Ich bin einfach nur müde und erschöpft. Am liebsten würde ich überhaupt nicht mehr aufstehen.
MARIA BORCHARDT
Sie blickte einen Moment lang in den Spiegel, beugte sich dann hinunter zum Waschbecken und benetzte ihr Gesicht wieder und wieder mit kaltem Wasser. Dann trocknete sie es ab und sah erneut in den Spiegel. Frischer wirkte sie nicht.
Egal, wie man es drehte und wendete, sie war in den letzten Monaten um Jahre gealtert. Wenn sie in den Spiegel sah, erinnerte dort nichts mehr an die Frau, die sie noch kurz vor Weihnachten und damit vor dem Selbstmord ihres Mannes gewesen war. Jetzt hatte sie aufgequollene Tränensäcke unter ihren Augen, war blass und hatte gute zehn Kilo abgenommen, was bei ihrer zuvor schon schlanken Erscheinung alles andere als förderlich war. Außerdem war sie seitdem nicht mehr beim Friseur gewesen, sodass sie nun einen breiten grauen Haaransatz hatte, der in ihre ansonsten blonden Haare überging und sie einfach nur ungepflegt aussehen ließ. Es war ein reines Trauerspiel, und sie überkam eine Gänsehaut, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete. Also wandte sie sich ab, verließ das Bad und ging über den schmalen Flur zum Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf die Couch und starrte eine Weile vor sich hin. Dann sah sie auf ihre Uhr. In zwei Stunden hatte sie eine Verabredung mit Klaus Schröder, der gestern Abend noch angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er nun endlich einen Teil der Akten der Staatsanwaltschaft bekommen hatte und diese mit ihr durchsprechen wollte. Maria wusste nicht, ob sie sich darauf freuen oder davor fürchten sollte, obwohl damit vielleicht endlich etwas Licht ins Dunkel kam und sie so einige Antworten erhalten könnte auf die vielen Fragen, die seit Heiligabend in ihrem Kopf surrten wie Bienen in einer Honigwabe.
Auch wenn mehr als drei Monate vergangen waren, konnte sie nicht begreifen, was wirklich geschehen war. Wer war der Mann gewesen, mit dem sie verheiratet gewesen war und mit dem sie mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht hatte?
Seit die Polizei an Heiligabend an der Tür der Villa Borchardt geklingelt und der Staatsanwalt ihr den Durchsuchungsbeschluss präsentiert hatte, war nichts mehr in ihrem Leben wie zuvor. Sie hatte in dem Moment noch an einen großen Irrtum geglaubt, womöglich sogar an eine Verschwörung, war ihr doch bewusst, dass einem so wichtigen Mann wie Hanns viele nur zu gern ans Leder wollten, sei es aus Neid oder auch anderen Motiven. Sie hatte nicht glauben können, dass auch nur das Geringste dran sei an dem Verdacht, dass Hanns in betrügerische Machenschaften involviert war. Nein, nicht ihr Hanns. Sie hätte ihre Hand für ihn ins Feuer gelegt. Und nun wusste sie, dass sie sich dabei mehr als nur verbrannt hätte.
Alles, was sie in den letzten drei Monaten erfahren hatte, hatte sie den Glauben sowohl an ihren Ehemann als auch fast alle anderen Menschen, die sie kannte, verlieren lassen. Einzig ihr Rechtsanwalt Klaus Schröder hatte ihr sofort Hilfe angeboten, und auch Uschi Rebenstock, ihre Freundin, hatte ihr die Treue gehalten. Alle anderen jedoch sprachen nicht mehr mit ihr, und Maria war zu der überaus bitteren Erkenntnis gelangt, dass fast nichts an dem Leben, das sie über Jahrzehnte hinweg geführt hatte, echt gewesen war.
Sie hatte nur deshalb vermeintlich Freunde gehabt, weil sie beziehungsweise ihr Mann mit Geld um sich geworfen hatte. Und nun, da Hanns’ Pleite, seine Betrügereien und in der Folge sein Selbstmord über Wochen das zentrale Thema der Zeitungen gewesen war, schien bis auf Uschi und Klaus niemand sie mehr zu kennen, geschweige denn den Kontakt zu Maria zulassen zu wollen. Sie kam sich vor, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Klaus Schröder hatte sich in ihrer verzweifelten Lage als wahrer Freund erwiesen. Nicht nur, dass er, als die Polizei die Durchsuchung der Villa vorgenommen hatte, sofort gekommen war und dafür gesorgt hatte, dass alles mit rechten Dingen zuging. Nein, auch als Maria und Hanna aus der Villa ausziehen mussten, da diese genau wie die Autos, der Helikopter und sämtliche Wertgegenstände der Zwangsvollstreckung zum Opfer fielen, hatte Klaus nicht gezögert, ihr und Hanna eine seiner Wohnungen zur Verfügung zu stellen, damit sie erst einmal ein vernünftiges Dach über dem Kopf hatten, bis klar war, wie es weitergehen könnte.
Doch der Zustand, hier in einer von Klaus’ Mietwohnungen zu hausen und nicht in der Lage zu sein, auch nur einen Pfennig dafür zu bezahlen, beschämte sie zutiefst.
