Ich bin so dermaßen weit weg von allem, was ich je gewollt habe, dass ich nicht mal mehr weiß, was das überhaupt war.
HOLGER BORCHARDT
Holger griff die Enden des Kissens und drückte es rechts und links gegen seine Ohren, um nichts mehr von dem hören zu müssen, was nebenan geschah. Er war aufgestanden und hatte das Wohnzimmer verlassen, als Ede, Monika, Paul und Wiebke laut gejubelt hatten, weil in den Nachrichten über die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback in Karlsruhe und des Leiters der Fahrbereitschaft Georg Wurster berichtet worden war. Laut dem Fernsehbericht hatte sich das Kommando Ulrike Meinhof zu der Tat bekannt, was erneuten Jubel bei den anderen auslöste.
Holger wusste ja um Monikas radikale Einstellungen. Und er hatte seit dem 13. Dezember letzten Jahres, als sie ihn ohne sein Wissen als Fahrer eines Raubüberfalls, bei dem ein Polizist ums Leben gekommen war, eingesetzt hatte, immer wieder darüber nachgedacht, sich von ihr zu trennen. Aber er liebte sie. Sie war für ihn wie eine Droge, von der er genau wusste, dass sie sein Untergang sein würde. Und doch konnte er die Finger nicht davon lassen und brauchte wieder und wieder eine Dosis, selbst wenn er ahnte, dass es kein gutes Ende für ihn nehmen würde.
Monika war für ihn da gewesen, als die Bombe mit seinem Vater geplatzt war, und hatte ihm beigestanden. Genau genommen war sie es gewesen, die ihm am ersten Weihnachtstag die Nachricht überbracht hatte, dass Hanns Borchardt, der Baulöwe Berlins, sich am Heiligabend das Leben genommen hatte. Monika hatte es im Radio gehört, als sie sich Holgers Wagen geliehen hatte, weil sie irgendwo hingemusst hatte, und war hierauf direkt zu ihm in die Wohnung zurückgekommen.
Im ersten Moment hatte Holger geglaubt, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Dann war er zum nächsten Münzfernsprecher geeilt und hatte in der Villa seiner Eltern angerufen, weil er fest davon ausgegangen war, dass es sich nur um eine Falschmeldung handeln konnte. Das konnte doch nicht wahr sein. Außerdem hätte man ihn doch informieren müssen.
Doch schon als Klaus Schröder ans Telefon gegangen war, hatte Holger geahnt, nein sogar gewusst, dass es keine Falschmeldung war.
Der Rechtsanwalt hatte Holger dann mitgeteilt, dass man versucht hätte, ihn ausfindig zu machen, um ihn zu informieren. Sein Freund Thomas, bei dem er zu der Zeit eigentlich gelebt hatte, wusste jedoch auch nicht, wo Holger sich aufhielt, und hatte auch keine Anhaltspunkte geben können. Dann hatte Klaus Schröder ihn gebeten, zur Familienvilla zu kommen, damit man dort in Ruhe über alles sprechen könnte. Und das hatte Holger getan.
Er hatte sich so elendig gefühlt, als er seine Mutter und seine Schwester gesehen hatte, die beide vollkommen aufgelöst gewesen waren. Und dies nicht nur wegen des plötzlichen Todes des Ehemannes beziehungsweise Vaters, sondern weil am Abend zuvor herausgekommen war, wer Hanns Borchardt, der ach so große, wichtige Mann, in Wahrheit gewesen war: der größte Lügner und Betrüger, den Berlin je gesehen hatte.
Während der Stunden, die Holger in der Villa verbracht hatte, hatte er dann erfahren, wie groß der Schaden wirklich war, den sein Vater angerichtet hatte, und auch, dass seine Mutter und Schwester in Kürze die Villa räumen mussten, da diese genau wie die Autos, der Helikopter und auch die Grundstücke und Firmen in die Konkursmasse fallen und veräußert werden würde. Alles war weg, wirklich restlos alles, und selbst Klaus Schröder hatte, wie er Holger sagte, keine Ahnung vom Ausmaß der Machenschaften seines Mandanten gehabt. Seine Mutter hatte die meiste Zeit nur dagesessen, vor sich hin gestarrt und immer wieder in unkontrollierten Schüben gezittert. Auch als Holger ihr eine dicke Strickjacke geholt und über die Schultern gelegt hatte, war es nicht besser geworden.
