Ein­und­zwanzig
Sylvian
W ährend ich an der Tür zu meinem Zimmer lehne, die rechte Ferse auf das Holz gestützt, drehe ich mir die zwanzigste Kippe des Tages.
Das Nikotin hält mich in dem Zustand gefangen, um klar genug zu sein, meinen Gelüsten nicht nachzugeben, und benebelt genug, um aufzuhören, mir Gedanken zu machen.
Es ist Ende November.
Und noch immer bin ich ein Opfer meiner selbst.
Ich habe geglaubt, dass mein früheres Leben in den dunklen Gassen, den schmierigen Clubs, den dreckigen U-Bahnhöfen abfuck gewesen ist. Aber es ist nichts im Vergleich zu dem, was mich zwischen golden lackierten Wasserhähnen und maßgeschneiderten Uniformen erwartet hat.
Jetzt bin ich selbst ein Teil davon. Reich wie die Hölle und einflussreich wie ein König.
Es gibt tausend Mädchen, die ich haben kann. Als King lernt man die Verführungskünste eines Mannes besser als jeder andere. Die meiste Scheiße, die Crescent Mable erzählt hat, war wahr. Aber es ist nur die halbe Wahrheit.
Nicht nur die Frauen suchen auf dem Campus nach dem geeigneten Partner.
Auch wir müssen weise wählen.
Eine verarmte Stipendiatin ist das Gegenteil von weise.
Es ist dumm.
So dumm, dass ich daran zweifle, ob ich für den Master in Kingston geschaffen bin.
Seit dem Sommer versucht meine schwarze Seele herauszufinden, ob Mable an dem zerbrechen würde, was sich meine Fantasie ausmalt, oder ob sie als Siegerin hervorginge. Dabei geht es mir nicht ums Gewinnen an sich, sondern um die Vorstellung, ein Mädchen zu finden, das für meine Art der Dunkelheit geschaffen ist. Eine, die mich versteht und nicht wegläuft, wenn sie hinter den Vorhang aus Geld und Macht einen Blick wirft, aus dem mein Leben besteht.
Ich habe mir versprochen abzuwarten, bis ich mir sicher sein kann, dass Mable geeignet ist. Sollte mir etwas an ihr zu zerbrechlich erscheinen, würde ich sie in Ruhe lassen. Ein weiterer Scherbenhaufen nützt mir nichts. Dann kann ich sie auch in einem Stück lassen und für immer aus ihrem Leben verschwinden.
Das habe ich mir gesagt.
Leider bin ich nicht aus ihrem Leben verschwunden.
Ich habe sie gefickt, sobald ich die Gelegenheit dazu hatte, und die Wette verloren.
Und wenn ich nicht aufpasse, wird sie nicht nur an mir zerbrechen.
»Sylvian Silvano.«
Ich blicke auf.
Jaxons Schatten kommt vor ihm die gewaltige Wendeltreppe hinaufgekrochen und kurz darauf kommt er selbst zum Vorschein. Flankiert von den anderen Königen lächelt er freudlos. »Du hast nicht wirklich vor, sie in deinem Zimmer zu verstecken, oder?«
Ich hebe entspannt die Schultern. Er wird sie schlecht aus meinem Zimmer herauszerren können, also ist sie sicher.
»Sie hat Harper geschrieben.« Jaxons Lächeln weitet sich zu einem schiefen Grinsen.
Mir fällt mein Feuerzeug beinahe aus der Hand. Bist du verrückt, Mable?
»Was hast du mit ihr vor, hm?«, fragt Jaxon leise und kommt näher. Ich kann ihm keine Antwort liefern, die ihn befriedigen würde.
Er wird nie verstehen, dass ich nicht mehr derselbe bin. Er wird es nicht zulassen.
Ja, ich habe drei Jahre lang mit ihm gemeinsam einen Krieg geführt. Einen Krieg gegen Opfer, die mir nie etwas bedeutet haben. Gegen Stipendiaten wie dich. Aber ich bin zu weit gegangen, Mable.
Ich bin zu dem geworden, was ich immer gehasst habe.
Zu meinem Vater.
Zu meiner Familie.
Ich bin kein Mörder.
ICH. BIN. KEIN. MÖRDER.
