Federn; es könnte mir nicht gleichgültiger sein.
»Finde ich auch«, sagt Harper und kneift mir freundschaftlich in die Schulter. »Wir sehen uns zum Mittag.« Sie schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln und nimmt den entgegengesetzten Weg.
Nachdem sie sich ein paar Schritte entfernt hat, herrscht betretenes Schweigen.
»Glaub mir, Mable, ich würde so was nicht erfinden, hörst du?«, beschwört Rachel mich.
Ich nicke. Warum sollte Rachel auch? Dass jemand wie Harper nicht ohne Hintergedanken mit mir befreundet sein möchte, habe ich sowieso nicht geglaubt. Ich bin vorsichtig. Genauso wie ich Rachel nicht blind vertrauen würde. Keiner von ihnen.
Ich überrede die anderen, unsere Kleidung nicht im Wohnheim zu wechseln. Es würde viel zu lange dauern und dann kämen wir zu spät zur nächsten Veranstaltung. Sie lassen sich von mir Mut machen, dass wir einfach zu dem Prank stehen und erhobenen Hauptes auf das Gelächter reagieren, das uns in der Bibliothek empfängt. Es verebbt schnell, weil wir ebenfalls lachen. Schon haben wir den Idioten ihren Spaß genommen.
Der restliche Tag verläuft ereignislos – wenn man von den dummen Sprüchen absieht, die uns immer wieder hinterhergerufen werden –, und ich bin froh, am Abend meine klebrige Kleidung endlich loswerden zu können.
Auf dem Weg zum Crowns verlaufe ich mich und stehe plötzlich vor einer großen Hecke. Mir ist nicht klar, wie ich so schnell die Orientierung verlieren konnte, aber da ich weder eine Karte dabeihabe, noch der Empfang meines Handys ausreicht, laufe ich ein Stück zurück und dann nach links. Statt wieder auf den richtigen Weg zu gelangen, befinde ich mich schließlich vor einer Kapelle. Ich kenne die Stelle von meiner Karte und weiß, ich muss nur daran vorbeigehen, um ans andere Ende des Parkplatzes des Crowns zu gelangen.
Die winzige Kirche ist beleuchtet. Neugierig betrachte ich die Lichter hinter dem Buntglasfenster. Dass irgendjemand von den Studenten gottesfürchtig ist, kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber sie tun bestimmt viel, um den Schein zu wahren.
Als ich jedoch an der offenen Tür vorbeigehe, sehe ich, dass keine Messe stattfindet.
Mein Herz stockt, und ich weiche in den Schatten zurück, um die Szenerie zu beobachten.
Direkt vor dem Altar steht ein Stuhl. Auf den Stuhl gefesselt sitzt eine Frau. Ein schwarzer Stoff wurde über ihren Kopf gezogen, und etwas an ihrer Haltung verrät, dass sie panische Angst hat.
Fünf Gestalten umringen sie.
Sie sind alle maskiert. Schwarze Gesichter, golden verziert, umkreisen bedrohlich das Opfer in ihrer Mitte.
Mir wird so kalt, dass ich für einen Moment vergesse, was ich tun muss. Schnell greife ich nach meinem Handy, will die Polizei rufen und muss wieder feststellen, dass ich keinen Empfang habe.
Fünf Gestalten?
Wenn mich nicht alles täuscht, ist einer davon Jaxon, oder? Der hochgewachsene Körperbau, das ansehnliche Äußere …
»Es ist nicht so schwer«, höre ich aus der Kirche nach draußen dringen. »Du musst einfach nur ehrlich sein. Ganz leicht, oder? Du öffnest einfach deinen kleinen Mund und SAGST UNS VERDAMMT NOCH MAL DIE WAHRHEIT!«
Die Stimme hallt nach draußen, aber sie klingt verzerrt, weil der Sprechende gegen seine Maske spricht – oder ist es doch ein Stimmverzerrer, den er benutzt? Wer auch immer das Opfer ist, derjenige antwortet nicht.
»Warum mischst du dich ein?«, fragt die verzerrte Stimme. »Warum tust du so, als würde dich plötzlich interessieren, was auf diesem Campus geschieht? Was müssen wir tun, damit du dich uns anvertraust? Muss er dich erst ficken, damit du redest? Du hast mir besser gefallen, als es in deinem Leben nur um dich ging.«
»Hier gibt es nichts für dich zu sehen.«
Ich kreische beinahe auf, als hinter mir jemand erscheint. Fuck. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals.
Vor mir steht eine in Schwarz gekleidete Person. Mit einer schwarzen Kapuze und einer komplett schwarzen Maske im Gesicht, die nicht einmal Augen erahnen lässt.
»Ein Aufnahmeritual für die Omega-Phi-Verbindung«, erklärt der Typ. »Wir sehen es nicht gern, wenn uns jemand dabei stört.«
»Diese Frau dadrin ist gefesselt!«, sage ich mit bebender Stimme und weiche vor der maskierten Gestalt zurück. Seine Stimme ist mir fremd. »Und das Gespräch klang überhaupt nicht wie eine Prüfung, sondern wie die Drohung zu einer Vergewaltigung!«
Aber ich will nicht ausschließen, dass er die Wahrheit sagt. Wenn Studenten einen Prank mit Eierschalen initiieren wie in einem schlechten Hollywoodfilm, warum sollten sie dann nicht schräge Rituale für ihre noch schrägeren Verbindungen abhalten?
»Ja. Das war definitiv im übertragenden Sinne gemeint. Geh besser, bevor sie dich erwischen. Du willst doch nicht noch mehr Feinde auf dem Campus haben, oder?«
Ich atme unkontrolliert, aber schließlich gebe ich klein bei. Davon kann Sylvian nicht gesprochen haben, als er mich warnen wollte, oder? Und Harper meinte ebenfalls nicht, dass die Kings jemanden fesseln und umzingeln würden, nicht wahr?
Wie viele Collegefilme kenne ich, in denen noch viel Schlimmeres passiert, bevor man in eine der begehrten Studentenverbindungen aufgenommen wird?
Als ich das Crowns erreiche, weiß ich noch immer nicht, ob ich das Richtige tue. Vielleicht war es ein Fehler, wegzusehen. Aber vielleicht ist es auch der einzige Weg, wie ich an dieser Universität überlebe.