E
ine halbe Stunde Fußmarsch später zweifle ich daran, ob ich Kingston nicht doch verlassen sollte. Auch wenn allein dieser Gedanke sich anfühlt, als würde ich zu einem gewissen Teil sterben, ist es nichts gegen das tatsächliche Ende meines Lebens. Offensichtlich kann ich mir selbst nicht trauen. Kann mich nicht ihrer Anziehung entziehen und erliege ihnen wie eine Gazelle einem Tiger. Wer weiß schon, was passieren wird, wenn Sylvian nicht mehr ›nett‹ ist? Oder wann mich Jaxon das nächste Mal entführt?
Wie soll ich Reece einschätzen, wenn er dabei zugesehen hat, wie Romeo mich betäubt?
Ich kann es mit Hühnerfedern aufnehmen, mit Überschwemmungen und mit Mobbing. Ich muss nicht auf Partys eingeladen werden, selbst eine Zeit ganz ohne Freunde halte ich aus.
Aber die Kings sind ein anderes Kaliber.
Und sie hassen mich.
Ich werde den Grund nicht erfahren, und langsam glaube ich, dass es dafür gar keinen anderen gibt als den, dass ich nicht mit Jaxon schlafen wollte. Er hat mir einen Deal vorgeschlagen und ich habe abgelehnt. Daraufhin hätte er mich verdursten lassen.
Auch wenn ich Sylvian anders einschätze, ihm glaube, wenn er sagt, dass er mir nichts tun wird, hat er auch gesagt, dass das nur gilt, solange ich auf ihn höre. Und er hat mich vor seinem Monster
gewarnt. Dem Monster, von dem ich am liebsten schon jetzt mehr erfahren würde.
Ich laufe in meine eigene Falle.
Das muss aufhören.
Die Nacht allein im Wald ist nichts gegen das Gefühl, das mich überkommt, wenn ich daran denke, Kingston zu verlassen. Mich hat es alles
gekostet, dort angenommen zu werden. Seit einem Dreivierteljahr freue ich mich auf den Studienbeginn. Die Idee, nach Kingston zu gehen, wurde schon früh in meinen Kopf gepflanzt. Meine Lehrer erzählten mir von der einen Universität, an der man studieren könne, was auch immer man wolle, man würde auf der ganzen Welt die bestbezahlten Jobs bekommen. Nicht nur weil die Ausbildung gut ist, sondern auch weil das Netzwerk eines der besten weltweit ist. Dass in dieses Netzwerk nur Leute aufgenommen werden, deren Eltern sowieso schon Teil davon sind, hätte ich mir vielleicht denken können … Aber wer glaubt nicht gerne an Märchen?
»Gott, da seid ihr ja!«
Völlig überrascht blicke ich von meinen Schuhen auf und sehe Harper von Weitem auf uns zustürmen.
Sylvian geht zwei Schritte vor mir, dreht sich zu mir um und seine Augen sind voller Schatten. »Kein Wort«, raunt er, und ich weiß, was er meint.
Harper darf nichts von dem erfahren, was zwischen uns vorgefallen ist. Will er sie nicht verletzen? Und muss ich ehrlich sein, oder darf ich es für mich behalten, weil es sich sowieso niemals wiederholen wird?
Bevor ich darauf eine Antwort finde, werde ich umgerissen.
»Mable, ich bin gestorben vor Sorge!«, kreischt Harper mir ins Ohr und drückt mich so fest, dass ich nach Luft schnappen
muss. »Nie wieder! Nie wieder lasse ich dich mit einem dieser Bastarde allein! Nie wieder!«
Sylvian räuspert sich hinter ihr, doch sie ignoriert ihn, geht einen Schritt zurück und nimmt mein Gesicht zwischen die Hände.