Im Februar, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass sich die Ermittlungen über viele Monate hinziehen würden und sie mindestens so lange keinen Zugriff auf ihre Konten haben würde und auch sonst keine Möglichkeit, irgendwie an ihr früher zustehende Gelder heranzukommen, hatte Maria sich überwunden und war beim Amt vorstellig geworden, um einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen. Was hätte sie auch anderes tun sollen?
Den Gesichtsausdruck der Sachbearbeiterin würde Maria ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Es mochte ja sein, dass das Gesetz vorsah, dass alle Menschen ein Recht auf Unterstützung besaßen, damit eben jeder im Land ein würdiges Leben führen konnte. Doch die Realität, das hatte Maria nun am eigenen Leib erfahren, war eine völlig andere. Voller Verachtung hatte die Sachbearbeiterin sie gefragt, ob es wirklich ihr Ernst wäre, einen solchen Antrag zu stellen und damit nun auch noch den Steuerzahlern schaden zu wollen, nachdem ihr Ehemann zuvor schon halb Berlin betrogen hatte.
Maria hatte nicht gewusst, was sie hierauf hätte erwidern sollen. Also war sie nur aufgestanden und gegangen, ohne den Antrag zu stellen. Danach hatte sie Uschi angerufen, das erste Mal nach all den furchtbaren Vorfällen, und eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass diese sofort auflegen würde, wenn sie hörte, wer am anderen Ende der Leitung war. Zwar hatte sie den Namen der Freundin noch nicht in einem der Kommentare der vielen vermeintlichen Freunde gelesen, die sich in den Zeitungen negativ über Hanns und dessen Familie geäußert und voller Häme auf das reagiert hatten, was geschehen war. Doch, so hatte Maria da noch gedacht, hatte womöglich auch nur niemand bei Uschi und der Familie Rebenstock angefragt.
Uschis Reaktion, als Maria deren Haushälterin ihren Namen genannt hatte und die Freundin zu sprechen wünschte, hatte sie überrascht. Uschi hatte ihr sogleich gesagt, wie froh sie sei, dass Maria sich endlich bei ihr melde, und ihr augenblicklich ihr Mitgefühl ausgesprochen für alles, was sie derzeit zu erdulden hatte. Und Uschi hatte sich entschuldigt, dass sie und ihre Familie nicht bei Hanns’ Beerdigung gewesen waren. Dafür gab es jedoch eine einfache Erklärung: Die Rebenstocks waren über die Feiertage und auch noch die zwei Wochen danach verreist gewesen, sodass Uschi von den fürchterlichen Geschehnissen erst erfahren hatte, als sie wieder nach Hause zurückgekehrt war. Da hatte Maria jedoch schon nicht mehr in der Villa gelebt und Uschi somit nicht gewusst, wo sie sie erreichen konnte.
Uschis ehrliche Anteilnahme hatte Maria zu Tränen gerührt, und sie hatte sich fast nicht mehr beruhigen können. Gleich nach dem Telefonat war Uschi zu ihr in die Wohnung gekommen, in der Maria und Hanna vorübergehend lebten, und hatte ihr auch noch mit Geld ausgeholfen, damit sie und ihre Tochter erst einmal über die Runden kämen. Maria hatte es als entwürdigend empfunden, das Geld nicht ablehnen zu können. Sie hatte Uschi versichert, es ihr irgendwie und irgendwann wiederzugeben, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das anstellen sollte, und die Freundin hatte daraufhin nur erwidert, dass sie sich darüber keine Gedanken zu machen brauche. Doch das tat Maria, auch wenn sie wusste, dass es Uschi wirklich nicht wichtig war.
Kurt, Uschis Ehemann, war durch seine Eisenwarenfabrik zu einem vermögenden Mann geworden, und es fehlte der Familie an nichts. Nun ja, so war es Maria auch jahrzehntelang gegangen, und jetzt saß sie in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung, ohne Einkommen, ohne Perspektive und auch ohne jegliche Hoffnung, dass es je wieder anders werden würde.
Wieder sah sie auf die Uhr. Es war noch zu früh, sich für den Termin mit Klaus fertig zu machen. Doch andererseits hatte sie das Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn sie hier weiter herumsaß. Sie stand auf und trat ans Fenster. Dicke Wolken hingen über der Stadt, und bestimmt würde es nachher auch noch zu regnen beginnen. Sie wäre also gut beraten, einen Schirm mitzunehmen. Zwar war sie nur noch ein Schatten der Frau, die sie früher gewesen war, dennoch wollte sie nicht wie ein begossener Pudel aussehen, wenn sie die Kanzlei betrat.
Maria ging ins Schlafzimmer, öffnete die Tür des Kleiderschranks und zog ein gerade geschnittenes Chanel-Kleid hervor. Sie konnte nur einen kleinen Teil ihrer Garderobe in der Wohnung unterbringen, wahrscheinlich nicht einmal zehn Prozent. Das meiste davon befand sich in den Kartons, von denen drei hier im Schlafzimmer standen und noch zehn weitere in einem Lagerraum, der genau wie diese Wohnung Klaus Schröder gehörte. Auch von Hanna lagerten dort etliche Sachen sowie einige von Holgers Kleidungsstücken, die dieser bei seinem Auszug nicht mitgenommen hatte.