Nur wenige Tage danach waren seine Mutter und seine Schwester in eine Wohnung Klaus Schröders gezogen, wo sie auch jetzt noch lebten, während Holger zu Monika zurückgekehrt war und sich dort verkrochen hatte. Am 30. Dezember war dann sein Wagen abgeschleppt worden, weil dieser offenbar über die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden war. Auch wenn Holger ansonsten keinen Wert auf irgendwelche Statussymbole legte, war es bei seinem BMW etwas anderes gewesen. So bescheuert er sich auch dabei vorkam, liebte er dieses Auto, war es für ihn doch zu einer Art Zeichen seiner Unabhängigkeit geworden, auch wenn er das nicht offen zugegeben hätte. Ganz abgesehen davon war es praktisch, war er doch in seinem Bekanntenkreis der Einzige mit einem fahrbaren Untersatz.
Nach der Beerdigung seines Vaters hatte er seiner Mutter das Geld zurückgeben wollen, das diese ihm bei seinem Auszug geschenkt hatte. Zumindest den Teil, der noch vorhanden war. Bis zu dem Zeitpunkt war es sogar noch einiges gewesen, hatte er doch bis dahin lediglich zweimal Thomas’ Miete bezahlt und ansonsten Geld für einige Lebensmittel, vor allem aber für Bier ausgegeben. Das war alles gewesen. Seine Mutter hatte sich über sein Angebot gefreut, dies jedoch dankend abgelehnt. Heute wünschte er mehr denn je, sie hätte das Geld genommen, denn dann hätte es wenigstens einen gewissen Zweck erfüllt, während ihm im Laufe der Monate die Scheine nur so durch die Finger geronnen waren.
Ende Januar hatte er sich von Monika überreden lassen, sich einen gebrauchten Ford zu kaufen. Dass der Wagen vor allem dazu dienen sollte, damit Monika und ihre RAF -Freunde bei ihren Aktionen mobil waren, war ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen. Und ebenso wenig schmeckte ihm, dass nach und nach das Geld, das seine Mutter ihm für einen Neuanfang gegeben und was diese jahrelang zurückgelegt hatte, neben den monatlichen Mietzahlungen für Monikas Wohnung vor allem dafür draufging, die ganzen Schnorrer, die sich wie Parasiten durch Monikas Kühlschrank fraßen, mit durchzufüttern. Ein paarmal hatte Holger auch aufgemuckt, was jedoch bei Monika alles andere als gut angekommen war, hatte sie ihm doch vorgehalten, dass er noch immer in seinem früheren Denken gefangen war und damit Teil des faschistischen Unterdrückungssystems, an dem er sein bisheriges Leben lang partizipiert hatte. Holger hatte widersprechen wollen, doch insgeheim fürchtete er so sehr, dass Monika ihm den Rücken kehren könnte, sodass er stumm blieb.
Seitdem hatte er das Gefühl, dass es für ihn irgendwie schlimmer geworden war. Er fühlte sich abhängig und unterdrückt wie nie zuvor in seinem Leben. Sosehr er früher das Gefühl gehabt hatte, ausbrechen und sich gegen seinen Vater auflehnen zu wollen, ja, eingesperrt zu sein in einem vorbestimmten Leben, war es nun doch um ein Vielfaches misslicher. Denn während sein Vater und teilweise auch seine Mutter gewisse Erwartungen an ihn gehabt hatten, die er als Druck empfunden und gegen die er nur zu gern aufbegehrt hatte, schien es Monika gleichgültig zu sein, was er tat und was nicht. Und mehr noch. Er spürte, dass er austauschbar war, und wenn Monika sich zwischen ihm und ihren RAF -Freunden beziehungsweise der Sache selbst entscheiden müsste, würde er den Kürzeren ziehen.
Einige Male war er schon so weit gewesen, einfach seine Sachen zu packen und zu Thomas zurückzugehen in der Hoffnung, dort wieder unterkriechen zu können. Doch die Angst, dass der Bruch mit Monika dann endgültig wäre, hielt ihn zurück. Und was sollte dann werden? Wie sollte er weitermachen ohne die Frau, von der er sicher war, dass sie die Liebe seines Lebens war?
