Die gute Laune wurde ihr erst am Samstag vormittag vermiest, als sie die Verkehrsnachrichten abrief. Gleich zwei Unfälle hatten den Pacific Coast Highway an Engstellen unpassierbar gemacht, und der Stau begann sich in beide Richtungen auszuweiten. Sie knurrte, als sie auf ihrem Laptop die Alternativen durchging. Viele gab es nicht gerade – und so nahm sie die Hauptverkehrsroute, die gewaltige Autobahn, die L.A. mit Santa Cruz verband. Das war kein gemütliches Cruisen – zumindest nicht dann, wenn sie in einem Pulk aus nervtötend langsam aneinander vorbeigleitenden Lastwägen steckte.
Natürlich betrieb sie eifrig Lane filterning, suchte sich immer die beste Spur, wechselte nach Belieben und Möglichkeit zwischen den Fahrstreifen. Aber dennoch – der Unterschied zwischen dem beschaulichen Gleiten an der Küste entlang und mehr als drei Stunden auf diesem überdimensionierten Fernkanal für Fahrzeuge war wie jener zwischen Tag und Nacht.
Die ersten 150 Meilen hatte sie noch ihr Smartphone im Navigationsmodus gehabt, um Echtzeit Updates über jede mögliche Ausweichroute zu bekommen. Also, natürlich nicht ihr neues iPhone, sondern das alte, billige Android Teil, das sie erst vor wenigen Wochen in den Ruhestand geschickt hatte, weil es kaum noch seine Ladung hielt. Aber als Navigationssystem taugte es noch. Sie hoffte auf das allwissende Google, auf Vorschläge, wie sie entspannter nach Cruz fahren konnte. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatte und ihr Handy nur mehr 5% Ladung aufwies, gab sie seufzend auf und schaltete es aus, um noch den letzten Rest Ladung zu erhalten.
Sie war müde, aber früher am Ziel, als sie endlich ihre Harley hinter dem Club parkte und Bull zuwinkten, der gerade seine alte Intruder abgestellt hatte. Grundschullehrer, hm? Kein Wunder, dass sein Bike trotz aller Liebe, die es offenbar bekam, reichlich Vintage aussah. Und nicht im hippen Sinne. Für seinen 10% Anteil am Club musste er entweder eine Erbschaft oder einen Kredit aufgestellt haben – wenn es etwas gab, an dem das angeblich moderne Amerika mehr sparte als an Kontrollen des Waffenbesitzes, dann war es das Schulsystem. Zumindest jenes für die Unter- und Mittelschicht, für all jene Kinder von Eltern, die keine andere Wahl als eine öffentliche Schule hatten. Am anderen Ende der Fahnenstange, in den Bildungsinstituten für die ohnehin Reichen und Mächtigen, wurden großzügig Steuergeschenke verteilt.
Die Welt war eben ungerechnet.
Sie schüttelte ihre allzu politischen Gedanken ab und spazierte rüber zu Bull, der sie geradezu freudestrahlend begrüßte.
„Hey Bitch, danke nochmal, dass du den anderen den Verkauf aufgeredet hast. Ich brauche den Club – und nicht nur wegen der paar Kröten, die ich als Bouncer bekomme. Er ist mein zweites, anderes Leben.“
DAS konnte sie nur zu gut verstehen. Für sie selbst hatte sich das auch nicht geändert. Selbst wenn das mit Martinez etwas Festeres werden konnte, würde sie dem Club nicht Adieu sagen. Vielleicht bei den sexuellen Ausschweifungen zurückstecken, aber sicher nicht damit aufhören, an schönen Samstagen nach Cruz zu cruisen.
„Ehrensache, Bull, da steckt zuviel gutes Geld und stinkender Schweiß drinnen, um es uns einfach so abnehmen zu lassen. Wann kommt die Lieferung?“
Der mächtige Lehrer zuckte mit den Schultern.