Wohin Hanns’ Anzüge gekommen waren, wusste Maria nicht. Sie hatte Klaus gefragt, ob er wüsste, wo man so etwas hingeben könnte, damit es womöglich anderen Menschen helfen würde, und dieser hatte sich darum gekümmert.
Maria wusste, dass ihre Pelzmäntel genau wie der Rest ihrer Garderobe nicht von der Polizei beschlagnahmt worden waren, weil Klaus als ihr Rechtsanwalt dagegen Einspruch erhoben und damit Erfolg gehabt hatte. In den letzten Tagen hatte sie immer häufiger darüber nachgedacht, ob sie ihre Pelzmäntel nicht irgendwie zu Geld machen könnte. Genau wie ihren Schmuck, der gewiss einiges an Wert hatte. Sie war froh über diese Gedanken, war es doch das erste Mal seit Wochen, dass zumindest so etwas wie ein ansatzweiser Plan in ihrem Kopf entstanden war. Denn seit den schrecklichen Ereignissen an Heiligabend, hatte sie sich einfach nur machtlos und ausgeliefert gefühlt.
Sie zog sich an, ging ins Bad und machte sich zurecht. Kurz überlegte sie, eine Sonnenbrille aufzusetzen, um so ihre geschwollenen Augen zu verstecken. Doch das kam ihr bei dem wolkenverhangenen Himmel da draußen absurd vor. Also legte sie Make-up auf, um so die Tränensäcke ein wenig zu kaschieren und mit reichlich Rouge auch ein wenig Farbe in ihr blasses Gesicht zu zaubern. Doch weder das noch die dick aufgetragene Mascara oder der Lippenstift halfen, ihr zumindest wieder eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau zu verleihen, die sie noch vor einigen Monaten gewesen war. Sie band ihre Haare zu einem straffen Knoten, auch wenn sie früher ihre Haare stets offen getragen hatte. Zwar wusste sie, dass sie diese Frisur vermutlich noch älter und verzagter erscheinen ließ. Doch so sah es wenigstens so aus, als hätte sie insgesamt graue Haare. Denn irgendwie war diese gerade Kante auf ihrem Kopf, die blond und grau trennte, so etwas wie ein Symbol für sie geworden, wie eine Abgrenzung, wann ihr Leben noch in Ordnung gewesen und ab wann alles aus dem Ruder gelaufen war. Und genau diesen Bruch wollte sie nicht sehen und schon gar nicht zeigen. Lieber sah sie aus wie ihre Lehrerin in der fünften Klasse, die einen ebenso strengen Knoten getragen hatte.
Sie seufzte, als sie fertig war und in den Spiegel blickte. Dann winkte sie ab, ging in den Flur, zog ihren Mantel über, nahm ihre Handtasche und verließ die Wohnung.
Es kostete sie Überwindung, auf die Straße zu treten. Auch wenn sie wusste, dass das vollkommener Unsinn war, hatte sie immer dann, wenn sie rausging, das Gefühl, als würden alle sie anstarren. Es waren nicht wirklich die Blicke der Passanten, denn tatsächlich schien sie überhaupt niemand zu beachten. Es war einfach ihr schlechtes Gewissen, weil ihr Mann mit seinem Handeln so vielen Menschen geschadet hatte. Sie schämte sich für alles, was geschehen war, so sehr, dass sie es nicht in Worte hätte fassen können.
Es begann zu regnen. Natürlich, sie war wieder einmal so in Gedanken gewesen, dass sie nun doch den Schirm vergessen hatte. Also ging sie noch einmal zurück, holte ihn und setzte dann ihren Weg fort. Bis zur Pommerschen Straße, in der sich Klaus’ Kanzlei befand, waren es gute zwölf Minuten zu Fuß. Ihren Audi besaß sie nicht mehr, ebenso wenig wie man Hanna ihren BMW gelassen hatte, waren doch diese und auch die anderen Fahrzeuge auf Hanns’ Immobilienfirma zugelassen gewesen und somit gepfändet worden. Maria hatte keine Ahnung, ob auch Holgers Auto beschlagnahmt worden war, hatte sie doch sehr wenig Kontakt zu ihrem Sohn und wusste nicht einmal, wo dieser derzeit lebte. Hanna hatte nur Andeutungen gemacht, dass der Bruder die meiste Zeit inzwischen bei seiner neuen Freundin verbrachte. Wer genau diese war, hatte Hanna nicht gesagt. Doch etwas an der Art, wie ihre Tochter ihr das mitgeteilt hatte, hatte Maria aufhorchen lassen. Offenbar mochte Hanna die neue Freundin ihres Bruders nicht, auch wenn Maria den Grund dafür nicht kannte. Vielleicht hatte diese sich negativ über Holgers Vater oder eben auch den Rest seiner Familie geäußert. Das wäre durchaus möglich, wusste doch jeder in ganz Berlin von dem Skandal. Doch Maria hatte im Moment weder den Kopf, sich über Holgers Freundin Gedanken zu machen, noch die Nerven. Sie war schon froh, wenn sie einigermaßen durch den Tag kam.