Natürlich war ihm klar, dass er mit ihr niemals ein bürgerliches Leben würde führen können. Andererseits, so sagte er sich immer wieder, war es ja durchaus möglich, dass die Bewegung oder als was auch immer man die RAF bezeichnen wollte, gemäßigter wurde und das Extreme ablegte. Widerstand hin oder her – Holger konnte sich nicht vorstellen, dass es für irgendjemanden gut sein konnte, so zu leben, wie Monika und ihre Freunde es taten. Nichts war in ihrem Leben geregelt; sie mussten ständig untertauchen und stets fürchten, entdeckt und verhaftet zu werden. Zwar waren Monika, Ede und auch die anderen nicht so bekannt wie beispielsweise Siegfried Haag, Gudrun Ensslin oder Andreas Baader. Vor allem war für Monika, zumindest soweit Holger es wusste, kein Haftbefehl erlassen worden. Natürlich suchte man mit Hochdruck nach den Leuten, die für den Überfall auf das Waffengeschäft im letzten Jahr, bei dem ein Polizist erschossen worden war, verantwortlich waren. Doch bisher waren Monika und Ede hierbei nicht ins Visier der Ermittler geraten, hätte doch die Polizei sonst längst vor der Tür gestanden.
Holgers stille Hoffnung war, dass sich die politische Lage im Land veränderte und sich alles mit der Zeit beruhigte. Vielleicht zeigten die vielen Proteste und Demonstrationen Wirkung, und es würde sich etwas bewegen. Und dann könnten Monika und er sich ein Leben abseits der RAF aufbauen, vielleicht in Deutschland, vielleicht auch ganz woanders im Ausland. Irgendwo, wo sie sicher waren und nicht jederzeit damit rechnen mussten, verhaftet zu werden.
Holgers größte Angst war, dass Monika sich immer tiefer und tiefer in die Sache hineinziehen ließ und irgendwann nicht mehr in der Lage war, sich wieder aus dem Sumpf von Gewalt und Tod zu befreien. Allein die Vorstellung, dass ihr etwas geschehen könnte, nahm ihm fast den Atem.
Wieder tönte es laut von drüben. Diese verdammte Schnorrerbande! Sie nahmen Monika aus wie eine Weihnachtsgans, und da sie selbst kaum etwas hatte, war es letztendlich sein Geld, das sie durchbrachte. Und nun saßen sie da und feierten den Tod Bubacks, dessen Fahrers und des Fahrbereitschaftsleiters, kifften und tranken bis zur Bewusstlosigkeit. Und dabei heckten sie immer weitere Pläne aus, um für die RAF Straftaten zu begehen. Holger wollte von alldem nichts hören. Er wollte nicht wissen, was sie planten, schon um in nichts von alldem mit reingezogen zu werden. Andererseits, und darüber dachte er in letzter Zeit immer öfter nach, wäre es vielleicht gut, seine Einstellung zu überdenken und sich zu integrieren, schon um nicht eines Tages Monika ganz an die Gruppe zu verlieren. Wenn er Teil von ihr würde und sich bewies, könnte er sich womöglich einen gewissen Respekt verdienen. Zwar schloss er für sich aus, Überfälle zu begehen oder sich an Straftaten zu beteiligen, bei denen Menschen verletzt oder gar getötet werden könnten. Nein, mit so etwas wollte er nichts zu tun haben. Doch es gab ja auch andere Aufgaben, die zu erledigen waren. In jedem Fall würde er sich dann aber strafbar machen, was er eigentlich unbedingt vermeiden wollte. Andererseits wusste er überhaupt nicht mehr, wohin er gehörte. Alles, was einmal seine Existenz ausgemacht hatte, war weg. Sein Vater war tot, seine Mutter mittellos und die Einzige, die noch ein einigermaßen geregeltes Leben führte, war seine Schwester Hanna. Was diese plante, sobald sie ihre Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin beendet hatte, wusste er nicht. Er hatte ja auch in den vergangenen Wochen kaum mehr Kontakt zu ihr gehabt. Die wenigen Male, die er in der Wohnung gewesen war, in der seine Mutter und Schwester jetzt lebten, konnte man an einer Hand abzählen. Hannas Meinung über Monika kannte er, und seine Mutter hatte nicht die geringste Ahnung, mit wem er seine Zeit verbrachte. Und von ihm selbst würde sie es auch ganz sicher nicht erfahren.