»Du kannst dich nicht dagegen wehren, Silvano«, raunt Tyrell. »Du willst, dass wir beenden, was wir angefangen haben.«
»Ihr lasst sie in Ruhe«, stelle ich klar. Sie gieren nach dir. Sie gieren danach, dein zartes Band der Unschuld endlich zu zerreißen. Nie zuvor hat es eine Stipendiatin – überhaupt eine Frau – so sehr gewollt wie du. Uns alle gewollt.
Erst durch dich haben wir kapiert, was echte Huren von Frauen wie dir unterscheidet. Aber sie wissen nicht, dass ich dir längst deine Unschuld genommen habe. Und sie dürfen es nicht erfahren. Niemals.
»Ihr werdet sie in Ruhe lassen«, wiederhole ich.
»Wir?«, fragt Jaxon zynisch. »Welches ›wir‹ gibt es, zu dem du nicht gehörst?«
»Wir«, verbessere ich mich zähneknirschend. »Wir lassen sie in Ruhe.«
»Deswegen hast du sie ausgerechnet in dein Zimmer gebracht? Damit wir sie in Ruhe lassen?«
Wut durchfließt mich wie ein reißender Strom. »Reece hätte sie schon unten im Salon gefickt. Und dir traue ich sowieso nicht, Jax. Der Einzige, der sich zurückhalten kann, bin ich.«
»Niemand will sich zurückhalten, Sylvian«, wirft Reece achselzuckend ein. »Wir wollen sie alle. Auch du. Warum wehrst du dich dagegen?«
»Wir werden sie nicht anrühren!« Meine Stimme bebt unkontrolliert. »Wir werden sie nicht zerstören. Wir hatten einen Deal.«
»Nein, Sylvian«, verbessert Jaxon mich. »Wir haben eine Wette . Und ich glaube kaum, dass du sie gewinnen wirst, wenn du sie in dein Zimmer bringst und die ganze Nacht neben ihr liegen musst. Warum lassen wir sie nicht einfach mit Reece vögeln? Er gewinnt und darf über sie entscheiden.«
Mein Mund wird trocken, als ich die Gier spüre, die zwischen uns entsteht. Selbst mich befällt sie wie ein hungriges Raubtier. »Reece hat nie mitgespielt. Er will sie sowieso nur so lange, bis er seinen Schwanz in irgendeiner Bitch hatte, um sich abzuregen«, gebe ich gepresst von mir.
Reece hebt beide Brauen. »Ich? Ich würde keine andere ficken, wenn ich Mable haben kann.«
»Siehst du?«, fragt Jaxon lüstern. »Überleg mal … Wenn Reece gewinnt, dann sind wir von dieser lästigen Wette endlich frei. Du kannst sie haben. Ich kann sie haben. Wir alle haben sehr viel Spaß
Meine Hände ballen sich automatisch zu Fäusten und ich bewege mich auf ihn zu.
Ich will nicht, dass sie dich anrühren, Mable. Ja, manchmal bin ich genauso naiv wie du und glaube, ich hätte eine Chance, dich zu beschützen.
»Amabelle will es auch«, entscheidet Jaxon, stellt sich mir in den Weg, damit ich nicht auf Reece losgehe. »Das wissen wir alle. Wir alle wissen es, auch du, oder, Sylvian? «
»Crescent wird sie niemals gewinnen lassen.« Mir war es von Anfang an klar, Mable. Ich wusste, dass du keine Chance hast. Aus dem einzigen Grund, dass niemand dir eine gibt. Jaxon wird dich nicht gewinnen lassen. Was auch immer Reece oder ich tun.
»Vielleicht, vielleicht nicht«, entgegnet Reece locker. »Muss ich das?«
Ich atme tief durch.
»Warum willst du ausgerechnet sie retten, Sylvian? Was ist an ihr so besonders?«
»Nichts«, antworte ich wahrheitsgemäß. Mable ist so normal, dass es abturnen könnte. Wäre da nicht das Blut unter ihrer hellen Haut, das sofort hervorschießt, wenn ich mich ihr nähere … Wäre da nicht das Beschleunigen ihres Herzens, wenn ich meine Hand in ihre Richtung ausstrecke … Wären da nicht das Begehren und die Lust, die Sehnsucht und das Feuer, das in ihr lodert … Vielleicht müssen wir sie erst zerstören, damit sie wie ein Phönix aus der Asche wiederaufersteht?
Ich kann mir ansonsten nicht erklären, wie ausgerechnet sie gegen uns bestehen will.