Maria hielt den Kopf gesenkt, während sie durch die Straßen Berlins schritt. Der Schirm, den sie immer so hielt, dass sie nur knapp darunter auf den Gehweg sehen konnte, gab ihr ein gewisses Gefühl von Schutz. Denn es machte ihr zu schaffen, wenn die Leute ihr ins Gesicht sehen konnten, hatte sie doch immer den Eindruck, etwas Anklagendes in deren Blicken zu finden.
Sie schüttelte den Regenschirm aus, bevor sie die Kanzlei Schröder, Blumfeldt & Partner betrat und stellte ihn dann in den Ständer direkt am Eingang, damit er dort trocknen konnte und nicht den Boden durchnässte. Dann ging sie zum Empfangstresen.
»Guten Tag, Fräulein Meier. Ich habe einen Termin bei Herrn Schröder.«
»Guten Tag, Frau Borchardt«, grüßte die Angestellte freundlich, mit der Maria in letzter Zeit oft sowohl persönlich als auch am Telefon gesprochen hatte. »Bitte, nehmen Sie doch kurz Platz. Ich gebe Herrn Schröder Bescheid.«
»Danke.« Maria öffnete ihren Frühjahrsmantel und setzte sich. Im Grunde war der Mantel ein wenig zu dünn für das Wetter, doch zum einen waren die meisten ihrer Mäntel, die geeigneter gewesen wären, in den Kartons verstaut, und zum anderen hatten diese meist irgendwelche Pelzkragen oder ähnlich teuren Zierrat, sodass sie weit mehr nach Geld aussahen als dieser schlichte helle Übergangsmantel. Und Maria widerstrebte es, die Kleidung, die ihrem damaligen Status gut zu Gesicht gestanden hatte, in ihrer derzeitigen Lage aber mehr als unpassend war, zu tragen. Sie war nun einmal keine reiche Frau mehr, ganz im Gegenteil. Sie hatte nichts Eigenes und musste sich das Geld, von dem Hanna und sie lebten, auch noch leihen. Zwar trug sie noch immer ihre teuren Chanel-Kleider und -Kostüme – schließlich musste sie ja irgendetwas anziehen –, aber einzig aus dem Grund, dass sie einfach nichts Schlichteres besaß und keinen Pfennig erübrigen konnte, sich etwas anderes zu kaufen.
»Maria, wie schön.« Klaus war in den Wartebereich getreten, ging auf Maria zu, die sich erhob, und gab dieser rechts und links zur Begrüßung einen Kuss auf die Wangen.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Klaus.«
»Komm bitte.« Er deutete in die Richtung, aus der er gekommen war und in der sich sein Büro befand. »Einen Kaffee oder lieber etwas anderes?«
»Ein Kaffee wäre wunderbar«, sagte Maria, und Fräulein Meier, die wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, nickte sogleich.
»Schwarz, ohne Milch oder Zucker«, erinnerte sich die Rechtsanwaltsgehilfin und lächelte. Maria warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie beide hatten vor einigen Monaten keinen besonders guten Start gehabt, weil Maria an diesem Tage aufgebracht gewesen war und in der Absicht, mit Klaus Schröder über eine mögliche Scheidung von Hanns zu sprechen, unangemeldet in der Kanzlei aufgetaucht war. Sie hatte die Kanzleiangestellte seinerzeit recht grob zurechtgewiesen, was sie heute bereute. Doch tatsächlich hatte Fräulein Meier es ihr nicht nachgetragen und behandelte Maria auch heute mit einer absoluten Freundlichkeit, was Maria im Hinblick darauf, wie sehr sich ihre gesellschaftliche Position seit der damaligen Begegnung verändert hatte, hoch anrechnete. Ja, sie hatte sogar das Gefühl, dass Fräulein Meier sie mochte. Es sprach für die Rechtsanwaltsgehilfin, dass sie Maria nicht wie so viele andere die Verachtung darüber spüren ließ, wie tief sie doch gesunken war.
»Für mich bitte auch«, wandte sich Klaus nun an Fräulein Meier. »Und irgendwelche Kekse«, bat er dann noch, worauf Fräulein Meier nickte und dann über das Telefon die Bestellung an eine andere Mitarbeiterin im Büro weitergab.
»Bitte«, sagte Klaus und ließ Maria den Vortritt. Sie kannte den Weg ins Büro ihres Rechtsanwalts inzwischen wahrlich gut genug.
In Klaus’ Büro angekommen, nahm dieser ihr den Mantel ab und hängte ihn an seine Garderobe. Dann rückte er ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch zurecht und wartete, bis Maria sich gesetzt hatte. Erst danach ging er selbst um seinen Schreibtisch herum und nahm Platz.
»Wie geht es dir?«, fragte er und lächelte sie an.
Maria senkte den Blick. »Gut, danke«, gab sie zurück. Klaus kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie ihm bei dieser Lüge nicht in die Augen sehen wollte.
»Ich hoffe, dass bei dir auch alles in Ordnung ist?«, fügte sie höflich hinzu.