Hanna hatte bisher offenbar dichtgehalten, denn sonst hätte seine Mutter ihn mit Sicherheit bei einem seiner wenigen Besuche darauf angesprochen. Doch Holger glaubte nicht, dass die Schwester bisher aus Loyalität ihm gegenüber nichts gesagt hatte. Vielmehr wollte sie wohl verhindern, dass noch mehr Kummer über die Mutter hereinbrach – und das konnte er ihr nicht verübeln. Seine Mutter war ja auch so schon nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Die Geräusche von drüben wurden leiser. Entweder, die anderen waren inzwischen so zugedröhnt, dass sie einfach eingeschlafen waren, oder aber sie waren gegangen.
Holger ließ das Kissen los und lauschte. Er erkannte Monikas Stimme, dann Edes. Was sie sagten, konnte er jedoch nicht verstehen. Nach einer Weile meinte er zu vernehmen, dass Monika sich von Ede verabschiedete. Kurz darauf hörte er die Tür und atmete erleichtert aus. Offenbar waren diese Parasiten endlich verschwunden.
Die Tür zum Schlafzimmer wurde geöffnet, und Monika trat ein. Sie wankte ein wenig.
»Du bist ja wach«, stellte sie fest. »Wolltest du dich nicht hinlegen, weil du so müde warst?«
»Ich hab bis eben gepennt«, log Holger und setzte sich ein wenig auf. »Sind die anderen weg?«
»Mhm.« Monika nickte. Dann zog sie sich bis auf den Slip aus und kam zum Bett herüber. Holger hob die Decke an, damit sie darunterschlüpfen konnte. Sie legte sich mit so viel Abstand wie möglich neben ihn und wandte ihm den Rücken zu.
»Komm her«, sagte er und wollte sie an sich ziehen, doch Monika machte keine Anstalten, sich ihm zu nähern.
»Hast du was?«, fragte er dann.
»Bin müde«, gab sie knapp zur Antwort.
Holger robbte sich nah heran und legte den Arm um sie. Dann begann er, ihren Nacken zu küssen.
»Ich will schlafen«, brummte sie.
Holger seufzte. »Hast du überhaupt noch Bock auf mich?«
»Ich will einfach schlafen. Dafür muss ich mich ja wohl nicht entschuldigen«, gab sie grimmig zurück.
»Ne, musst du nicht. Aber da zwischen uns immer weniger läuft, werde ich ja mal fragen dürfen«, beschwerte er sich.
Monika antwortete nicht.
»Wenn’s dir lieber ist, kann ich auch gehen«, erklärte er nun und versuchte, sich die Unsicherheit, welche Antwort sie ihm hierauf geben würde, nicht anmerken zu lassen.
»Wenn du gehen willst, geh. Wenn du bleiben willst, bleib. Ist deine Sache. Aber ich will jetzt endlich schlafen.«
»Ich bin dir echt total gleichgültig, oder?«, fragte Holger.
Einen Moment regte Monika sich nicht, dann drehte sie sich auf den Rücken und sah zu ihm herüber.
»Wenn du so weitermachst, kannst du echt deine Sachen packen und verschwinden.«
»Ach ja?« Holger wurde wütend. »Aber um deine Miete und das Bier für deine Versagerfreunde zu bezahlen bin ich gut genug, ja?«
Monika blies ihre Wangen auf und dann die Luft hinaus.
»Echt jetzt? Ey, ich hab überhaupt keinen Bock auf so was. Du bist offenbar genau wie dein Alter. Hauptsache Kohle und damit Druck aufbauen. Aber nicht bei mir. Am besten machst du, dass du rauskommst.«
Holger schluckte. »Tut mir leid. Das war dämlich von mir.«
»Ja, aber ist ja nicht das erste Mal, dass du so quatschst. Es war echt nett mit dir, aber nun reicht’s auch.« Sie sah ihn an. »Du kannst deine Sachen noch hierlassen, bis du eine andere Bleibe hast.«
»Du schmeißt mich raus?« Holger spürte sein Herz schlagen. »Weil ich einen«, er betonte das letzte Wort, »blöden Satz gebracht hab?«
»War ja nicht nur einer und nicht nur der eben«, entgegnete Monika. »Und dass du die anderen Versager nennst, während du den ganzen Tag nur rumhängst und nichts machst, hab ich auch dicke. Du bist echt nie aus diesem scheißelitär faschistischen System rausgekommen.«
»Das ist doch Blödsinn«, widersprach Holger. »Okay, okay, ich hätte nicht so über die anderen reden sollen. Aber die hängen jeden Tag hier ab und …«
»Du hängst auch jeden Tag hier ab«, stellte Monika fest.
