1. Gestatten, Harley. Harley Davidson.
„Er hat es NICHT gelesen. Nicht einmal die E-Mail mit dem PDF aufgemacht. So ein Arsch! Ich schwöre dir, irgendwann bringe ich den Typen um. Drehe ihm eigenhändigen den Hals um.“
„Aber wäre das nicht schlecht für die Karriere?“
Den letzten Rest ihrer Zigarette gierig inhalierend, drehte sich Linnea zur Seite und blickte Sarah wütend an. Die Chefin von SMT schien mehr amüsiert als mitfühlend.
„Und wenn schon, meine Karriere ist ohnehin im Arsch, wenn wir wegen diesem Idioten jedes Take zweimal öfter machen müssen.“
Sie standen außerhalb des als Set definierten Bereiches, in jener rechtsfreien Zone, in der sie tatsächlich rauchen konnte, ohne eine Sammelklage der Filmcrew befürchten zu müssen. Die späte Nachmittagssonne tauchte den staubigen, niedergewalzten Lehmboden des Industriegeländes in ein warmes, goldgelbes Licht, ließ die Maschendrahtzäune ein bizarres, immer länger werdendes Schattengewirr auf ihn werfen. Die Hitze des Tages wich langsam jener angenehmen, milden Temperatur, die um diese Jahreszeit die Abende dominierte. Linnea hoffte, dass dieses herrliche Wetter auch noch über das Wochenende anhalten würde. Sie hatte große Pläne.
Verwundert von Sarahs Schweigen, blickte sie ihre Bekannte (oder doch Freundin?) an, die auf einen Schlag leichenblass wurde und ihr wortlos den großen Starbucks Becher in die Hand drückte, ehe sie sich mit hastigen Schritten hinter einen Container verzog.
Mit einer Mischung aus Bedauern und Amüsement hörte Linne zu, wie sich Sarah Meyer geräuschvoll übergab, zwischendurch herzhaft fluchte – und schließlich kopfschüttelnd zurück kam und sich einen Stoß Atemfrisch verpasste.
„Verdammt nochmal, mit Morgenübelkeit habe ich ja gerechnet – aber mit Abendübelkeit? Was soll der Scheiß?“
Linnea zuckte mit den Schultern. DIESE Erfahrung hatte sie noch nicht gemacht. Und war sich noch nicht einmal sicher, ob sie irgendwann einmal nachziehen würde.
„Was sagt der Arzt?“
Sarah schnaubte.
„Alles in Ordnung, alles normal, aber angeblich ist es trotzdem eine Risiko Schwangerschaft. Wegen meines hohen Alters. Verdammt, Linnea, ich bin 39!“
Dazu sagte Linnea lieber nichts. Es war definitiv der falsche Zeitpunkt, auch nur einen Seitenhieb darauf zu bringen, dass Sarah nunmal ein halbes Jahrzehnt älter war als sie selbst. Außerdem – sie beide wussten, dass das Alter nicht der einzige Faktor war. Sarah hatte einen Mordanschlag ihres Ex-Lovers nur knapp überlebt, beinahe eine Niere dabei verloren. Aber das war etwas, über das die toughe Talentagentin nicht gerne sprach. Zeit, das Thema zu wechseln.
„Was verschafft mir die Ehre? Willst du dich dafür bedanken, dass ich deinen Lover auch in der zweiten Season als Lead behalten habe?“
Sarah lachte auf.
„Verlobter, bitte, so viel Zeit muss sein. Und wenn ich mich recht erinnere, hat er euch eine Emmy Nominierung eingebracht. Also eigentlich müsstest du dich bei mir bedanken.“
Linnea grinste.
„Touché! Aber eines musst du mir noch verraten – hat Pierre irgendwann einmal ein paar Semester Medizin studiert? Er hat schon mehrfach nicht nur das Drehbuch, sondern sogar unsere medizinischen Berater korrigiert, wenn es um fachliche Details ging. Und lag jedes Mal richtig. Inzwischen laufen sogar Wetten im Team, dass er ein verkrachter ehemaliger Medizinstudent ist.“
Sarah wurde auf einen Schlag ernst – und nachdenklich. Sehr nachdenklich sogar, und sie ließ sich mit ihrer Antwort verdächtig lange Zeit.
„Also, Linnea, eines kann ich dir garantieren: Ein abgebrochenes Medizinstudium befindet sich nicht in seinem Lebenslauf.“
Sie nickte, nahm es zur Kenntnis. Aber irgendetwas an dieser exakten Formulierung weckte in ihr den Verdacht, dass ihre Freundin ihr nicht die ganze Wahrheit sagte.
„Ok, was verschafft mir dann die Ehre?“
Es war beeindruckend, wie schnell Sarah vom Plauder- in den Businessmodus wechseln konnte. Innerhalb von Sekunden hatte sie eine Sedcard in der Hand und ihr Verhandlungsgeschick parat.
„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass ihr eine recurring Guest Role zu besetzen habt, für die nächste Season. Und ich habe die ideale Kandidatin für dich.“
Linnea zog eine Augenbraue hoch. Eigentlich durfte Sarah das noch gar nicht wissen. Aber dies war Hollywood, und jeder hier hatte so seine Geheimnisse – sowie Leute, die sie herausfanden.
Samstag. Endlich Samstag! Zwei drehfreie Tage, und perfektes Wetter. Zeit, den Job, die Termine und vor allem die Nervensäge Martinez aus dem Kopf zu bekommen. Linnea hatte das perfekte Rezept dafür!