Er nickte nur, legte den Kopf schräg. Dann klopfte es, und eine Mitarbeiterin betrat mit einem Tablett das Büro. Sie grüßte, stellte einen Keksteller, Tassen und eine silberne Isolierkanne auf dem Tisch ab. Dann verließ sie wieder das Büro, nachdem sowohl Maria als auch Klaus ihr gedankt hatten.
Klaus schenkte erst Maria und dann sich ein. Dann hielt er ihr den Keksteller hin. »Bitte, greif doch zu.«
»Nein danke. Ich habe keinen Appetit.« Sie lächelte Klaus an.
»Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«, fragte er besorgt.
»Aber ja, gewiss doch«, log Maria, die noch keinen Bissen heruntergebracht hatte. Es fiel ihr von Tag zu Tag schwerer, überhaupt etwas zu essen. Genau genommen nahm sie nur dann etwas zu sich, wenn Hanna ausnahmsweise zum Essen zu Hause war. Doch das war nicht oft der Fall. Und wenn niemand zugegen war, sah Maria keinen Grund, sich zum Essen zu zwingen.
»Du weißt, wie sehr ich dich respektiere, Maria. Und ich möchte dir keinesfalls zu nahe treten. Doch allein in der Woche, die wir uns jetzt nicht gesehen haben, hast du noch einmal abgenommen. Ich mache mir wirklich große Sorgen um dich.«
»Das ist nicht nötig. Ich esse später etwas. Versprochen.«
Klaus senkte den Blick, seufzte und stellte den Keksteller wieder ab.
»Also«, begann er dann. »Ich habe, wie ich dir sagte, nun einige der Akten zur Einsichtnahme erhalten.«
Maria sah auf die rote Mappe, die zugeschlagen vor ihm lag.
»Ist sie das?«, fragte sie.
»Ja.« Klaus nickte. »Diese und«, er deutete auf die Stapel neben seinem Schreibtisch, »die dort auch. Und das ist nur ein Teil.«
»Wie bitte?« Maria war aufgestanden und beugte sich über den Tisch, um die Aktenberge in Augenschein zu nehmen. »In all den Akten geht es um Hanns?«
»Ja, und bei der Staatsanwaltschaft sind noch weit mehr. Es wird dauern, das alles durchzuarbeiten.«
Maria setzte sich wieder und legte die rechte Hand auf ihre Brust. Sie war froh, dass sie den Keks abgelehnt hatte, denn nach diesem Schrecken wäre er ihr bestimmt wieder hochgekommen.
»Ist das üblich in …«, sie zögerte, »in solchen Verfahren?«
»Ja, absolut üblich. Du musst dir darüber keine Gedanken machen.«
»Aber, wieso werden denn diese Fälle überhaupt noch bearbeitet?«, empörte sie sich. »Schließlich ist Hanns tot und«, sie zuckte die Schultern, »nun ja, ich meine, gegen wen wird denn jetzt noch ermittelt?«
Klaus seufzte. »Ich hätte es dir gern ein wenig schonender beigebracht, doch wenn du so direkt fragst, muss ich dir bedauerlicherweise mitteilen, dass die Ermittlungen sich nun gegen dich richten.«
»Was?« Maria glaubte, ihr würde das Herz aus der Brust springen. »Gegen mich? Ich habe aber doch gar nichts getan.«
»Nun ja, grundsätzlich nicht«, stimmte der Rechtsanwalt zu. »Doch unter manchen Verträgen ist auch deine Unterschrift.«
»Meine?« Maria schüttelte heftig den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe keine Verträge mit irgendjemandem gemacht.«
»Das stimmt so leider nicht«, korrigierte Klaus. Er hob abwehrend die Hände. »Doch reg dich bitte nicht auf. Ich werde mich um alles kümmern.«
»Was meinst du damit, dass ich mich nicht aufregen soll?« Sie setzte sich weiter vor. »Gerade hast du mir gesagt, dass ein Strafverfahren gegen mich im Gange ist. Und da soll ich mich nicht aufregen?«
»Ganz recht«, erwiderte er vollkommen ruhig. »Denn genau genommen können wir der Staatsanwaltschaft dankbar dafür sein, dass sie auf diese Papiere gestoßen ist. Denn einiges davon war auch mir nicht bekannt.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst, Klaus.«
Er schlug die Akte auf. »Sagt dir die M. Borchardt Immo GmbH etwas?«
»Nein.«
»Nun, das ist, um es kurz zu machen, dein Unternehmen. Diese GmbH und die M. B. Verwaltungen GmbH. Von beiden Firmen bist du die alleinige Geschäftsführerin.«
»Das kann nicht sein«, widersprach Maria und streckte Klaus auffordernd die Hand entgegen, damit er ihr die Akte reichte. Dieser stand auf, kam zu ihr herum und legte ihr die Unterlagen auf den Schoß. »Siehst du, hier.« Er fuhr mit dem Finger einige Zeilen entlang, in denen die vorgenannten Firmen und die alleinige Vertretungsberechtigung aufgeführt waren.
»Die Firmen wurden bereits vor sechzehn Jahren gegründet und auf dich eingetragen. Hanns hatte lediglich Kontovollmachten.«
Maria wurde schlecht.