»Ich weiß, was an ihr besonders ist.« Reece ist näher gekommen. Wenn Mable auf die Idee kommen sollte, ihr Ohr an die Holztür zu legen, könnte sie jedes Wort verstehen. »Sie ist die erste Frau, die mir begegnet ist, der Geld scheißegal ist. Solange sie genug davon hat, um es ihrer Mom zu schicken, lechzt sie nicht nach mehr. Mable hat recht: Im Vergleich zu ihr sind alle anderen Huren, weil sie ständig irgendetwas für Geld, Macht oder bessere Noten tun. Aber sie? Sie hat einfach Spaß, mit uns zusammen zu sein. Einfach so.«
»Da ist sie nicht die Erste«, entgegnet Jaxon abschätzig.
»Aha?«, fragt Reece. »Und warum bist du dann so gierig nach ihr? Wenn sie dir egal wäre, hättest du nicht dafür gesorgt, dass ich sie nicht ficke.«
»Aus Prinzip«, raunt Jaxon.
»Ja, klar. Da ist natürlich überhaupt nichts zwischen euch. Keine Anziehung, nichts. Sieht man richtig.«
»Geh mir nicht auf den Sack, Crescent.«
»Die anderen Mädchen«, Reece beugt sich vor, spricht leiser, »hatten unter uns einen klaren Favoriten und haben nur etwas mit uns anderen unternommen, weil sie sich alle Optionen warmhalten wollten für den Fall, dass der Favorit sie nicht will. Aber sie will uns alle
»Du machst dich lächerlich«, spottet Jaxon in ebenso leisem Ton.
»Du machst dich lächerlich, weil du immer recht behalten willst. Letztendlich hätte sie sich schon zigmal von mir vögeln lassen, wenn ihr nicht wie Geier dazwischengegrätscht wärt. Ich denke, ich habe eure dämliche Wette gewonnen und darf über sie entscheiden.«
»Und was würdest du in dem Fall tun?«, fragt Jaxon interessiert.
Reece schmunzelt, dann wirft er Zayn und Romeo einen Blick zu, die sich im Hintergrund gehalten haben. »Sie behalten. Logisch.«
»Was genau meinst du damit«, frage ich tonlos.
»Jaxon will sie loswerden. Und du willst, dass sie unbehelligt weiter in Kingston studieren darf. Ich würde entscheiden, dass sie bleiben kann. Und dass sie gleichzeitig uns gehört.«
Ich spüre gleichermaßen Abneigung wie Faszination. Es würde dir nicht guttun, Mable. Es wäre eine Katastrophe für dich. Noch nie hat es eine zwischen uns überlebt …
Jaxon wirkt zufrieden. »Sieh es ein, Sylvian«, züngelt er und nähert sich mir bis auf wenige Zentimeter. »Du kannst sie nicht retten. Nicht mehr.«
»Doch«, raune ich. »Du weißt, dass ich es kann. Und ich werde es versuchen, bis dein Ego endlich auf die Größe zusammengeschrumpft ist, auf die es gehört.«
»Du bist nicht sehr nett zu mir.«
»Und du bist eigentlich ein armseliger Wichser, der sich eine Armee aus Psychos hält, um gegen unschuldige Opfer vorzugehen.«
Jaxons Gesicht wird bleich, und er macht einen großen Schritt zurück, um Distanz zwischen uns zu bringen.
Ich streiche über meine Jacke und starre ihn nieder. »Mach nur weiter so, dann ist es bald nicht mehr der Erbe der Kingston-Linie, der an diesem Campus und im Zirkel das Sagen hat.«
»Du magst sie«, stellt er stimmlos fest. Die anderen Kings sehen mich an, beobachten meine Reaktionen, doch ich ignoriere ihre Blicke. »Du magst sie wirklich.«
»Und?« Ich stehe dazu. Du hast mein Gehirn gefickt, Mable. Seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe, höre ich nicht auf, an dich zu denken und an das, was Jaxon dir antun wird, wenn du ihm in die Quere kommst. Dabei kenne ich dich kaum. Weiß so gut wie nichts über dich. Da ist nur diese Faszination … Diese leidige, quälende Faszination, die mich im Schatten warten lässt, auf dass es einen Tag gibt, an dem ich dir näherkommen kann, ohne dir wehzutun.
Aber wie soll das gehen?
Wie zur verfickten Hölle soll ich meine Dämonen zurückhalten können?
Das schaffe ich nur bei Frauen, die mir nichts bedeuten.
Die in mir dieselbe Leere auslösen wie die meisten anderen Menschen.
