Sechs­und­zwanzig
Mable
A bgesehen davon, dass in meinem Bett die Lattenroste fehlen, meine Schubladen mit Sekundenkleber zugeklebt wurden und in die Lebensmittel in meinem Kühlschrank Waschmittel eingefüllt wurde, was ich fast zu spät bemerkt hätte, verläuft die Prüfungswoche entspannt. Zwar muss ich am Mittwochabend eine Ratte aus meinem Zimmer entfernen, die jemand vor meinem Safe abgelegt hat, aber am Donnerstag lebe ich noch immer. Egal, wie oft ich meine Zimmertür verriegle, sie bekommen sie immer wieder auf. Vermutlich gibt es einen Generalschlüssel, und ich gewöhne mich langsam an den Gedanken, dass ich in meinem Zimmer nur dann sicher bin, wenn ich vor dem Schlafengehen eine Kommode davorschiebe.
Neue Kleidung habe ich mir von den Stipendiaten geklaut, die eine Etage über uns wohnen. Die Klamotten stehen mir nicht, und ich sehe aus, als würde ich Säcke tragen, aber wenigstens lassen sie mich damit davonkommen. Vielleicht haben sie es auch gar nicht herausgefunden, weil wir uns so gut wie nie auf dem Campus begegnen.
Bisher habe ich keine einzige Prüfung vergeigt.
Es sind nur noch vierundzwanzig Stunden, bis ich erfahre, ob ich das Blatt des Spiels zu meinen Gunsten wenden konnte. Als ich nach meiner Prüfung am Donnerstag auf mein Wohnheim zugehe und die Tür öffne, werde ich plötzlich zurückgerissen.
Ich weiß nicht, warum mir der Geruch schon so vertraut ist, aber ich erkenne sofort, dass es Reece ist, der mich hält. Und davor bewahrt, dass der Eimer, der über dem Eingang zum Wohnheim installiert wurde, sich über meinem Kopf ausleert. Rote Flüssigkeit ergießt sich auf den Fliesenboden und einige dicke Wattepfropfen schwimmen darin.
»Gott, sind das benutzte Tampons?«
Reece lässt mich los, und ich mache noch einen Schritt zurück, damit das blutverfärbte Wasser nicht meine Schuhspitzen erreicht.
»Sie gehen wirklich über den Campus und sammeln ihre Tampons, nur für mich?«
»Scheint so.«
»Sie wissen, dass ich immer als Erste von den Prüfungen zurückkehre, und haben das nur für mich gemacht«, murmle ich mehr zu mir als zu ihm. »Danke.« Ich sehe Reece nicht an, weil ich keine Lust habe, mit ihm zu sprechen. »Willst du zu Rachel?«
»Zu wem?«
Okay, jetzt sehe ich ihn doch an. »Rachel.«
Seine Miene wirkt, als wisse er wirklich nicht, wen ich meine.
»Die Stipendiatin, deine neue Freundin?«, helfe ich ihm auf die Sprünge.
»Ah«, macht er und schüttelt den Kopf. »Die.«
»Ja.« Okay, wie viel hat er geraucht, dass er nicht mal mehr ihren Namen weiß?
»Nein, ich wollte zu dir.«
»Oh, schön. Leider werde ich dich nicht reinbitten.« Ich lächle ihn zuckersüß an und überlege, wie ich mein Zimmer erreiche, ohne durch Blut laufen zu müssen.
»Dann reden wir hier.«
Ich atme tief durch. »Nein. Ich habe dir nichts zu sagen, und du wirst nichts sagen können, was ich hören will. Also lassen wir es einfach.«
»Du bist viel redseliger geworden im Vergleich zum Anfang. Schlagfertiger. Das ist … cool.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. Reece, der ewige Sunnyboy, ist in eine schwarze Steppjacke gekleidet und trägt einen weißen Schal locker um seinen Hals geschlungen. Ich trage mehrere Pullover übereinander, weil ich keine Jacke mehr besitze. Sehnsucht entsteht in mir, sobald ich für einen Moment mehr von ihm in Augenschein genommen habe als sein Gesicht. Da ist diese Hitze bei dem Gedanken daran, wie er in mir war, sich mit Sylvian abgewechselt hat … Wie er unter mir lag, ich auf ihm kam, wie sein Schwanz in meinem Mund …
Fuck.
