Fünf­und­zwanzig
Mable
M ein Plan beginnt damit, dass ich mein Zimmer auf den Kopf stelle. Ich vertraue niemandem mehr, schon gar nicht den Königen. Wer sagt, dass sie hier nicht eingedrungen sind und etwas platziert haben? Etwas, das schlimmer ist als eine Kröte?
In jeder einzelnen Ecke suche ich nach Spuren. Kameras. Wanzen? Was auch immer.
Am Ende stelle ich beruhigt fest, dass weder etwas fehlt noch mein Tresor geknackt wurde oder irgendetwas zu finden ist, das an ein faschistisches Überwachungsnetz erinnert.
Bis zu den Prüfungen sind es noch elf Tage. In der letzten Vorlesungswoche wird kein neuer Stoff mehr behandelt. Wenn ich nicht in die Kurse gehe, verpasse ich zwar die Prüfungsvorbereitung, aber ich bleibe gegebenenfalls länger am Leben. Außerdem muss ich sowieso in erster Linie für mich allein lernen.
Ich klebe ein paar leere Seiten aus meinem Block zu einem großen Plakat zusammen und schreibe eine Nachricht an alle darauf, die das Semester über nicht ganz so erfolgreich waren wie ich. Zwar habe ich keine Ahnung, ob meine Idee funktioniert, doch viel mehr Möglichkeiten bieten sich mir nicht.
Ich ziehe die Jalousien wieder hoch und befestige das Plakat an meinem Fenster. Dann verstaue ich den Vorrat an Essen in meinem Schrank, den ich in der Kantine erfragt habe, setze mich hinter meinen Schreibtisch, schalte meinen Laptop an und beginne zu studieren. Der Grund, weshalb ich in Kingston bin. Wenn ich mein Zimmer nicht verlasse, kann mir niemand etwas tun.
Ganz einfach.
Und ich kann mich darauf konzentrieren, Punkte zu sammeln.
Viele Punkte.
Eingesperrt zu sein ist ein völlig neues Gefühl von Freiheit. Warum bin ich nicht gleich auf die Idee gekommen, so wenig Zeit wie möglich auf dem Campus zu verbringen? Allerdings weiß ich auch, dass es nur eine vorübergehende Lösung ist. Niemanden fragen zu können, weder einen der Tutoren noch einen der Professoren, nagt an meiner Selbstsicherheit. Was, wenn ich ein Thema doch nicht ganz verstehe?
Ich habe meinen Schlafrhythmus kurzerhand umgestellt. Mein Wecker klingelt um vier Uhr. Von fünf bis sechs halte ich mich draußen auf, gehe spazieren, werde wach und gehe im Laufschritt meine Notizen durch, die ich für die Prüfungen brauche. Gegen sieben Uhr wacht der Campus auf und ich verriegele die Tür hinter mir.
Dann kommen die Nachrichten.
Dass ich so viele erhalten würde, hätte ich nie gedacht. Aber es ist fast lächerlich leicht, die Hausarbeiten für meine Mitstudenten zu überarbeiten oder ganz zu schreiben. Es ist das erste Semester. Im Grundstudium. Mehrere Monate intensives Lernen liegen hinter mir. Das meiste, das von meinen wunderbaren Punkte-Sponsoren, die auf mein Plakat reagiert haben, verlangt wird, schreibe ich in wenigen Stunden runter. Bei den Nachrichten einiger frage ich mich allerdings, wie sie es überhaupt nach Kingston geschafft haben … Mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, wie dämlich es ist, die Hausarbeiten anderer zu schreiben oder zu überarbeiten.
Hauptsache, ich erhalte dafür Punkte.
Als der Freitag der Dead Week vorbeigeht, der Woche, in welcher der Campus in einen komatösen Lernmodus verfallen ist, nehme ich das Plakat mit der Aufschrift ›Schreibt mir für 10 Punkte‹ von meinem Fenster. Dass auch Professoren diese ›Werbung‹ möglicherweise zu sehen bekommen haben, war ein Risiko. Aber wenn sie so tun, als gäbe es dieses Spiel nicht, warum sollten sie dann wissen, wofür die zehn Punkte stehen?
Am Montagmorgen gehe ich das erste Mal nach fünf Uhr morgens in unsere Wohnheimküche. Der Aushang am schwarzen Brett, der normalerweise die Wochenchallenge anzeigt, fehlt. Kein guter Start in die Prüfungswoche.
Ich vermeide es, mich allzu lange in der Küche aufzuhalten, und mache mich auf den Weg zur ersten Prüfung. In der Hoffnung, eine der Ersten zu sein und von niemandem am Betreten des Hörsaals gehindert zu werden, bin ich eine Stunde zu früh aufgebrochen.
Nervös gehe ich meine Notizen ein letztes Mal durch. Die Zwischenprüfungen waren bereits hart. Bin ich gut genug vorbereitet für die Finals ?
Als der Hörsaal sich langsam füllt, beachtet mich niemand. Schließlich gehe auch ich vor, bestätige meine Identität und setze mich zurück auf meinen Platz.
Ich merke zum ersten Mal, dass niemand im Raum darauf aus ist, mir einen blöden Spruch zuzurufen. Das muss die Prüfungssituation sein. Sie wollen bestehen. Sie haben keine Zeit für Mobbing.