Reece kommt näher, die Hände in den Taschen, und betrachtet mich aufmerksam. »Wie sehr?«, fragt er nur. »Wie sehr magst du sie?«
Ich beachte ihn nicht.
»Reece hat eine Frage gestellt«, sagt Jaxon kalt. »Wenn sie dir so viel bedeutet, Sylvian, dann geh mit ihr. Wir stehen eurem Glück sicher nicht im Weg. Sorg einfach nur dafür, dass diese kleine Bitch nie wieder nach Kingston zurückkommt.«
»Geh mit Gott, aber geh«, wirft Zayn feixend von hinten ein, der im Flur neben Romeo zurückgeblieben ist und seine Fingernägel betrachtet, als wären sie der einzige interessante Anblick im Raum. »Warum quälst du dich so sehr, Silvano? Warum quälst du sie ? Ihr könnt abseits von Kingston ein tolles Leben führen. Kauf ihr eine Wohnung in der Stadt, besorg ihr einen Job, damit sie dich nicht vermisst, wenn du in Kingston bist, und vögle sie durch die Weltgeschichte. Sorry, Mann, wieso machst du sie überhaupt zu einem Objekt irgendeiner kranken Wette mit Jax? Was zur Hölle hast du davon, wenn sie in Kingston bleibt?«
Mein Atem rasselt. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt. Zu Recht. Warum will ich deine Zukunft in Kingston unbedingt sichern? Wie weit soll ich dafür noch gehen?
»Er weiß es selbst nicht«, höhnt Jaxon und schon hat er seine Position zurückerlangt. Auch wenn wir uns auf Augenhöhe begegnen, habe ich ihn bisher nie übertrumpft.
Ich schaffe es einfach nicht. Die Kings kennen mich zu gut.
»Fickt euch alle ins Knie«, raune ich, reiße die Tür zu meinem Zimmer auf und verschwinde dahinter. Sie werden nicht folgen, das weiß ich. Solange ich mich von Mable fernhalte, werden sie es akzeptieren, dass ich sie beschütze.
Selbst Jaxon will nicht, dass sein Spielzeug kaputtgeht, bevor die Runde vorbei ist.
Mable sitzt auf einem der Sessel, noch immer in dem verdammt heißen Kleid, das Harper ihr geliehen hat, und blättert in einem Buch.
Etwas ist anders an ihr.
Etwas hat sie getan.
Fuck, wo sind die verdammten Drogen, Mable?
Ich brauche nur das eine Kissen des Sessels anzuheben, um festzustellen, dass sie meine – zugegebenermaßen billigen – Verstecke nicht nur gefunden hat, sondern auch geleert.
Für ein paar Sekunden ist mein Denken wie ausgeschaltet. So viele verschissene Tage und verschissene Stunden habe ich um dieses Mädchen einen großen Bogen gemacht. Mich ferngehalten. Mich zurückgenommen. Aber auf einen Schlag ist alles anders. Meine Finger zucken. Ich habe neun Waffen im Zimmer versteckt. Eine ist fast in Reichweite, und da wäre noch das Messer, das ich immer bei mir trage. Es sind die Instinkte eines Silvanos, dass ich für einen Moment davon ausgehe, Mable hätte mich gelinkt und verraten. Denke, sie wäre von den Cops oder einem meiner Feinde geschickt worden.
Aber das bist du nicht, oder? Du hast keine Ahnung, wer ich bin, und das alles ist ein großer Zufall.
Ich muss mich konzentrieren, in Sekundenschnelle eine Entscheidung treffen.
»Was hast du getan?«, frage ich sie, versuche meine Stimme zu kontrollieren. Normal klingen zu lassen. Gelassen.
Darin bin ich superschlecht.
