Zwielicht, Rauch, der Geruch von Bier, Zigaretten und Leder. Und einem Hauch von Schweiß, Moschus und noch etwas anderem, dass ständig in der Luft lag – ja, genau, Holz. Denn das gesamte Interior des umgebauten Lagerraumes war aus Eiche, Kiefer und duftendem Sandel, in sorgfältiger Handarbeit errichtet und nun in Alkohol und Nikotin getränkt.
Zwei alte, klassische, aber perfekt in Schuss gehaltene Billard Tische dominierten den Raum, an der linken Wand hingen einige Dart Bretter und in der rechten Ecke, vor dem Durchgang zu den Toiletten, standen zwei Flippertische. Eine Gruppe schon leicht betrunkener Biker stand in einer Traube dort und verfolgten jubelnd mit, wie ihr Kumpel versuchte, den Highscore zu brechen.
Fünf kleine, runde Tische mit Sesseln sowie zwei mächtige Ledersofas mit Beistelltisch bildeten den Rest der Einrichtung. Auf letzteren hatten sich drei Bikerinnen breit gemacht, mit betont tiefem Ausschnitt unter den geöffneten Lederjacken, engen Hosen, die schon beinahe nach Lack aussahen – und wenig Hemmungen.
Eine Blondine um die Dreißig knutschte mit einem kleinen, drahtigen Japaner herum, den sie wahrscheinlich um einen halben Kopf überragte. Die großbrüstige Brünette neben hatte ihre Rechte in der Hose der burschikosen Afro-Amerikanerin, die das Trio komplettierte. Linnea grinste. Sie war zu Hause.
Gutgelaunt marschierte sie zur Bar und ließ sich auf einem der Hocker nieder, dem Barkeeper einen wortlosen Gruß zunickend.
In den Regalen hinter ihm standen alle Arten von Spirits parat. Natürlich gab es die Klassiker, die Blindmacher der Arbeiterklasse – Jack Daniels, Jim Beam, Southern Comfort. Aber auch Bombay Sapphire, Grey Goose, Smirnoff Vodka und eine höchst riskant aus Kuba geschmuggelte Flasche Havanna Club – nicht der weiße, nicht der Siebenjährige, nein, es war ein waschechter Barrell Proof. Auf dem Schwarzmarkt mehr als einen Riesen wert.
Dem Kenner und Genießer verriet dies, das man sich in einer jener wenigen Bars befand, wo man einerseits ein Jacky Cola bestellen konnte, ohne schief angesehen zu werden – aber andererseits auch einen erstklassigen Mule oder Martini serviert bekam.
Linnea musste das natürlich nicht erst erraten, sie wusste es. Ebenso wie den Fakt, dass man hier richtiges Bier bekam – kein Bud, Heineken oder gar Bud light, sondern echtes Bier aus aller Welt. Coopers, Little Creatures, Asahi, Staropramen und Plzen gab es am Zapfhahn, und in den Kühlschränken ein weiteres Dutzend an Craft- und Microbrews aus der Gegend.
Der Barkeeper war ein junger, gutaussehender Latino, mit nichts als einem geöffneten Ledergilet über dem nackten, braungebrannten, an Schulter und Burstmuskel geschmackvoll tätowierten Oberkörper. Seine Sixpacks waren ein Anblick für Göttinnen – und Linnea genoss diese Augenweide, ehe sie wortlos zwei Finger hochhielt.
Sol, wie er sich zumindest hier nannte, nickte grinsend. Natürlich war ihm klar, dass er auch ein Stück Fleisch war, dass hier zur Beschau ausgestellt wurde. Für Bikerinnen – und vielleicht sogar so manchen Biker. Aber er konnte damit leben. 22 Mäuse pro Stunde plus Trinkgeld waren das doppelte, was er sonst wo bekäme – und das Vierfache von dem, was ihm sein erster Job nach der High-School eingebracht hatte.
Auch Julia, die sich um die Tische kümmerte und gelegentlich Snacks, Toasts und gepimpte Burger servierte, hatte einen ähnlichen Deal. Und das nötige Fingerspitzengefühl, um mit ihrem knappen Outfit, ihrem jugendlichen Alter und den natürlichen D Size Brüsten ihr Trinkgeld zu maximieren, ohne die Ladies unter den Gästen Konkurrenz fühlen zu lassen. Bewundernswert – aber letztendlich weniger erstaunlich, wenn man wusste, dass sie Psychologie studierte.
Ein rauchendes Glas erschien wie von Zauberhaft vor Linnea auf dem Tresen. Direkt aus dem Tiefkühler, auf 18 Grad Minus temperiert, und zusätzlich noch mit drei Eiswürfeln gefüllt.
Über diese goss Sol mit akribischer Genauigkeit eine doppelten Fernet Branca, gefolgt von einem doppelten Becherovka. Klar und dunkel, grünlich schimmernd und braun bildeten einen perfekten, geschichteten Drink. Daneben platzierte er, quasi als Nachtrunk, eine Flasche Asahi Super Dry.