»Ihr habt die Verträge damals bei dem Notarkollegen Vogelsang gemacht, erinnerst du dich?«
»Nein.«
»Der alte Vogelsang ist bereits vor sieben Jahren gestorben, sodass wir ihn hierzu nicht mehr befragen können. Doch im Grunde ist das auch gar nicht erheblich.«
»Es ist nicht erheblich? Aber wenn dieser Notar nicht mehr Auskunft geben kann, dann kann ich doch gar nicht beweisen, dass ich damit nichts zu tun hatte.« Maria spürte die Verzweiflung in sich aufsteigen.
»An der Eintragung der Firmen ist nicht zu rütteln«, stellte der Rechtsanwalt nüchtern fest. »Und das würden wir auch ohnehin nicht tun. Du bist die alleinige Geschäftsführerin, und es ist absolut wichtig, dass du genau das auch sagst, solltest du zu einer Vernehmung vorgeladen werden, wovon ich fest ausgehe.«
»Wie bitte? Bist du wahnsinnig? Warum sollte ich so etwas behaupten?«
»Ganz einfach: Weil die beiden Firmen keinerlei krumme Geschäfte gemacht haben, soweit ich es beurteilen kann.«
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr«, stöhnte Maria ermattet.
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Klaus, und es lag Bedauern in seiner Stimme. Er nahm Maria die Akte wieder ab und setzte sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch.
»Es ist so, Maria, dass Hanns ein ganzes Konstrukt an Firmen errichtet hat. Von einem Teil der Unternehmen wusste ich, von anderen, die ich in den Akten entdeckt habe, hatte ich auch noch nie gehört. Die Hauptfirma war die HB Immobilien, quasi die Mutter all seiner Firmen. Die anderen waren Unterfirmen, insgesamt handelt es sich um zweiundzwanzig Firmen.«
»Zweiundzwanzig?«, echote Maria, die glaubte, sich verhört zu haben.
»Ganz recht. Doch die M. Borchardt Immo GmbH sowie die M. B. Verwaltungen GmbH sind ausgegliedert und die einzigen Firmen, die nicht Hanns gehörten. Wie gesagt, für diese beiden hatte er lediglich Bankvollmachten.«
»Und mit diesen Firmen hat er dann in meinem Namen Leute betrogen?«
»Das ist es ja. So wie es aussieht, nicht. Die M. Borchardt Immo GmbH ist Eigentümerin eines Mietshauses, das wiederum durch eine von Hanns’ Firmen gebaut wurde. Hiernach hat deine Firma, wenn man es so sehen will, die Rechnungen an Hanns’ Firma vollständig beglichen, und sodann hat die M. B. Verwaltungen GmbH die monatliche Abwicklung der Mieteinnahmen, Abrechnungen und alles Mögliche übernommen.«
»Es tut mir leid, Klaus, ich kann dir nicht folgen.«
Er sah sie mitfühlend an. »Natürlich nicht.« Er deutete auf den Kaffee. »Trink erst mal. Oder möchtest du vielleicht etwas Stärkeres?«
»Nein danke.« Maria schüttelte den Kopf.
»Die beiden Firmen«, sagte Klaus nun, »die auf deinen Namen eingetragen sind, sind sauber. Sie haben bis auf einen kleinen Restkredit von nicht einmal fünftausend Mark keine Verbindlichkeiten, doch das Mietshaus gehört dir. Hanns hat die Firmen wohl damals mit der Intention gegründet, ein paar Steuern zu sparen, indem er Rechnungen von der einen an die andere Firma ausgestellt hat. Aber das ist vollkommen legal und gängige Praxis.«
»Und was soll das bedeuten?«
»Nun ja, die schlechte Nachricht ist, dass die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen gegen Hanns auf diese beiden Firmen gestoßen ist und somit nachweisen kann, dass du zumindest ansatzweise in seine Geschäfte Einblick hattest.«
»Aber das stimmt doch gar nicht«, versuchte Maria, sich zu verteidigen.
»Laut diesen Unterlagen schon. Aber«, er hob den rechten Zeigefinger, »es bedeutet eben auch, dass du nicht ohne etwas dastehst.«
»Aber das wird doch alles auch von der Staatsanwaltschaft oder von all den Leuten, denen Hanns Geld schuldete, beschlagnahmt werden«, wandte sie ein.
»Nein, wird es nicht. Aus welchem Grund denn auch? Zunächst sind alle Konten eingefroren, klar. Doch an das hier«, er tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte, »werden die nicht rankommen.«
»Ich habe denen aber doch schon erklärt, dass ich nichts mit Hanns’ Geschäften zu tun hatte und überhaupt nichts darüber weiß«, brachte Maria mit Verzweiflung in der Stimme hervor.