»Du blutest!«
»Nur ein Kratzer …«
Ihr Gesicht verzieht sich zu einer wütenden Fratze. »Ich werde Jaxon umbringen. Ich werde ihm die Eier rausreißen und sie zum Frühstück verspeisen! Er will Krieg?! Er hat sich mit der Falschen angelegt!«
»Es ist okay«, weiche ich aus und schaue verlegen zu Boden. Mir entgeht nicht, mit welcher Intensität Sylvian uns beobachtet.
»Nichts ist okay!«, ruft Harper in den Wald hinein, sodass ihr Echo von den Hügeln widerhallt. »Ich hätte dich viel besser vorbereiten müssen! Diese eingebildeten Schönlinge werden dir nie wieder
zu nahe kommen, darauf kannst du wetten.« Sie klopft meine Schultern ab und drückt mich in einen aufrechten Stand. »Wir sind nicht die Einzigen«, beschwört sie mich. »Es gibt viel mehr Leute, die die Kings hassen. Wir nutzen das aus.«
»Ich stehe hinter dir, Harper«, informiert Sylvian sie nüchtern.
Sie schnaubt nur. »Du kannst uns nichts anhaben«, erklärt sie ihm schnippisch. »Verrätst du unsere Geheimnisse, verrate ich deine. Ganz einfach.« Harper hakt sich bei mir unter und hilft mir die letzte Hügelkuppe hoch. Dort, auf einem fast unsichtbaren, plattgefahrenen Weg, steht ihr Cadillac. Sie öffnet mir die Beifahrertür. »Mach es dir bequem.«
»Ich fahre.« Sylvian steht auf der anderen Seite des Wagens und stützt sich mit einer Hand auf das Dach. »Geht zusammen nach hinten.«
Harper setzt zu einem Widerwort an, ich sehe es an ihrer
sturen Miene, doch Sylvian unterbricht sie kalt.
»Ich fahre«, wiederholt er und setzt sich nach vorn. »Du bist noch immer high von gestern Nacht.«
Harper verdreht die Augen, schließt die Beifahrertür, öffnet die hintere und rutscht auf die Sitzbank. Ich setze mich neben sie, schnalle mich an und wünsche mir, der Situation entfliehen zu können. Das plötzliche Auftauchen meiner neuen Freundin, die Erkenntnis darüber, dass Sylvian nicht allein gekommen ist, und das Wissen, dass sie ausgerechnet in ihn
verliebt ist, vermischen sich in meinen Gedanken zu einem Cocktail des Irrsinns.
Harper greift nach meiner Hand und drückt sie. »Es wird alles gut«, beschwört sie mich, aber ich glaube ihr kein Wort.
Sylvian beobachtet uns über den Rückspiegel und wir fahren eine ganze Weile, ohne dass jemand etwas sagt.
Harper lächelt mich bestärkend an, murmelt etwas davon, dass es mir nach einer heißen Dusche besser gehen wird. Erst als Sylvian auf den Highway abbiegt, kreischt sie wieder auf. »Wo fährst du hin?!«
»Ich bringe Mable nach Hause«, erklärt Sylvian tonlos. »Das wolltest du doch?«, fragt er mich. Ich traue mich nicht, ihm zu widersprechen. Es ist das Richtige. Oder?
»Nach Kingston geht es in die andere Richtung!«, beschwert sich Harper.
»Nach Philadelphia.«
»Du willst, dass sie aufgibt? Du verdammter Lügner, warum glaube ich dir überhaupt noch ein Wort? Man kann dir so wenig vertrauen wie irgendjemand anderes aus diesem verschissenen Zirkel. Halt an und steig aus.«
Sylvian lacht kalt und beschleunigt auf dem Highway.
»Ich meine es ernst!«
Schnell greife ich an Harpers Arm, bedeute ihr mit einem Blick, sich zu beruhigen. »Du bringst uns noch in Gefahr«, flüstere ich.