Nach einem doppelten Espresso und der Morgenhygiene kam das Outfit – zweckmäßig, oder noch besser gesagt, für den Zweck ideal. Schwarze Lederhose, schwarze Bluse, schwarze Stiefel. Ihre Jacke war eine Spezialanfertigung – classic Biker Ausführung, schweres Rindsleder, natürlich tiefschwarz – und mit ihren Colors am Rücken. Jenes Motiv, das sie mehr als zwei Riesen extra gekostet hatte.
Eine schwere Chopper im Airbrush Style, mit Filmrollen statt Rädern, gelenkt von einer halbnackten American Natives Schönheit, die bis auf einen bronzenen Hautton frappierende Ähnlichkeit mit ihr selbst hatte. Hinter ihr, mit seinen Händen an ihrer Hüfte, ein Hüne mit einem langen, schwarzen Zopf, Cowboystiefeln, einer hautengen Jeans – und sonst nichts. Außer einem klar erkennbaren Sixpack und ordentlich Muskeln natürlich.
„Flick Bitch“ stand in großen, geschwungenen Buchstaben darüber, und darunter, wo die Jacke sich langsam ihrem – bei aller Bescheidenheit, verdammt knackigen – Po näherte:
„Ride to live – live to ride – do or die“
Ja, es war vielleicht klischeehaft und unreif, aber es sah verdammt gut aus. Ebenso wie die Unterwäsche, die sie unter all dem Schwarz verborgen hatte. Wenn man genug Geld auf den Tisch legte, bekam man sehr wohl Zeug, dass sporttauglich UND sexy war.
Vor ihrem kleinen Haus am Fuß der Hills blieb sie erst einmal stehen, atmete tief ein und genoss die Morgensonne Kaliforniens auf ihrer Haut, wärmende Strahlen, die bis in ihre Muskeln zu dringen schienen und golden durch ihre geschlossenen Augenlider leuchteten, ehe sie ihre Rayban Aviator aufsetzte und sich umdrehte.
Das war ihr Reich. Bungalow Bauweise, zwei Schlafzimmer, ein Bad, eine Wohnküche. Klein, aber fein – und vor allem ihr Eigentum, schuldenfrei mit allem drum und dran. Ein Haus in dieser Gegend ohne Hypothek? Streng genommen war sie damit reicher als so mancher Villenbesitzer oben am Berg. Zwei mittelgroße Palmen thronten in ihrem bescheiden dimensionierten Garten. Eigentlich hatte sie darüber nachgedacht, sie auszugraben und zu verkaufen, um die Effizienz der Solaranlage auf dem Dach zu verbessern – es aber dann doch nicht übers Herz gebracht. Dad hatte sie einst eingepflanzt, und es war eine der zwei schönsten Erinnerungen an ihn.
Die andere befand sich in der angeschlossenen Garage, deren Tor – mechanisch, ganz oldschool – sie nun öffnete. Lächelnd fiel ihr Blick auf ihre Sammlung, ihr ein und alles – ihre Bikes.
Na gut, Sammlung war vielleicht übertrieben – insgesamt drei Stück teilten sich die Garage, die noch nie ein Auto gesehen hatte. Und wenn es nach Linne ging, auch nie eines sehen würde.
Zum einen hatte sie eine Honda Rebell 250 aus den 1990er Jahren, ein unverwüstliches Arbeitsgerät, ihre Berufsverkehrmaschine. Dann, die Kawasaki Ninja, für heiße Rennen auf dem Curcuit – und ja, früher auch für einige illegale im LA River. Davon war sie geheilt, seit sie einen Mitbewerber an einem der mächtigen Brückenpfeiler explodieren gesehen hatte.
Die dritte im Bunde, geerbt von ihrem viel zu früh verstorbenen Dad. Vietnam Veteran, mit zwei Schrapnellen in seiner Schulter, Überlebender eines Flugzeugabsturzes, wirtschaftlicher Überlebender von zwei Konkursen eigener Firmen – und dann schlussendlich doch erfolgreich gewesen, als Planer, Baumeister, notfalls auch Architekt. Erst an seinem Sterbebett, in den letzten Tagen, bevor ihn der Krebs endgültig aus dem Leben riss, hatte er ihr reinen Wein über seine Lebensgeschichte, über alle Hochs und Tiefs aus mehreren Jahrzehnten eingeschenkt. Dabei offenbarten sich Geheimnisse, in die selbst seine Frau, Linneas Mutter, nie eingeweiht gewesen war.
Zum Einen, dass Oma Walters eigentlich eine Cherokee gewesen war, die zu einer Zeit, als es noch nicht cool, sondern sehr von Nachteil war, First American zu sein, von skrupellosen Behörden unter dubiosen Umständen ihrer wahren Familie entrissen worden war. Ja, sie hatte noch Glück im Unglück gehabt, war bei liebevollen Pflegeeltern gelandet, die sie schließlich adoptierten. Aber es machte Dad, den man immer für einen Italoamerikaner gehalten hatte – und Falk dementsprechend für ein amerikanisiertes Falcone – zu einem Halbblut. Und sie damit zu einer Viertel Cherokee. Dem zollte sie auf ihrer Jacke Tribut.
Zum anderen, dass er in Vietnam damals kurz vors Kriegsgericht gekommen war – eine Episode, die sich weder in seiner Akte wiederfand, noch jemals von irgendwem in der Familie erwähnt worden war. In seinen Dokumenten, die sie immer noch in der alten Munitionskiste im Speicher hatte, fand sich ein einziger, vergilbter, irgendwo in Südostasien auf einer Militärschreibmaschine getippter Zettel.