»Ich wohne hier. Das ist ja wohl ein bisschen was anderes.«
»Ich «, sie tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Brust, »wohne hier. Du bist hier nur untergekrochen. Und während die anderen und ich die gleichen Einstellungen haben und was tun, um die Sache voranzubringen, bist du noch immer der verwöhnte Schnösel, der glaubt, was Besseres zu sein.«
»Das ist nicht wahr. Ich glaube nicht, besser zu sein als ihr«, empörte sich Holger.
»Ach ne? Kommt mir aber so vor.« Sie griff zum Nachttisch und nahm sich eine Zigarette, die sie sogleich anzündete. »Aber ist auch egal«, sagte Monika nun und blies den Rauch aus. »Es war nett mit dir, aber nun ist es auch echt gut.«
Holger schluckte schwer. Monika war wirklich im Begriff, ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen. Hätte er doch bloß nichts gesagt. Er musste unbedingt reagieren, etwas vorbringen, damit die Situation nicht weiter eskalierte.
»Ich würde ja die Sache auch voranbringen wollen, aber ihr lasst mich ja nicht«, stieß er eilig hervor.
Monika nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, blies wieder den Rauch aus und sah ihn dann an. »Das sind ja ganz neue Töne«, bemerkte sie süffisant. »Was ist denn daraus geworden, dass du nichts damit zu tun haben willst?«
»Die Dinge haben sich eben geändert«, antwortete Holger, obwohl ihm nicht ganz wohl dabei war. Er wollte nicht in die Straftaten, die die RAF beging, involviert werden, auf gar keinen Fall. Doch er spürte, dass er für Monika reiz- und auch nutzlos geworden war. Wenn er sie jetzt nicht davon überzeugte, ihn bleiben zu lassen, würde die Tür hinter ihm geschlossen und nie wieder von Monika geöffnet werden. Und dann gab es für ihn nichts mehr als einen endlosen Abgrund, in den er stürzen und tiefer und immer tiefer fallen würde, bis er aufschlug und auf dem Boden zerschellte.
»Irgendwie glaub ich dir nicht«, sagte Monika nun und sah ihn prüfend an. »Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber wenn du dabei bist, bist du dabei, und dann gibt es auch kein Zurück mehr. Das hier ist mehr als einer eurer Studentenstreiks, weil man euren Professoren übel mitgespielt hat.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht?«, gab er harsch zurück. »Ich finde es ganz schön abgehoben von dir, so zu tun, als müsstest du erst überlegen, ob du mir trauen kannst. Wer wurde denn von der Polizei befragt und hat trotzdem dichtgehalten, als Ede nach eurem Überfall den Polizisten erschossen hat?« Er sah sie einen Moment lang an. Seine Worte schienen zu wirken. »Hätte ich gewollt, wäre Ede längst im Knast. Und du auch«, fügte er dann noch hinzu. »Aber ich habe meine Klappe gehalten und das Geld, was ich hatte, dazu benutzt, einen Wagen zu kaufen, den die anderen auch nutzen, und außerdem hier die Miete zu bezahlen und auch allen anderen Kram.«
»Schon wieder redest du nur vom Geld«, entgegnete Monika verärgert.
»Ja, weil genau dieses Geld notwendig war, damit die Miete gezahlt wird und hier keiner vor der Tür steht, der blöde Fragen stellt.« Holger machte eine Pause, damit Monika das Gesagte sacken lassen konnte.
»Denn das macht man so, wenn man nicht auffallen will und in irgendeiner linken Kommune Unterschlupf suchen muss, die die Bullen schon kennen und dort regelmäßig auf der Matte stehen. Oder glaubst du, dass ihr nicht längst aufgeflogen wärt, wenn der Staatsschutz euch auf dem Schirm hätte?«
Monika schien kurz zu überlegen. »Damit könntest du recht haben«, gestand sie ein.