Sie wirkt, als hätte ich ihr verboten zu atmen, und ihr Kopf läuft hochrot an. »Du hast dich schon damit abgefunden, dass er dich zurückbringen wird?«
»Jaxon wollte mich umbringen
«, murmle ich, auch wenn ich weiß, dass Sylvian jedes Wort versteht. »Was würdest du an meiner Stelle tun?«
Harper stellt ihre Augenlider auf halb acht und betrachtet mich voller Mitleid, weil ich die Dinge offensichtlich nicht durchblicke. »Jaxon hätte dich niemals
dir selbst überlassen. Er würde niemals etwas tun, das über einen – sehr fiesen – Streich hinausgeht.«
»Das war kein Streich«, rufe ich ihr in Erinnerung. »Ich wäre beinahe verdurstet.«
»Er will, dass du leidest. Nicht, dass du stirbst. Du hättest es noch das ganze Wochenende im Wald ausgehalten, ohne zu verdursten. Wenn rauskommt, dass dir seinetwegen
etwas zustößt, verliert er mehr, als du dir vorstellen kannst. Jemand wie er geht nicht einfach ins Gefängnis … verstehst du?«
»Nein«, erwidere ich tonlos. »Ich verstehe absolut nichts von euren Andeutungen.«
»Du musst mir vertrauen«, sagt sie eindringlich, und in dem Moment fällt mir auf, wie dumm ich eigentlich bin. Nicht nur, dass ich Sylvian ans Steuer lasse, obwohl er mein Blut gekostet und mir mit einem Messer gedroht hat, ich setze mich auch zu Harper nach hinten ins Auto, ohne mich zu fragen, warum sie mit ihm hier ist.
Worauf ihre Verbindung zueinander basiert.
»Okay«, erwidere ich mit einem zögerlichen Lächeln. Ich schweige und warte, bis ein Schild am Rand des Highways auftaucht, das eine Tankstelle ankündigt. »Sylvian, könntest du bitte abfahren? Ich war seit über zwölf Stunden nicht auf einer richtigen Toilette.«
Er reiht sich rechts ein und fährt ab, ohne ein Wort zu sagen. Kaum sind wir vor der Tankstelle angekommen, setze
ich meinen unschuldigsten Blick auf. »Meinst du … es wäre okay, wenn ich mit deinem Handy meine Mom anrufe?«
»Klar«, entgegnet Harper und greift in ihre Tasche. »Aber ich habe etwas viel Besseres für dich. Dein eigenes Handy.«
»Oh, danke.« Ich nehme es ihr ab und entsperre es. Es fühlt sich unwirklich an, es in den Händen zu halten. Wie sehr habe ich mich die letzten zwölf Stunden danach gesehnt, ein Handy zu haben … Sei es nur, um mit der Taschenlampe die Umgebung abzuleuchten.
»Dein Handy habe ich gestern Abend gefunden, aber du bliebst verschwunden. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt.«
Ich schenke ihr ein nicht mehr ganz so gut geschauspielertes Lächeln und steige aus.
»Soll ich mitkommen?«, fragt Harper besorgt.
»Ich glaube, ich schaffe es gerade so, alleine zu pinkeln.«
Sie wirkt nicht begeistert von der Idee, mich gehen zu lassen. Und genau das ist es, was mein Vertrauen in sie erschüttert. Als sie das Wort ›Gefängnis‹ ins Spiel brachte, hätte ich mich ohrfeigen können. Wieso wollen die zwei mich zurück in den Trailerpark oder zur Universität bringen? Wieso fahren sie mich nicht zur Polizei?
Nicht einmal Harper besteht darauf?
Was glaubt sie denn, was mir helfen wird, in Kingston weiter studieren zu können? Eine Art ›Kleinkrieg‹ anzuzetteln und mit Schleimballons auf Hühnerfedern zu schießen? Wie genau soll mir das gegen Angriffe helfen, bei denen mich jemand betäubt und in einem Wald aussetzt.
Nachts?