»Was hast du getan, Sylvian?«, fragt sie mich und klappt das Buch zu. »Ist das der Vorrat an Drogen gewesen, den man im letzten Studienjahr am College braucht, um die Prüfungen zu bestehen?«
Mein rechtes Augenlid zuckt. Normalerweise habe ich weniger Geduld, Baby. »Wo sind die Päckchen?«
»Ich habe sie hier im Raum versteckt.« Völlig gelassen blickt sie mir entgegen. Sie findet mein größtes Geheimnis heraus und zeigt nicht einmal Angst. »Und ich habe die Polizei gerufen. Wenn du mir sagst, wer du bist, was das soll und wie ich dieses verdammte Spiel wirklich gewinne, werde ich dir sagen, wo du die vielen Tütchen findest, bevor sie mit einer Razzia beginnen.«
Blut schießt durch meine Adern wie Treibstoff. Ich mache drei Schritte auf sie zu und ziehe währenddessen mein Messer. Das Butterfly schwingt auf. Mable weiß nicht, wie ihr geschieht, als ich es kurz darauf an ihre Kehle halte. Ihr dunkelblondes Haar fest in meinem Griff. Ihre Augen weiten sich in Todesangst, sie sieht mich an, als wäre ich ein Toter, der sie unter die Erde holen will. Nicht real und doch so nah. Ich schmecke das Blut, das in ihre Wangen schießt, und es wäre so leicht, sie zu verletzen, um von ihr zu kosten …
Erneut zu kosten …
»Sag mir, dass das nicht wahr ist«, verlange ich ruhig. So ruhig und beherrscht, wie ich sein kann, wenn man mir auf diese Weise droht.
Mable zittert am ganzen Körper. Ihre Hände haben sich in den Sessel verkrampft. Mit allem hat sie gerechnet, aber nicht damit, dass ich genauso sein würde wie die Männer, die sie kennt. Schlimmer .
Ich sollte wissen, wie es dir geht. Ich sollte wissen, was eine Universität wie Kingston für Mädchen wie dich bedeutet. Denn ich habe das selbst durch. Für mich war eine gute Schule die Chance, die ganzen Trailerparks, die viele Gewalt, die Kämpfe, Pillentrips und Mafiagangster hinter mir zu lassen. Und genauso geht es dir, Mable.
Du hast gedacht, du würdest dem Scheiß entkommen.
Aber du hast dich geirrt.
Die Kriminellen aus den Slums tragen an der Kingston University maßgeschneiderte Anzüge. Sie sind intelligent, unnahbar und gerissen. Sie werden sich nicht selbst die Hände schmutzig machen, das tun sie nie. Sie sind um ein Vielfaches gefährlicher. Denn vor einem unbedeutenden Gangster könntest du einfach fliehen.
Du ziehst in eine neue Stadt, in ein neues Viertel, baust ein neues Leben auf.
Aber vor den echten Gangstern, vor den Tyrells, den Crescents oder Silvanos, vor ihnen kannst du dich nicht verstecken.
Niemals.
»Sag es mir, Baby«, raune ich.
Sie zuckt zusammen, als der Kosename meine Lippen verlässt. Ich fühle mich ihr so nah wie nie zuvor. Als wäre es eine Erleichterung, dass ich mein wahres Ich nicht mehr vor ihr verstecken muss.
Dass ich nichts mehr vor ihr verstecken muss.
Mables bleiches Gesicht erinnert mich an einen trüben Teich, in dem das Mondlicht schimmert. Sterne erhellen das spitze Ende ihrer Nase und ihre vollen Lippen wirken feucht. Vermutlich hat sie darauf herumgebissen, als sie auf mich gewartet hat. Unsicher, ob sie das Richtige tut. Ob es klug ist, mich zu erpressen.
Du hast es sicherlich schon erraten: Es ist nicht klug.
»Du weißt, dass die Cops nicht kommen werden. Also warum lügst du mich an?«
Ihre Wangen zittern und ihr Mund scheint wie eingefroren. »Würdest du mir wirklich wehtun?«
Und wie ich das würde. »Nein«, lüge ich. »Ich werde dir nichts tun.« Du glaubst mir, oder? So, wie mir all meine Lügen von allen Menschen stets geglaubt werden. Baby, was ich schon für eine Scheiße hervorgelogen habe, das willst du nicht wissen. Lektion eins: Laufe das nächste Mal davon. Lektion zwei: Traue niemals einem King. Ich weiß gar nicht, ob wir die Wahrheit überhaupt noch sagen können . »Du musst mir sagen, wo du sie versteckt hast. Hierbei geht es um mehr. Es geht um Leben.« Es geht nicht um mein Leben. Bullshit. Es geht um deines, Mable. Gerade bin ich wie unter Strom. Ich kann mich nicht davon abhalten, den Teil in mir herauszulassen, den Jaxon erst erschaffen hat. Oder vielleicht war er immer da? Und jetzt hat er im Gegensatz zu früher Formen?
Ich weiß es nicht.
Fakt ist, dass du ordentlich gefickt bist.