»Du denkst auch ständig daran zurück, hm?«, fragt er und tritt unmerklich näher. »Ich bin hier, um … mich gewissermaßen zu entschuldigen.«
Ich horche auf. »Wirklich?«, wispere ich, werde von so viel Hoffnung durchströmt, dass ich erst jetzt merke, wie sehr ich mich nach einem Happy End sehne. Nach einem Erwachen aus diesem bösen Traum. Ich bin stark. Ich tue stark. Ich meistere die Situation – irgendwie. Aber im Innern bin ich gebrochen. Im Innern will ich nicht, dass Sylvian sich mit Harper verlobt und mich beide wie Dreck behandeln. Im Innern sehne ich mich nach Reece’ lockeren Sprüchen und seinen zärtlichen Berührungen. Im Innern wünsche ich mir, dass Jaxon nicht nur ein King ist, sondern ich seine Queen.
Im Innern bin ich längst verloren.
Absolut und unwiderruflich verloren.
»Ich weiß nicht, ob es als Entschuldigung durchgehen wird, was ich sage. Aber es ist zumindest eine Erklärung.«
»Warum ihr … so zu mir seid?«
Reece nickt. Es passiert nicht häufig, aber gerade bevölkern Schatten seine ansonsten so glänzende Miene. »Ich sage dir das im Vertrauen. Weil ich dich mag, Mable. Ich mag dich einfach, ohne Hintergedanken oder Umschweife. Aber Jaxon plant deinen Untergang, wenn du nicht gehst. Das haben wir ja von Anfang an gesagt.«
»So? Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du so etwas gesagt hättest.«
Reece atmet tief durch. »Ich bin vermutlich nicht der Richtige, um es dir zu erklären. Aber diese Universität ist nicht ganz das, was sie nach außen zu sein scheint.«
»Ach was.« Ich rolle mit den Augen. Märchenstunde mit Reece? Es könnte mich schlimmer treffen. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Spar dir deinen Zynismus.«
»Wirst du mir erklären, warum du bei so einer Scheiße mitmachst? Warum du dich nicht gegen Jaxon stellst und zusiehst, wie ich leide?«
»Das kann ich nicht.«
»Weil du nicht darfst.«
Er knurrt. »Weil ich es nicht erklären kann. Es geht an dieser Hochschule um mehr als ums College. Um wesentlich mehr als um einen Abschluss. Deswegen seid ihr Stipendiatinnen auch nicht besonders beliebt. Die Leute hier glauben, dass ihr ihnen etwas wegnehmen werdet. Es ist ein bisschen … wie das Phänomen des Mexikaners, der angeblich die Jobs in den Südstaaten stiehlt, obwohl er nicht mal Englisch spricht.«
»Es beeindruckt mich, dass du so ein Verhalten kritisch siehst.«
»Ich sehe es nicht kritisch. Menschen reagieren nun mal so. Sie haben Angst vor allem Möglichen und sehen in jedem eine Bedrohung.«
»Du findest es also okay, was um mich herum geschieht? Weil Menschen nun mal Angst haben und so sind?«
»Was hat das mit ›okay finden‹ zu tun, wenn es mir egal ist?«
»Du tolerierst es. Das ist mit ›okay finden‹ gemeint. Wäre es dir nicht egal, würdest du es nicht tolerieren.«
Reece betrachtet mich, als wäre ich ein dummes Zootier. »Nein. Du bist mir nicht egal.«
»Toll. Und was kann ich mir davon kaufen? Für einen Gewinn hat es doch nicht gereicht. Ihr habt mich angelogen!«
»Haben wir nicht! Du hättest gewonnen, wenn du einfach nur eine Nacht im Verbindungshaus verbracht hättest! Aber du musstest ja unbedingt Sylvians Vorrat wegschütten und dich von uns …« Er seufzt und fährt sich angespannt durchs Haar. »Du bist einfach so naiv wie eine Raupe, die denkt, ihr natürlicher Feind wäre ein Vogel, und dann von einer Schuhsohle zerquetscht wird.«
»Was möchtest du mir eigentlich sagen, Reece?«
»Wenn du glaubst, jeder auf dieser Welt sei schuldig an deinem Leid, nur weil er nichts dagegen unternimmt, bist du in Kingston falsch . Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld . Bisher hat niemand, der nicht ein achtstelliges Vermögen hat, hier je einen Abschluss erlangt. Kingston sortiert nicht nach Rasse oder Herkunft oder Religion. Diese Universität verbindet Familien, die Geld haben. Und was passiert, wenn ein College sich auf diese Weise nach außen hin positioniert?«