„Gracias!“
Sie hob das Glas, prostete ihm zu – und nahm den vierfachen Schnaps auf Ex. Eisige Kälte und brennendes Feuer rasten gleichzeitig durch ihre Kehle, während die feinen, herben Kräuternoten an ihrem Gaumen explodierten. Kein schlechter Start in die Nacht. Mit einem anerkennenden Nicken schob sie Sol einen Zwanziger zu, der nicht einmal versuchte, ihr Wechselgeld zu geben.
Er kannte den Brauch, genauso wie sie.
Jetzt erst war der letzte Stress von ihr abgefallen, fühlte sie sich endgültig entspannt, gelassen und erholt. Irgendwie ein schlechtes Zeichen – entwickelte sie sich gerade zur Alkoholikern?
Über sich selbst lachend schüttelte sie den Kopf. Nein, dieser Eskapismus war keine Gewohnheit, und sie trank eindeutig weniger als all die Kolleginnen und Kollegen, die sich jeden Tag zum Feierabend eine Flasche Wein reinzogen.
Oder eine Nase Koks.
Illegale Drogen – das war so ziemlich das einzige, was man hier nicht bekam. Und was nicht geduldet wurde. Klar, viele hier kifften ungeniert vor sich hin, aber warum auch nicht?
Es war legal, und es tat gut – wenn man der Typ dafür war. Linnea selbst hatte genug experimentiert, um zu wissen, dass es nur eine Situation gab, in der sie Gras wirklich liebte: Zwischen dem ersten und dem zweiten Mal Sex, dann wenn man sich noch von den ersten Orgasmen erholte, aber insgeheim schon darauf lauerte, weitermachen zu können und sich die nächsten zu holen.
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The Locomotive Breath
Zwei Partien Pool gegen die Afroamerikanerin – angeblich Jessy, und ihre Freundin nannte sich Nicky – später war kehrte sie zur Bar zurück, nippte an ihrem Bier und lauschte der Musik. Natürlich waren es vor allem die Gassenhauer, dazu bestimmt, von den Bikern laut mit gegrölt zu werden: AC/DC mit Highway to Hell, Kris Kristoffersens Conwoy, Steppenwolf mit Born to be wild. Das waren die Klassiker, und die gingen immer.
Aber zwischendurch gab es immer wieder kleine, feine Abstecher in andere Genres. Der DJ hielt sich am Puls der Zeit, brachte immer wieder Insidertipps und Perlen von seinen Überseegigs mit. Egal ob Flying Pig in Amsterdam, das Daddy Rock in Playa del Ingles oder das Landsdown in Sydney – er hatte schon in allen Plätzen gespielt, die in Bezug Rock und Metal Rang & Namen hatten. Dazu Spezialveranstaltungen in so ziemlich jedem Hardrock Café an der Westküste. Eigentlich war er viel zu teuer für einen Schuppen wie diesen, der streng genommen auch mit einem MP3 Player auskommen würde.
Ein langes Intro, dass sie nur zu gut kannte, nahm langsam Fahrt und Lautstärke auf. Verspielte, verträumte Klänge, irgendwo zwischen Esosound und Jazz angesiedelt, wurden wilder und stürmischer. Die Stimmung, die der Song in ihr auslöste, Erinnerungen an durchgefeierte Nächte in Europa, an einzigartige, pikante Begegnungen von kurzer Dauer, wirbelten durch ihren Kopf.
Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück, genau in jenem Moment, in dem sich das Intro entlud, das Maintheme einsetzte und die Stimme des Sängers aufwühlende Gefühle auf den Zuhörer hetzte.
In the shuffling madness
of the locomotive breath,
runs the all time loser
headlong to his death
Jethro Hull mit ihrer bekanntesten, wahrscheinlich auch besten Nummer. Linnea öffnete die Augen, elektrisiert, energiegeladen, voller Tatendrang. Ihr Blick huschte über das Bier vor ihr, über die Bar, bliebt kurz an Sol hängen, der mit der Afroamerikanerin flirtete und...
...traf schließlich ihn
.
Er war groß, mindestens einen Meter neunzig, wenn nicht sogar mehr. Schwarze, gepflegte Haare, ein ebenso schwarzer, ebenso gepflegter, rundherum fein getrimmter Vollbart. Die breiten Schultern steckten in einer Lederjacke, deren Klappen mit glänzenden Nieten besetzt werden – aber nicht allzu vielen. Ein teures Stück, und doch zeigten einige Schürfstellen, dass sie den Träger bereits einmal vor schlimmerem Schaden bewahrt hatte. Beine und ein überaus knackiger Arsch – an dem ihr Blick auffällig lange hängen blieb – steckten in einer schwarzen Jean. Seine Gesichtszüge, zumindest jene, die nicht unter dem Vollbart verschwanden, waren sanft und dennoch markant geschnitten, und seine dunkelbraunen Augen wirkten weise, ohne alt zu sein.
Maximal 40 würde man ihn schätzen, und so ziemlich jeder im Raum, der ihn an diesem Abend zum ersten Mal sah, warf ihm ein anerkennendes Nicken zu. Kein Wunder, er bewegte sich selbstsicher, souverän, wie ein Löwe durch sein Revier in der Savanne, wie ein Tiger durch den Dschungel, den er kontrolliert.