So oder so, mich interessiert schon gar nicht mehr, wo du die Scheiße versteckt hast. Allein, dir Angst zu machen, dich glauben zu lassen, dass ich dir die Kehle aufschlitzen würde, einfach so … Weil ich zu den Männern gehöre, die es tun können, ohne jemals dafür belangt zu werden.
Ich nehme das Messer nicht zurück, bohre die Klinge sanft in die weiche Haut ihres Halses. Rieche ihre Angst, wie sie meine Sinne betäubt, das leise Wimmern, die unaufhaltsame Panik, aber da ist auch mehr.
Diese Scheißmagie zwischen uns.
Das Pulsieren von ungesagten Worten.
Ich fühle dich, obwohl ich dich nicht einmal nackt unter mir habe.
Von Anfang an war da mehr.
So viel mehr, als ich zu ertragen weiß.
Lauf weg, Prinzessin.
Lauf, bevor ich meine Zähne in dein Fleisch grabe und dich aussauge wie ein Vampir.
Lauf jetzt!
Sie kann nicht laufen, wenn du sie festhältst, unterbricht eine Stimme meinen Gedankenstrom. Meine eigene Stimme, mein Gewissen.
Ich lasse Mable los, als hätte ich mich an ihr verbrannt, und mache gleich drei Schritte zurück. Mein Atem rast, mein Blut kocht. Nicht ich habe mich verbrannt, vielmehr habe ich sie verbrannt. Habe mit meiner ersten Berührung im Crowns ein Mal gesetzt, das ich nie wieder vergessen kann. Und dieses Mal habe ich vertieft, als ich sie in den Waldboden gedrückt habe. Mein Schwanz so tief in ihr …
»Wieso geht es um dein Leben?«, fragt Mable leise. Ihre Augen sind feucht, und ich verstehe, wenn sie gleich zusammenbricht.
Einfach in sich zusammenfällt wie ein Turm aus bösen Hoffnungen.
Ich habe ihr Angst gemacht. Das war mein Plan. Aber dann ist sie nicht abgehauen und jetzt haben ihr die anderen Kings Hoffnungen gemacht. Das war Jaxons Plan.
Ich habe dich vor ihm gewarnt. Verdammt, Mable! Ich habe dich gewarnt!
Baby, diese Scheißwelt beherbergt zu viele Monster. Jaxon ist eines davon.
Ich bin eines.
Und Reece und all die anderen Kings sind genauso welche.
Warum hast du mir das nicht geglaubt?
Was kann ich anderes tun, als dir diese Tatsache ins Gehirn zu hämmern?
Ich weiß, was ich tun kann.
Ich muss mich entscheiden. Ich muss mich endlich entscheiden, ob ich loyal zu den Kings bin oder loyal gegenüber meinem Gewissen. Gegenüber dir. Ich lasse das Butterfly wieder verschwinden, setze mich auf eine Sessellehne und zünde mir eine Kippe an.
Die Wahrheit.
Sie scheint wie die schlimmste Waffe zu sein.
»Ich habe gelogen.«
»Wann?«, fragt Mable mich, noch immer wie erstarrt. Kann sie sich überhaupt bewegen, selbst wenn sie es wollte?
»Gerade.«
Mable lacht kurz. Ein überraschter Laut gepaart mit Wut und Verzweiflung. Ihr feiner Humor und ihre Fähigkeit, in sämtlichen Situationen die Komik zu sehen, sind zwei der Dinge, die sie auszeichnen.
»Ich werde dich nicht verschonen, wenn du dich mir in den Weg stellst. Das war eine Lüge. Wenn du nicht kooperierst, werde ich dir wehtun müssen.«
»Was bist du? Der Sohn eines Mafiabosses?«
»Schlimmer.«
Sie schluckt merklich. »Stimmt es, was die Frau auf der Party am See zu dir sagte? Bist du ein … Mörder?«
Schlimmer.