Ich steuere auf die Toilettenräume zu und wundere mich nicht, dass sich hinter mir die Tür öffnet, kurz nachdem ich in den Verkaufsraum der Tankstelle eingetreten bin. Sylvian folgt mir wie ein Schatten.
Ich widme ihm einen flüchtigen Blick, der in meinen Augen so unschuldig ist wie mein gesamtes Gehabe zuvor, und
verschwinde hinter der Toilettentür für die Damen.
Er folgt mir einfach, knallt die Tür auf und schließt sie hinter sich.
»Kann ich bitte …« Ehe ich aussprechen kann, reißt Sylvian mir das Handy aus der Hand, wirft es ins Waschbecken und drückt mich hart gegen die Wand in meinem Rücken.
»Mable!« Auch Harper öffnet die Tür, keuchend, wie nach einem Sprint. Sie bemerkt Sylvian, der mich an der Wand gefangen hält, und stoppt irritiert.
»Ich sage dir, was passiert, wenn du die Cops rufst.« Seine Stimme ist rau und klar. Auch ihm haftet der Geruch nach Wald an, der Geruch nach Erde und vielleicht sogar der nach Sex. Er kümmert sich nicht darum, dass Harper uns beobachtet. Für sie muss das, was er tut, gewissermaßen so wirken, als wären wir sehr vertraut miteinander.
Aber das darf sie nicht glauben.
Sie darf nicht wissen, dass er eben noch auf mir lag. Dass sein pulsierender Körper meinen kontrolliert hat. Ich schäme mich. So sehr, weil ich nicht habe standhaft bleiben können. Auch wenn ich Sex wollte. Auch wenn das der Grund war, weshalb ich gestern auf Reece’ Party gegangen bin.
Ich schäme mich trotzdem.
Vermutlich, weil ich gleich drei Typen an mich herangelassen habe. Wie wird Harper über mich denken, wenn sie das erfährt?
Der einzige Grund, weshalb ich mich von Sylvian gegen die Wand pinnen lasse, ist meine körperliche Schwäche. Mein kopfgesteuerter Wille ist nicht stark genug. Dieser Wille, der mir sagt, dass ich ihm in die Eier treten sollte.
Jetzt.
Schnell.
Schmerzhaft.
Ich kann es nicht tun. Ich kann ihn nicht hassen. Und das ist das Schlimmste von allem.
»Was wird passieren?«, frage ich möglichst unbeeindruckt.
»Nichts
«, antwortet Sylvian. »Einfach nichts.
«
Ich verenge spöttisch die Augen. »Das ist Quatsch.«
»Jedes Jahr gibt es mindestens eine Studentin aus Kingston, die einen anderen Studenten oder Professor anzeigt. Nie gibt es Beweise. Einem Großteil von ihnen kann man sogar nachweisen, dass sie lügen. Die Cops werden dich nicht ernst nehmen. Du hast Drogen genommen, bist ein wenig durch den Wald gewandert und glaubst, so eine Story erzählen zu können. Und selbst wenn du es beweisen könntest, sobald der Name Tyrell im Spiel ist, werden sie dich auslachen. Jaxons Vater ist nicht ohne Grund auf dem besten Weg zum Senator. Er hat Unterstützer. Fans. Besonders unter den Cops.«
»Die Polizei gehört einfach verdammt noch mal reformiert!« Wütend versuche ich Sylvian abzuschütteln, doch er packt mich noch fester.