Sein Erscheinungsbild war einfach perfekt ausbalanciert, weder „abgefuckter, stinkender Biker“ noch „Hipster, der mehr Zeit in seinen Bart und seine Mode steckt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schwul ist“ – sondern einfach nur gutaussehend, prägnant und überaus verlockend.
Er stellte sich an die Bar, kaum zwei Meter von ihr entfernt und nickte ihr kurz zu, ehe er scheinbar die Kreidetafel mit den Tagesangeboten zu studieren begann. Ein heißer, kurzer Schauer lief über Linneas Rücken, als sich ihre Blicke trafen, und sie wusste eines: Jetzt musste sie ihren Move machen.
Mit einer eleganten Vierteldrehung, nach der sie ihre Hüfte kurz bewusst schwingen ließ, marschierte sie auf ihn zu.
Oh ja, sie hatte seine Aufmerksamkeit, und sein Blick saugte sich förmlich an ihr fest. An ihren Beinen, die für ihren Geschmack zu kurz waren, aber von den Bikerstiefeln optisch perfekt verlängert wurden. An ihren Hüften, die einen eleganten Schwung, sanfte, einladende Kurven zeigten, ohne ausladend breit zu wirken. An ihrer immer noch relativ, aber nicht mehr ganz so schlanken Taille – verdammte Schokoeisbecher – und an ihren Brüsten, die unter der Bluse besonders gut zur Geltung kamen. Aber, soviel Niveau musste sie ihm zugestehen, er widmete sich ebenso lange ihrem Gesicht. Und zwinkerte, als sie vor ihm stehen blieb, ihm kurz tief in die Augen blickte und den Mundwinkel dezent spöttisch hochzog.
„Du fährst keine Japanerin, oder?“
Er blinzelte kurz verwirrt.
„Wie kommst du darauf?“
„Zu breite Schultern, zu mächtiger Brustkorb – und vor allem, zu groß. Du würdest auf einer Ninja oder CBR wie ein Clown auf dem Dreirad oder ein Ritter auf einem Pony aussehen.“
Er lachte auf.
„Das Reiten überlasse ich lieber anderen. Ich mag eher die tiefen, liegenden Positionen. Ist gemütlicher.“
Eindeutig zweideutig, er hatte angebissen – das Spiel konnte beginnen.
„Vielleicht sollten wir mal zusammen ausreiten. Falls du nicht anderweitig hier gebunden bist – du benimmst dich, als ob dir der Laden gehören würde.“
Er nickte bedächtig.
„Ich schmeiße den Club, aber bin nur einer von mehreren Teilhabern. Sagen wir es mal so – der Club gehört einem sehr erlesenen und sehr diskreten Konsortium. Ich bin übrigens Raider. Und du?“
Sie ergriff die ausgestreckte Hand, schüttelte sie und genoss den leichten elektrischen Schlag, der sie bei der ersten Berührung durchfuhr.
„Wenn ich reite, bin ich Flick Bitch.“
Er zog die Augenbraue hoch und musterte sie.
„Aus dem Fernando Valley? Ich meine, nichts dagegen einzuwenden, aber ich hab dich noch nie in einem der anspruchsvollen Kunstfilme gesehen, die...“
Sie lachte auf und verpasste ihm einen spielerischen Fausthieb gegen die Schulter.
„Nein, nicht aus dem Pornobusiness und dem Tal der Sünde, ich meine, richtiges Hollywood.“
Er pfiff anerkennend durch die Zähne und wirkte sichtlich beeindruckt.
Sie bestellte zwei Bier, erwischte erstaunlicherweise seine erste Wahl, genauso wie bei dem Cocktail, der bald danach folgte. Ihre Unterhaltung wurde angeregter, intensiver, schlüpfriger – und sie fühlte sich nun in jeder Hinsicht berauscht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als seine Hand ihren Rücken herabglitt und kurz auf ihrer rechten Pobacke verweilte. Sie schluckte, und ihre Stimme wurde auf einen Schlag heiser, rauchig.
„Und, wo steht dein Bike?“
Das war die Frage, auf die er gewartet hatte. Siegessicher, selbstbewusst und unglaublich sexy zwinkerte er ihr zu.
„In meiner Garage, ich wohne nur zwei Straßen weiter.“
Er beugte sich nach vorne, brachte seinen Mund ganz nah an ihr Ohr und hauchte wie zufällig seinen Atem an ihrem Hals entlang. Ein zweiter Schauer, beinahe schon ein Beben, lief durch ihren Körper.
Unwillkürlich presste sie ihre Schenkel zusammen, ganz so, als ob sie dadurch ihre Erregung kontrollieren, in Zaum halten konnte.
Sie konnte nicht, und für einen Sekundenbruchteil dachte sie daran, wie gut es doch war, dass sie einen zweiten Satz Unterwäsche in den Koffern an der Harley hatte. Sie würde sie dringend brauchen. Er war sich vollkommen bewusst, was er gerade angerichtet hatte, als er die entscheidende Frage stellte.
„Willst du sie sehen?“
Und ob sie das wollte.