»Nein. Aber glaubst du mir das? Du solltest mir nichts glauben. Kein einziges Wort. Jedenfalls nicht mehr, seit Harper dir alles über die Spiele der letzten Jahre erzählt hat. Nicht mehr, seitdem du weißt, dass Jaxon mein Freund ist und ich immer zu ihm stehen werde. Du bist so naiv, Mable«, raune ich. »Du hast nicht wirklich die Cops gerufen, oder?«
Sie schnaubt. Plötzlich ist sie wieder lebendig. »Ich bin naiv? Ich? Wer hat eine Fremde in sein Zimmer gelassen und versteckt seinen gewaltigen Drogenvorrat unter den Kissen, als wären es Pornos oder Kondome? Du bist naiv, wenn du geglaubt hast, ich würde sie nicht sofort finden! Oder wissen es alle? Weiß der ganze Campus, dass du hier dealst? Dass man sich bei dir den nächsten Trip besorgen kann? Dann tut es mir leid, dass mich diese Tatsache etwas überrascht hat. Ich hatte gehofft, ich wäre dem Loch entkommen, in dem ich aufgewachsen bin. Aber ihr seid genauso
»Stimmt.«
Sie kaut wieder auf ihrer Unterlippe. Ich hasse es, wenn du das tust. »Ich habe nicht die Polizei gerufen.«
»Gut.«
»Das wäre schwachsinnig gewesen. Vermutlich hätten sie mich als diejenige hingestellt, die dir das Zeug untergejubelt hat.«
»Wahrscheinlich. Wenn sie überhaupt gekommen wären.«
»Also habe ich sie einfach das Klo runtergespült.«
»WAS?!« Ich springe kerzengerade auf.
Ich weiß, ohne dass ich eine weitere Antwort abwarten muss, dass sie die Wahrheit sagt.
Mables Gesicht wird kreideweiß.
»Du hast sie nicht wirklich …«, murmle ich mehr zu mir selbst als zu ihr und stürme in mein Badezimmer.
Alle Päckchen sind leer und liegen zerstreut auf dem Boden.
Alle.
HUNDERTE!
»Was ist passiert?!« Die Tür meines Zimmers kracht auf und Jaxon erscheint hinter mir im Badezimmer. Zwei Sekunden. Die erste, um zu begreifen, was die ausgeleerten Tüten meines gesamten Drogenvorrats in der Nähe meiner Toilette bedeuten. Die zweite, um in Erfahrung zu bringen, wie ich darüber denke.
Reece taucht neben ihm auf. Er braucht ein paar Sekunden länger.
Wir starren uns an.
Haben wir das erwartet?
Nein.
Mables Mischung aus Abgeklärtheit, Unverfrorenheit, grenzenloser Naivität und der völligen Selbstüberschätzung schafft eine Situation, die uns überrascht. All diese Komponenten in einem Cocktail vermischt …
Tödlich, Mable. Tödlich.
»Okay, jetzt ist sie fällig«, raunt Jaxon so leise, dass Mable ihn nicht hören kann. »Selbst du willst es.« Er sieht mich herausfordernd an.
»Du bist ein nerviger Wichser, Jax«, zische ich.
Jaxon feixt. »Und du bist ein braver, böser Junge, Sy.«
Innerlich trage ich Kämpfe aus, die niemand durchstehen würde, der nicht ich ist. Ich bin ein verdammter Psycho und das weiß ich. Selbst das Nikotin kann mich nicht mehr bändigen.
So viele Warnungen hast du ignoriert, Mable.
So viele Hinweise übersehen.
Du hättest gehen können.
Laufen.
Ja, du hättest wenigstens unausstehlich sein können, unfickbar, eine Frau, die niemand will!
Stattdessen weckst du die Hunde in uns. Die Bestien.
»Du willst es«, flüstert Jaxon.
Mein Kopf schmerzt von all dem Widerstand, der mich an Ort und Stelle kettet. Ich will es nicht. Nicht mehr. Ich bin kein Monster. Kein verschissenes Monster.
»Ich werde dir helfen, dich zu kontrollieren«, verspricht Jaxon und in diesem Moment lässt er es frei. »Du hast die Wette gewonnen, Silvano. Du hast sie die ganze Zeit nicht angerührt und das erkenne ich an. Aber jetzt … ist es so weit.«
Die Leinen lösen sich, meine innere Anspannung verpufft. Jaxons Kontrolle ist das Einzige, das mich daran hindern wird, Mable zu verletzen. Er wird darauf achten, dass ich dir nicht doch aus Versehen mit dem Butterfly in die Haut schneide. Ich brauche Jaxon genauso sehr, wie ich ihn am liebsten umbringen würde.
Als wir zurück in mein Schlafzimmer gehen, steht Mable aufrecht da. Wie eine Königin. Unbeugsam, verführerisch wartet sie darauf, dass wir sie entthronen.
Oder doch krönen?