»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagt er leise. »Aber es ist ja nicht so, dass du nicht gewarnt worden bist.«
»Diese Warnungen sind lächerlich! Niemand hätte darauf gehört und einfach sein Studium an der besten Universität des Landes geschmissen! Es geht hier nicht um eine Vergewaltigung, es ist … Erpressung. Was im Grunde wesentlich weniger schlimm ist, aber, hey, schlimm genug, um es zur Anzeige zu bringen!«
Sylvian lacht und tritt kopfschüttelnd einen Schritt zurück. »Normalerweise würde ich sagen: Tu es. Aber gerade bin ich derjenige, der dich aus dem Wald geholt hat, und du willst, dass ich auch in Zukunft da bin, wenn so etwas passiert. Also bring Jaxon nicht dazu, sich mehr über dich zu ärgern, als dir guttut. In letzter Konsequenz solltest du wissen, wem meine Loyalität gilt.«
Ich verziehe die Lippen. Seine Worte schmerzen. Viel zu sehr. Natürlich bedeute ich ihm nichts. Natürlich waren seine Worte von eben nur Gerede. Dinge, die man nach dem Sex
eben so sagt. Er wird mir nicht helfen. Nicht, wenn er sich dabei gegen seine Freunde stellen müsste.
»Wenn du bei den Cops anrufst«, führt Sylvian aus, »wird Jaxon sich zu Recht fragen, warum ich dich nicht davon abgehalten habe. Ruf an und du reitest nicht nur mich in die Scheiße. Du verlierst jemanden, der sich um dich sorgt.
Der Graben, in den du fallen könntest, wird nur noch tiefer.«
»Warum?«, frage ich drängend. Mein Blick gleitet zu Harper. Sie hält Abstand und ihre Miene ist undurchschaubar. »Worum geht es hier, zur Hölle?! Wieso will mich so ein arroganter, hyperreicher Mistkerl, dessen Vater bald Senator ist, tot sehen? Warum?! Wer bin ich im Vergleich zu ihm?«
Die beiden schweigen und ich würde sie am liebsten anschreien. Stattdessen senke ich meine Stimme, versuche meine aufgewühlten Emotionen zu kontrollieren. »Ihr wisst es, oder? Ihr kennt die Wahrheit.«
»Da gibt es keinen ›Sinn‹, so wie du dir das vorstellst …«, weicht Harper aus. »Es geht nicht um dich im Speziellen, Mable. Okay?«
»Das Ganze richtet sich generell gegen alle Stipendiatinnen?« Ich fixiere Sylvian, doch seine Lippen bleiben verschlossen. »Und ihr wollt wirklich, dass ich nicht
zur Polizei gehe?! Ihr macht euch mitschuldig!«
Sie sehen mich beide an und machen mir klar, dass sie nicht erwarten, die Polizei könnte jemals zu einem Problem für sie werden.
»Was glaubt ihr, was ihr tun könnt, wenn das alles mal rauskommt? Euch freikaufen?«
»Mein Vater ist Richter des obersten Gerichtshofs und mein Cousin Polizeichef von Washington D.C.«, erklärt Harper leise. »Ich weiß, dass es auf dich frustrierend wirken muss. Aber die amerikanischen Gesetze wurden … nun ja, nicht unbedingt für Leute wie uns geschaffen, weißt du?«
Ich starre sie an und ein Teil in mir will zerbrechen. Dieses
Gespräch scheint so surreal. Bei allem, was ich bisher erlebt habe. All den Verbrechen, bei denen ich zusehen musste. Ich habe Morde miterlebt. Vergewaltigungen. Lehrer wurden an meiner alten Schule erschossen. Es gab niemanden, der sich dafür interessiert hätte. Wenn, dann wurden die Straftäter für ein paar Monate ins Gefängnis gesteckt, kamen wieder frei, machten weiter. Und ausgerechnet dann, wenn ich mich in Sicherheit vor diesen Zuständen wähne, wird mir offenbart, dass es in der … Elite noch viel schlimmer ist?