„Eigentlich erst in zwei Stunden, aber du kennst ja die Road Runner, kann gut sein, dass sie schon in ein paar Minuten aufkreuzen. Immer zu früh und niemals zu spät.“
Das stimmte. Die Road Runner Limited war so ziemlich die schrägste Lieferfirma für Gastronomiewaren, die sie kannten, gegründet von ehemaligen Product Managern aus Peters Werbeagentur. Freundewirtschaft, sozusagen. Man bekam niemals genau, was man bestellte, unnd oftmals irgendetwas, das man nicht einmal ansatzweise verlangt hatte. Sie erinnerte sich noch mit Grauen an die Kiste lebender Krabben – die der gutherzige Luis heimlich bei Nacht und Nebel in den Ozean zurückbrachte.
Und mit einem heftig knurrenden Magen an die experimentellen, mikrowellentauglichen Angus Beef Burger Sets. Die Teile waren innerhalb von Tagen ausverkauft gewesen und hatten ihnen einen vierstelligen Extraumsatz verschafft. Ja, Qualität und Preis waren ok. Und sie waren die einzigen, die unter der Hand kubanischen Rum und ebensolche Zigarren lieferten.
Sie trat ein und winkte Peter zu, der am Rande der Theke stand und von den Unterlagen aufblickte, in die er sich vertieft hatte. Wahrscheinlich irgendein rechtlicher Kram, oder mal wieder eine Beschwerde wegen Ruhestörung, von den netten Nachbarn gegenüber.
Egal.
Sie erwartete eine Konfrontation, oder zumindest einen passiv-aggressiven, patzigen Peter. Vielleicht sogar demonstratives Schweigen als Strafe dafür, dass sie ihn überstimmt hatte.
Oder, noch schlimmer, peinlich berührtes Herumeiern darüber, welche Themen und welche Begrüßungen noch OK waren, jetzt, wo sie nicht mehr miteinander vögelten.
Weit gefehlt.
„Linnea! Schön, dass du da bist. Verdammt früh sogar! Wie war die Fahrt? Wie war die Woche?“
Seine überraschend gute Laune fegte sie beinahe von den Füßen. Aber – einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul. Sie grinste zurück.
„Ich würde sagen verdammt gut, mit dem gewissen Extra. Aber trotzdem strahle ich nicht wie ein russischer Atomreaktor. Was ist denn mit dir passiert? Hast du dein College Sweetheart eingeseift? Habt ihr euch auf einen Namen für die Kids geeinigt? Die Hypothek für euer neues Haus beantragt?“
Er lachte laut auf, übertönte sogar die tiefen gurgelnden Motorengeräusche von der Straße hinter dem Club, und schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, nein, aber wir daten jetzt ganz offiziell und exklusiv. Und ich habe herausgefunden, dass sich bei ihr doch gravierendes etwas verändert hat, seit wir uns aus den Augen verloren haben.“
Linnea hob eine Augenbraue, forderte ihn stumm auf, weiter zu sprechen.
„Naja, sie ist auch dem Charme der Maschinen erlegen – nur 10 Jahre später als ich. Hat Asien auf einer Royal Enfield durchquert, ganz allein. Linnea, sie war richtiggehend begeistert, als sie vom Club hörte!“
Das waren gute Nachrichten. Wenn das neue Weibchen mitspielte, ja sogar ein positiver Faktor wurde, dann stand vielen weiteren tollen Jahren im Club nichts im Wege. Natürlich war Sabrina ein Eidnringling, in gewisser Weise immer auch eine Konkurrentin um Blicke und Aufmerksamkeit, aber dieses Gefühl hatte Linnea unter Kontrolle.
Immerhin hatte sie ja jetzt gar keinen Grund mehr zur Eifersucht.
Sie lächelte Peter zu, und wollte gerade ihre Jacke über einen der Sessel werfen, als von draußen ein dumpfer Knall ertönte, gefolgt von einem unterdrückten Schrei. Sie wirbelte herum, genau in dem Moment, als die Tür aufgestoßen – und das Feuer eröffnet wurde.
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