»Es zieht noch mehr Geld an?«
»Richtig. Seit Jahren gibt es niemanden, der in den Staaten geboren wurde und reicher ist als die Absolventen von Kingston. Und nun denke ein wenig weiter und du weißt, dass es hierbei nicht ums Studieren geht. Nicht nur.«
»Es geht darum, euch zu vernetzen, damit ihr weiterhin die oberen Zehntausend bleibt?«
»Ja. Genau. Der Abschluss in Kingston, vor allem der Masterabschluss, eröffnet einem eine völlig neue Welt. Ihr Stipendiaten nehmt vielleicht Plätze weg.«
»Plätze?«
»Im Zirkel.«
»Im Zirkel?!«
»So heißt der Verbund, in den man mit summa cum laude aufgenommen wird. Deswegen haben viele hier ein großes Interesse daran, euch zu vertreiben.«
»Ich will überhaupt nicht in irgendeinen Zirkel aufgenommen werden!«
»Oh, das entscheidest nicht du. Wenn sie dich wollen , wirst du Teil davon.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust und sage nichts dazu. All das klingt nach einer weiteren Lüge. »Und wie seid ihr auf die Bestenliste gekommen? Habt ihr bewiesen, dass ihr besonders große Arschlöcher sein könnt?«
In seinen Blick tritt eine Müdigkeit, die von mir Besitz ergreift wie eine schleichende Krankheit. »Mable, was hältst du davon, wenn du einfach gehst und das alles hinter dir lässt?«
»Was?«
»Du musst hier nicht studieren. Du hast tausend andere Optionen. Dein Leben könnte leicht sein. Weißt du, vielleicht treffen wir uns in drei Jahren nach meinem Master und setzen den Anfang unserer sehr interessanten Lovestory fort. Wir könnten eine glückliche Ehe führen. Du bist auf einen Schlag reich, lässt mich alles vögeln, was ich will, wir haben ab und an im Ehebett Spaß, und irgendwann, wenn ich keine Lust mehr habe, auswärts zu essen, kriegen wir Kinder. Und wenn nicht jemand wie ich da sein wird, dann jemand anderes. Du könntest einen Großteil der Männer, die hier studieren, spielend leicht um den Finger wickeln, wenn du wolltest. Du musst einfach nur akzeptieren, dass es für dich mehr nicht geben wird. Dass du kein Studium an einer Eliteuniversität absolvieren kannst, du vielleicht schlechter gestellt sein wirst als der Mann, den du heiratest. Aber was ist das alles gegen das, was dir hier passiert ist?«
»Was passiert ist?«, frage ich forsch. »Du meinst, eine Spielfigur in eurem bescheuerten Spiel gewesen zu sein? Das Mobbing ist es nicht wert, meinen Traum aufzugeben.«
»Warum nimmst du es nicht ernst?«
»Weil es albern ist!«
Reece’ Lider sind halb geschlossen. Ich weiß, dass er mir nicht mehr sagen wird. Dass er vermutlich schon jetzt mehr gesagt hat, als er eigentlich wollte. »Was bringt es, an deinem Stolz festzuhalten? Behalt es im Hinterkopf. Dass Aufgeben die bessere Option ist. Und ja, ich kann dir nichts versprechen, aber eine Frau, die mich heiratet, um den Schein zu wahren, und die etwas erträglicher ist als Clarisse …« Er lacht, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkt, wird aber sofort wieder ernst. »Es wäre eine Option. Für viele von uns ist es eine. Jedenfalls für die, die genug Geld haben, und davon hat meine Familie wahrlich genug. Frauen aus unseren Kreisen sind anstrengend. Das hast du ja schon festgestellt, oder?«
»Es stimmt, dass ihr mich nur rumkriegen wolltet?«, frage ich ihn direkt. »Dass es nur um Sex ging?«
Reece vergräbt die Hände in den Taschen seines Mantels. »Gewissermaßen, ja.«
»Es war alles nur ein Spiel? Jede einzelne … Geste? Jedes Wort?«
Er verzieht das Gesicht, als würde ihm das Folgende Schmerzen bereiten. »Für mich nicht.«
Ich schlucke hart. Warum glaube ich plötzlich, er sagt zum ersten Mal die Wahrheit?