»Und das stimmt ja auch. Denn das hier«, wieder tippte er auf die Akte, »hat überhaupt nichts mit Hanns’ Geschäften zu tun. Du bist die alleinige Geschäftsführerin zweier vollkommen legaler Firmen, die mit nur einem überaus geringen Kreditbetrag belastet sind. Zumindest, wenn Hanns die Firmen nicht noch anderweitig verschuldet hat, was ich in jedem Fall herausfinden muss, bevor wir Weiteres unternehmen.« Er sah sie eindringlich an. »Kannst du dich erinnern, irgendwelche Kreditunterlagen für diese Firmen unterschrieben zu haben, Maria?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich weiß es nicht. Immer, wenn Hanns mir etwas vorgelegt hat und erklärte, dass er hier eine Unterschrift brauchte, weil bei manchen Sachen die Ehefrau eben auch mitunterzeichnen müsste, dann habe ich einfach unterschrieben.« Ihr traten Tränen in die Augen. »Ich war so unglaublich dumm und naiv. Was immer Hanns mir sagte, habe ich geglaubt.«
»Es ist keine Dummheit, wenn man dem Menschen, mit dem man verheiratet ist, vertraut, Maria.« Klaus fasste über den Tisch und legte seine Hand auf ihre.
»Ich brauche eine Vollmacht von dir, damit ich Einsicht in die Konten dieser beiden Firmen nehmen und mich schlaumachen kann. Wenn es wirklich nicht mehr dazu gibt, als in diesen Akten steht, wärst du gut beraten, dich um diese Firmen zu kümmern und alles daranzusetzen, damit du vollständigen Zugriff darauf bekommst.«
»Aber ich habe doch überhaupt keine Ahnung von dem, was man in einer solchen Firma zu tun hat«, widersprach Maria.
»Es gibt genug Leute, die wir mit ins Boot holen können und die sich gern einer solchen Aufgabe widmen.« Er suchte ihren Blick. »Begreifst du denn nicht, Maria, das ist deine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Ich habe dir ja gesagt, dass die Lebensversicherung deines Mannes ganz sicher nicht einen einzigen Pfennig bezahlen wird. Er hat sich vor den Augen zweier Polizisten umgebracht. Daran wird nicht zu rütteln sein, und in der Police steht ganz eindeutig, dass die Versicherung in einem solchen Fall nicht zur Leistung verpflichtet ist. Aber das hier könnte dir helfen, Maria.«
Sie fühlte sich schon wieder so erschöpft, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment umzukippen. »Es wäre nicht richtig«, entschied sie dann.
»Was wäre nicht richtig?«
»Mich zu bemühen, an diese Firmen heranzukommen. Wenn dort wirklich noch Geld zu holen sein sollte, und sei es auch nur eine geringe Summe, dann steht es mir nicht zu. Hanns hat so viele Menschen betrogen. Es ist ihr Geld, nicht meines.« Sie schluckte. »Ich werde irgendeinen Weg finden, dir das, was ich dir für die Wohnung und den Lagerraum schulde, zurückzuzahlen, Klaus. Glaub mir, ich bekomme das hin.«
Klaus schüttelte den Kopf. »Du denkst doch nicht allen Ernstes, dass es mir auch nur einen Augenblick lang darum geht?« Er zog die Stirn in Falten. »Maria, Hanns hat nicht nur die Banken und Politiker belogen und betrogen, sondern auch dich.« Er räusperte sich. »Und zwar in jeglicher Hinsicht. Er war nicht der Mann, den du zu kennen glaubtest. Und ich habe mich genau wie all die anderen auch lange von ihm blenden lassen.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast es gewusst, nicht wahr?«
»Was meinst du?«
»An meinem Geburtstag«, erinnerte sie ihn. »Da hast du mir gesagt, dass ich auf gar keinen Fall etwas unterschreiben soll, das Hanns mir vorlegt. Du hast versucht, mich zu warnen.«
»Ich gebe zu, dass ich da schon einiges geahnt habe.«
»Seit wann?«
»Erst … ein paar Wochen vor deinem Geburtstag.«
»Und weshalb?«
Klaus nahm seine Tasse zur Hand, lehnte sich zurück und trank einen Schluck. »Ich denke, weil offensichtlich war, dass Hanns mir keinen vollständigen Einblick in seine Geschäfte geben wollte. Nicht dass er das gemusst hätte. Aber meiner Erfahrung nach sind ehrliche Leute froh, wenn ein Rechtsanwalt noch einen Blick auf Papiere und Verträge wirft, wenn er zur Verfügung steht. Und Hanns wusste ja, dass er sich voll und ganz auf mich hätte verlassen können. Doch er war seit einiger Zeit sehr darauf bedacht, mich nur so viel sehen zu lassen, dass ich mir kein Gesamtbild machen konnte. Er hat mir immer nur einige Papiere vorgelegt, mich isoliert Verträge vorbereiten lassen.«
»Was meinst du mit isoliert?«
»Nun ja, wie in dem Fall mit Lea Stern, der ja auch durch die Presse ging. Ich habe auf Hanns’ Wunsch hin die Kaufverträge für die Grundstücke und die Gebäude vorbereitet. Doch die Abwicklung, also die Beurkundung und die Zahlungen, wollte Hanns selbst in die Hand nehmen. Im Nachhinein, da alles aufgeflogen ist, weiß ich natürlich, weshalb. Lea Stern hatte nie vor, an Hanns zu verkaufen, und er hat alles nur fingiert, um an die Kredite der Bank zu kommen.«