Ich gebe meine Lösungen zwanzig Minuten vor Schluss ab und kann damit vor allen anderen den Hörsaal verlassen. Auf direktem Wege laufe ich zurück zum Wohnheim. Da alle Prüfungen parallel stattfinden, ist der Campus wie leer gefegt und ich komme unbeschadet in meinem Zimmer an.
Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe, atme ich erleichtert auf.
Das ist kein Leben, Mable. Das hältst du nicht durch. Nicht viel länger als ein paar Tage.
Ich schiebe die nagenden Gedanken beiseite, die mich daran erinnern, dass ich für einen Kampf gegen drei Arschlöcher in einen Ring gestiegen bin, für den ich nie ausreichend gewappnet sein werde. Und das, obwohl ich Boxkämpfe hasse . Nach wie vor will ich überhaupt nicht gegen eine der anderen Stipendiatinnen gewinnen.
Ich will dieses bescheuerte Spiel nicht spielen.
Doch habe ich eine Wahl?
Zur Belohnung für meine Prüfung, von der ich ziemlich sicher bin, sie bestanden zu haben, nehme ich eine Dusche und drehe das Wasser heiß auf. Während mich die Hitze umspült, gehe ich alle Rechnungen der Prüfung erneut durch. Ich habe keinen Fehler gemacht, oder?
Meine Haut beginnt schrumpelig zu werden, als ich das Wasser ausstelle. Ich schlinge ein Handtuch um meinen Körper, gehe zurück in mein Zimmer und bemerke, dass ich mir zu viel Zeit gelassen habe.
Meine Tür steht offen.
Die anderen Stipendiaten sind von ihren Prüfungen zurück.
Schnell stürme ich durch die offene Tür, schließe sie hinter mir und überprüfe meinen Safe. Meine Notizen, meine gesamte Prüfungsvorbereitung und mein Laptop sind noch da.
Dafür ist etwas mit meiner Kleidung.
Ich ziehe einen meiner liebsten Pullover aus meinem Kleiderschrank hervor. Er zerfällt dabei in mehrere Teile.
»Nein.« Tränen schießen mir in die Augen. Alle meine Klamotten sind zerschnitten. Jedes einzelne Teil. Selbst meine Slips. Und auch die superteuren hochwertigen Kleider, Hosen und Shirts von Harper.
Ich sinke zu Boden, kraftlos und erschöpft. Eine Viertelstunde. Eine Viertelstunde bin ich zu spät aus der Dusche gekommen und schon wurde ich einem neuen Streich ausgesetzt. Einem, der schlimmer ist als alle anderen zuvor. Denn ich brauche etwas zum Anziehen. Es sind fünf Grad draußen und jeden Tag könnte es schneien.
Das schaffe ich nicht , flüstert eine Stimme in mir. Das schaffe ich niemals. Ich kann mich nicht dagegen wehren, wenn alle gegen mich sind. Jeder einzelne von ihnen. Jeder.
Unter Tränen breite ich meine Kleidung auf meinen zwei Betten aus. Es ist nichts zu retten. Wenn, dann bräuchte ich eine Menge Sicherheitsnadeln, Nähzeug, am besten eine Nähmaschine …
Meinen Wintermantel haben sie sogar ganz entwendet.
Ich lasse die Punkte wieder vor meinem inneren geistigen Auge erscheinen.
Hausarbeiten. Challenges. Sex.
Niemand muss dieses Semester mehr Hausarbeiten abgeben. Die Challenges sind vorbei. Und ›Gefälligkeiten‹ aka Sex sind keine Option.
Wer weiß schon, wie viele Punkte die anderen Stipendiatinnen in der Dead Week gesammelt haben?
Kann ich überhaupt gewinnen?
Oder wäre es leichter, aufzugeben?
Mein Handtuch fest um meine Brust gewickelt, muss ich die Mission verfolgen, mir Verbündete zu suchen. Es gibt keine andere Option. Allein schaffe ich es nicht.
Niemals.
Mit zitternden Fingern greife ich zu meinem Handy. Ich weiß, dass es der kürzeste Strohhalm ist, nach dem ich greife. Aber es ist das Einzige, was mir einfällt.
Bitte. Schreib mir.
Was? , antwortet Harper nach kurzer Zeit.
Sie hat mich noch nicht blockiert. Das gibt mir Hoffnung. Obwohl ich mich bei ihr entschuldigen sollte. Obwohl ich sie um Hilfe bitten sollte, bringe ich nur einen Satz zustande:
War alles eine Lüge?
Sie antwortet nach ein paar Minuten.
Sag du es mir. War es?
Ich spüre den Knoten in meinem Hals und lasse das Handy sinken. Sie wird mir nicht helfen, weil ich sie betrogen habe. Verzweifelt scrolle ich durch meine sonstigen Chats und durch das Uninetzwerk. Doch dort haben mir nur Studenten wegen ihrer Hausarbeiten geschrieben. Auch hier lande ich auf Harper Mitchells Namen. Sie hat ihr Profilbild geändert. Weil ich ein wenig masochistisch bin, will ich sehen, ob sie vielleicht wieder ein Bild von sich und Clarisse hochgeladen hat, und gehe darauf, um es zu vergrößern. Stattdessen ist es ein Foto, wie sie sich von hinten in die Haare greift. An ihrem Finger ein protziger Diamantring.
Ich sinke zurück und schließe die Augen, damit der Schmerz mich nicht ausknockt. Ich kann mir denken, mit wem sie sich verlobt hat.
Und es tut mehr als alles andere weh.