»Normalerweise …«
»Sag es einfach, Reece«, fordere ich kalt.
Er presst die Lippen zusammen und überlegt eine Weile, bevor er gedämpft weiterspricht. »Nein, ich kann nicht. Ich kann dir nicht unsere gesamten Abgründe offenbaren. Deswegen bin ich auch nicht hier.«
»Sondern? Um mir zu erklären, warum ausgerechnet ich ausscheiden soll?«
»Ja.« Er sieht für einen Moment in die Ferne, als wolle er mir unbedingt etwas beichten. Aber er tut es nicht. Er schweigt und lässt mich darüber klar werden, dass ich selbst schuld bin. Dass es ist, wie sie es sagen. Dass ich mit dem Sex dafür gesorgt habe, dass ich rausgeworfen werde. Die gezeichneten Pimmelberge auf ihren Autos haben das Prozedere vermutlich nur beschleunigt.
Dumme, dumme, naive Mable.
»Wie kannst du mit … so was leben?«, bringe ich stockend hervor. »Ich meine, wer kommt überhaupt auf so … fiese Ideen? Dir ist schon klar, dass es mir einfach gefallen hat, oder? Dass ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht habe, wer ihr seid oder was das für meine Karriere bedeuten könnte. Oder dass ich nicht auch nur einmal dachte, ihr würdet mich ›benutzen‹. Es war einfach … Es wart einfach … ihr. Warum wollt ihr mich für meine Gefühle so sehr bestrafen?«
Reece blickt mittlerweile gequält drein, als wären allein meine Worte Folter für ihn. »Bitte geh einfach. Es wäre das Beste für dich.«
»Ich werde nicht gehen«, murmle ich wütend. »Was habe ich Jaxon getan, dass er ausgerechnet mich zerstören will? Warum nicht eine der anderen Stipendiatinnen? Was ist an mir besonders?«
Reece seufzt. Seine Augen huschen durch den Park, als wolle er sichergehen, dass niemand lauscht. Dann beugt er sich in meine Richtung. Unvorstellbar, dass ich all diese Gefühle für ihn empfunden habe, dass er in mir war, nackt und himmlisch, und wir jetzt so tun, als wäre nie etwas passiert. War es für ihn wirklich bedeutungslos? Was empfindet er für Rachel? Hat er sie nur benutzt, um mich zu verletzen? »Also …« Reece senkt die Stimme, sodass sie rau und verführerisch klingt, doch ich lasse mich nicht mehr davon einlullen. »Es ist schon kaum auszuhalten, wenn Jaxon jemanden hasst . Aber viel schlimmer, viel, viel schlimmer ist es, wenn er jemanden mag . Du warst eine Spur zu … intim mit ihm. Jetzt wird er dich zerstören wollen, allein, um den Teil in sich abzutöten, der etwas anderes fühlt als Gleichgültigkeit und Abscheu.«
»Wow. Was für eine Erkenntnis«, spotte ich.
»Glaub mir.« Ein flehentlicher Ausdruck entsteht in Reece’ Gesicht, und ich bin kurz davor, auf ihn zu hören. »Wenn du nicht verschwindest, wird Jax über Leichen gehen. Aber wenn du dich ihm weiterhin widersetzt, wird er dich selbst töten. Sei einfach … nicht ganz so lebensmüde, ja?«
Ich spüre, wie sich Speichel in meinem Mund gesammelt hat, sehe Reece ein letztes Mal an und spucke ihm vor die Füße. »Auf dass du der Nächste bist, den er killt.«
Damit steige ich erhobenen Hauptes über die Blutlache und Tampons am Boden.
Ich bin mir sicher, dass er mir eine ganze Weile hinterhersieht.