»Aber warum?« Maria spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Warum hat er das getan? Er hätte doch einfach aufhören können. Was sollten all die Lügen schon bringen?«
»Er wollte sein Gesicht nicht verlieren«, mutmaßte Schröder. »Hanns hatte sich da in etwas verrannt. Sein Lebensstil und das, was er an Geld verdiente, passten nicht mehr zusammen.«
»Ich komme mir vor, als wäre mein ganzes Leben eine Lüge«, stieß Maria heiser hervor. »Ich wusste immer, dass Hanns das Geld unglaublich wichtig war, vermutlich sogar wichtiger als seine Familie, auch wenn ich dies nie wahrhaben wollte. Aber irgendwie habe ich es stets geahnt. Doch ich dachte, dass es ihm deshalb so von Bedeutung war, weil er so viel dafür gearbeitet hat und das behalten wollte, was er hatte.« Sie schüttelte den Kopf. »Dabei hatte er doch eigentlich gar nichts. Es war ein wirres Konstrukt aus Lügen und noch mehr Lügen, nichts weiter.«
»Du musst das hinter dir lassen, Maria«, riet Klaus nun. »Du hast das Ganze nicht zu verantworten, und es nützt nichts, wenn du dich damit quälst.«
»Ach nein? Und wie soll ich mit den anklagenden Blicken fertigwerden, die die Menschen mir zuwerfen?«
»Sie werfen dir diese Blicke zu, weil sie es bei Hanns nicht mehr können«, entgegnete der Rechtsanwalt. »Doch du hast nichts verbrochen, und seit Hanns’ Tod muss ich zusehen, wie du von Woche zu Woche immer weniger wirst. Du hast nur dieses eine Leben, Maria, und es ist an der Zeit, wieder nach vorn zu blicken. Und wenn du es schon nicht für dich tun willst, dann tu es wenigstens für Hanna.«
»Ich habe das Gefühl, dass sie ganz gut ohne mich zurechtkommt. Auch wenn wir in einer Wohnung leben, bekomme ich sie kaum zu Gesicht. Sie geht morgens zur Arbeit und kommt meist erst spät am Abend heim.«
»Weshalb das? Was macht sie nach der Arbeit?«
»Sie hat einen Liebsten, weißt du? Und im Gegensatz zu meinen vermeintlichen Freunden, die sich bis auf Uschi allesamt von mir abgewandt haben, seit das alles geschehen ist, scheint der junge Mann an Hanna festzuhalten.« Maria seufzte. »Ich gönne es ihr ja. Doch mir fällt in deiner Wohnung die Decke auf den Kopf, und ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich habe wegen all dieser Betrügereien von Hanns ein so schlechtes Gewissen, dass ich kaum mehr klar denken kann.«
»Ich weiß, was du tun kannst und tun solltest.«
»Ach ja? Und das wäre?«
»Kämpfen, verdammt noch mal. Stell dir diese Sache als ein Architekturprojekt vor. Du stehst vor einer Ruine, und es ist deine Aufgabe, daraus wieder ein Haus zu bauen, das stabil, formschön und funktional ist. Und an dem du endlich wieder Freude haben kannst.«
Maria lächelte. »Du klingst ja mit einem Mal so leidenschaftlich, Klaus«, schmunzelte sie.
»Weil mich deine Lethargie wütend macht«, knurrte er, musste aber selbst schmunzeln. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte. »Ich habe hier eine Möglichkeit für dich, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und wenn du schon keine Freude darüber empfinden kannst, dann lass mich wenigstens machen. Denn ich habe noch Ehrgeiz, und ich wünschte, ein klein wenig davon auch an dich weitergeben zu können.«
Irgendetwas an der Art, wie er es sagte, berührte Maria. Vielleicht war es, weil sie ihn noch nie zuvor aufbrausend erlebt hatte. Er war stets der ruhige, besonnene Jurist gewesen. Nun jedoch spürte sie, dass es ihm um sie ging. Und das gab ihr ein gutes Gefühl. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie hatte jetzt mehr als ein Vierteljahr damit verbracht, in Trauer und Verzweiflung zu versinken. Womöglich war es wirklich an der Zeit, sich aufzuraffen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
»Ich mag das Bild, den Schutt eines eingestürzten Gebäudes wegzuräumen und daraus etwas Neues zu bauen«, sagte sie nun.
Wieder griff Klaus über den Tisch und legte kurz seine Hand auf ihre. »Das freut mich.«
»Also gut«, entschied sie. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Schließlich habe ich nichts zu verlieren.« Fast übermütig griff sie sich einen der Kekse und schob ihn sich in den Mund. Als sie hinuntergeschluckt hatte, bat sie: »Erklär mir genau, wie ich vorgehen soll.« Sie deutete auf die Akte. »Aber bitte nicht in deinem Juristendeutsch. Denn sonst, das verspreche ich dir, ist das, was du vorhast, zum Scheitern verurteilt.« Sie lächelte ihn an und nahm sich noch einen Keks. Ein eigenartiges Gefühl machte sich in diesem Moment in ihr breit. War das so etwas wie Kampfgeist, der sich da regte?