»Ihr habt mich einer Hölle aus Mobbing ausgesetzt«, gibt Mable gepresst von sich. Du bist sogar noch so dumm und erklärst dich. Bietest uns die Stirn. Was hat man bei dem Verdrahten deiner Synapsen falsch gemacht? Wieso empfindest du niemals Angst? »Ihr habt dafür gesorgt, dass ich mich lächerlich gemacht habe, dass mein Wohnheim überschwemmt wurde, dass ich als Kellnerin ständig aufpassen muss, nicht geschubst zu werden. Ich werde in meinem Flur von ekligen Studenten angesprochen, ob ich ihnen nicht eine ›Gefälligkeit‹ für Punkte tun will, und meine Kommilitoninnen sehen in mir einen Gegner. Ihr habt ein verdammtes Spiel rund um mein Stipendium entwickelt, mich gegen die anderen antreten lassen, als wäre ich nichts weiter als eine Spielfigur in eurer verschissenen Welt aus elitärem Denken. Eine Figur, die man opfert, für nichts als Spaß. Jaxon hat mich in einem verdammten Wald ausgesetzt, und ich habe trotzdem jede eurer Lügen geglaubt, euch angefangen zu vertrauen. Wollte mir unbedingt einreden, dass ihr nichts mit diesem Kindergarten zu tun habt.« Mables Stimme wird lauter. Wir stehen da, jeder von uns wie ein hungriges Tier. Sie gibt uns Wort für Wort einen weiteren Grund, sie zu zerfleischen. »Eure Verführungskünste waren fantastisch, ich bin wirklich drauf reingefallen. Aber dann finde ich diese verschissenen Drogen, Hunderte Päckchen und Pillen und massenweise Kokain, und sie sind nicht mal versteckt! « Ihre Wangen fangen Feuer, und ich spüre, wie alles in mir danach giert, ihren gesamten Körper in Brand zu stecken. »Ihr seid wirklich … Kinder. Kinder, die glauben, diese Welt wäre ein Spielplatz, die nie gelernt haben, dass es Leid und Armut und Hunger gibt, die sich nicht vorstellen können, was es bedeutet, hart dafür zu arbeiten, dem Elend zu entkommen! Ihr verteilt diese verschissenen Drogen und denkt, sie sind genauso wie alles andere nichts weiter als ein Spiel! Aber Menschen sterben deswegen! Sie werden krank und süchtig und begeben sich dann für immer in die Abhängigkeit von asozialen reichen Leuten, wie ihr es seid! Es war das Mindeste, was ich tun konnte, das einzige kleine bisschen, mit dem ich euch treffen kann! Denn ich weiß, dass ich dieses ›Spiel‹ niemals gewinnen werde! Ihr werdet dafür sorgen! Denn es kratzt so sehr an eurer Ehre, dass ich gar nicht erst mitspiele, deshalb würdet ihr mich niemals gewinnen lassen! Selbst wenn ich es noch so sehr verdiene!«
Mable hat sich in Rage geredet, die Stimme erhoben und die Temperatur meines Blutes bis zu einem gefährlichen Siedepunkt getrieben.
Da steht sie und ist immer noch hinreißend. Ihr klarer Blick, den sie uns trotzig entgegenwirft, die schlanken Schultern, die in ihren grazilen Hals übergehen. Die im Kleid zusammengepressten, runden Brüste und ihre halb nackten Beine. Weiß, samtig, makellos. Mable ist begehrenswert as fuck und die schönste Frau, die ich seit Langem in meinem Zimmer hatte. Vielleicht, weil sie wirklich wie ein kleines Vögelchen ist. Ein Kolibri, der zart zwitschert und ein fröhliches Liedchen singt, während er nicht bemerkt, dass er die Bestie mit seinem nervigen Geflattere in den Wahnsinn treibt.
Jaxon tut nichts weiter, als die Hand zu heben. Ein einfaches Zeichen, eine schnelle Bewegung.
Verunsicherung flackert in Mables Miene auf. Sie erwartet kein Schweigen, sondern eine Antwort.
Eine Reaktion.
Oh, die wirst du bekommen, keine Sorge.
Reece geht auf Jaxons stummen Befehl hin zur Tür und verriegelt sie von innen. Niemand, der uns stören wird. Stunden für uns ganz allein.
Mable sieht zu uns auf, beobachtet uns, wie wir uns nähern.
Oh mein kleines, naives, unschuldiges Vögelchen.
Es ist Zeit, dass du endlich Feuer fängst.
Du wirst brennen müssen.
Denn nur aus Asche kann ein Phönix entstehen.