»Es tut mir so leid, Mable«, flüstert Harper und kommt auf mich zu. Ich stehe wie ein steifes Brett da, als sie mich umarmt. »Wir können nur eines tun. Ihnen die Stirn bieten. Sie werden nicht gewinnen. Sie dürfen
nicht gewinnen. Du musst in Kingston bleiben. Ich werde an deiner Seite stehen. Und Sylvian auch.«
Sylvians Gesicht verdüstert sich. »Das entscheidest nicht du, ob sie weiter studiert.«
Harper wirbelt zu ihm herum. »Du schuldest mir einen Gefallen. Einen großen Gefallen. Und ich löse ihn hiermit ein.«
Er runzelt die Stirn. »Du kannst einen Gefallen nicht auf jemand anderes übertragen.«
»Ja? Wer sagt das? Du weißt, dass du mir etwas schuldig bist. Ich habe alles auf der Welt, was ich mir kaufen kann. Aber als ehemalige Freundin von Clarisse muss ich etwas wiedergutmachen. Etwas, das ich nicht ohne Hilfe schaffe. Du wirst mir helfen. Dann sind wir quitt.«
Sylvian lacht spröde, zögert aber nicht. Er öffnet uns die Tür in den Rasthof, damit wir durch ihn hindurch zurück zum Auto gehen können. »Das ist das Gegenteil von dem, wie du es wiedergutmachen kannst. Aber das wirst du erst verstehen, wenn es zu spät ist.«
»Du wirst nicht mitspielen. Das versprichst du mir. Du wirst dich raushalten und alles, was sich gegen Mable richtet, von ihr abwenden. Und ich werde ihr das Spiel erklären. Sie wird
wissen, wie es funktioniert. Was sie tun muss. Worum es geht.«
Sylvian seufzt. Aber er scheint einverstanden.
Harper wirkt bestärkt. Sie kauft ein paar Cracker und verlässt die Tankstelle. Kurz bevor wir das Auto erreichen, greift Sylvian in meinen Nacken, ohne dass sie es bemerken würde. Seine Finger auf meiner Haut fühlen sich an wie Nadelstiche. Und obwohl es schmerzt, genieße ich seine Berührung.
Was falsch ist.
Oh, Mable. Es ist so falsch.
Sylvian beugt sich an mein Ohr. »Wenn du in Kingston bleiben willst, solltest du das Wort C-o-p-s aus deinem Wortschatz streichen. Sobald auch nur irgendjemand Außenstehendes erfährt, was dort geschieht, fliegst du. Harper will dich wie billigen Fraß in den Löwenkäfig stellen. Sie weiß genau, dass die Kings nicht diejenigen sind, die dich bluten sehen wollen. Jedenfalls nicht nur.«
»Du kannst auch mit dem Auto reden, Sylvian«, entgegne ich in einem Anflug von Schlagfertigkeit und schüttle seine Hand ab. »Dein mysteriöses Gerede hat für mich so viel Aussagekraft wie eine Ansprache auf Russisch.«
Harper dreht sich um und kichert, doch Sylvian bleibt ernst.
»Я хочу твоё тело«, sagt er auf Russisch. »Другие твою душу.«
Ich verstehe nicht jedes Wort, aber der Sinn seiner Aussage wird mir klar.
Ich will deinen Körper. Die anderen deine Seele.
Ein kalter Schauer rieselt mir über den Rücken, und es dauert Stunden, bis er wieder verschwindet.
Ich bin zu naiv an die Sache herangegangen.
Kingston ist keine normale Universität.
Die Kings sind keine normalen Arschlöcher.
Harper ist keine normale Freundin.
Und ich bin nicht normal genug, um zu verschwinden, wenn mir all diese Dinge passieren. Bin ich gewissermaßen neugierig darauf, was kommen wird?
Ja.
Ist das dumm?
Vermutlich.
Riskiere ich mein Leben?
Vielleicht …?
Aber was genau habe ich für ein Leben, das auf dem Spiel steht? Was die Kings nicht wissen, was sie sich nicht einmal vorstellen können: Ich habe nichts zu verlieren. Das Elend, in dem ich aufgewachsen bin und in dem ich meine Schwester zurücklassen musste, ist kein Leben. Es ist nichts, was man mir nehmen könnte.
Ich kann nicht aufgeben.
Denn ich habe nichts, wofür sich das Aufgeben lohnt.