»Damit habe ich recht«, entschied Holger. »Und nur, weil ich mich nicht zukiffe wie alle anderen und nicht bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen lasse, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht dazugehöre. Ich mache nur nicht so viel Geschrei um mich und die Sache, sondern handele lieber, anders als so manch einer, der große Reden schwingt und selbst nichts hinkriegt. Oder wann hast du Paul mal wirklich etwas Sinnvolles tun sehen?« Holger wartete einen Moment, ließ seine Worte wirken. Er war erleichtert, meinte er doch in Monikas Blick lesen zu können, dass sich ihre abwehrende Haltung ihm gegenüber zumindest ein wenig verändert hatte.
»Aber du hast immer gesagt, dass du damit nichts zu tun haben willst«, erinnerte sie ihn noch mal.
»Klar, weil ich, bis ich dich kennengelernt habe, überhaupt nie mit so was konfrontiert war. Nun erzähl mir nur nicht, dass du am Anfang keine Bedenken hattest. Du bist nur länger dabei«, meinte Holger.
»Wäre vielleicht ganz gut gewesen, mir mal zu sagen, dass sich deine Meinung geändert hat.« Monika beugte sich zu ihm herüber, gab ihm einen Kuss und lächelte dann.
Holger spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Er war so unglaublich erleichtert, dass Monika offenbar beschwichtigt war.
»Alles wieder gut?«, fragte er und küsste sie ebenfalls.
»Fürs Erste kannst du bleiben«, antwortete sie und lächelte ihn an.
»Wäre es dir echt egal, wenn ich ginge?«, wagte Holger sich nun wieder etwas vor, auch wenn er fürchtete, eine Antwort zu erhalten, die ihm nicht gefiel.
»Na ja, ist doch sowieso alles eine Frage der Zeit«, stellte Monika nun fest. »Und wenn’s vorbei ist, ist es vorbei.«
»Vielleicht sollten wir mal Urlaub machen. Nur wir beide«, schlug Holger vor, bereute es aber augenblicklich, als er Monikas verständnislosen Blick sah.
»Ich meine, nur mal für ein paar Tage irgendwie raus aus der Stadt, um den Druck rauszunehmen und sich zu überlegen, wie es weitergehen kann«, fügte er eilig hinzu.
»Weitergehen womit?«, fragte Monika nach.
»Na, mit der Sache. Du hast es doch vorhin gesagt: Die Studentenstreiks waren ja ganz nett, aber so richtig geht es doch wohl nicht voran, oder?« Er deutete mit der Hand in Richtung Wohnzimmer, wo sie vorhin zusammengesessen hatten. »Oder glaubst du, dass die Ermordung Bubacks irgendetwas bringen wird? Das ändert gar nichts, das muss dir doch klar sein. Auf diese Weise wird euch keiner zuhören. Ihr bringt nur die Leute gegen euch auf«, redete Holger weiter, weil er merkte, nun endlich wieder Monikas Aufmerksamkeit zu haben. Sie hörte ihm zu, war interessiert. Wie sehr hatte er genau das in den letzten Wochen und Monaten vermisst.
»Darüber haben wir in der Gruppe auch schon gesprochen«, sagte Monika. »Wir müssen die Leute dazu bringen, dass sie uns ihre Aufmerksamkeit schenken«, ereiferte sie sich nun. »Doch wir kommen ja nicht mal nah genug an die da oben ran, dass sie sich anhören würden, was wir zu sagen haben.«
»Ich weiß«, stimmte Holger ihr zu, hoffend, dass das Thema sich damit erledigt hatte. Natürlich war sein Interesse an der RAF und deren Zielen nur geheuchelt. Doch endlich nahm Monika mal wieder Notiz von ihm.
»Sag mal eben, dein Alter, der kannte doch die ganzen hohen Tiere hier in Berlin.«
»Ja, warum?«
»Na ja, deshalb kennen die ja auch dich. Vielleicht könnten wir darüber mal nah genug an einen der Geldsäcke rankommen, um ihnen klarzumachen, worum es uns geht.«
Holger lachte freudlos auf. »Ich glaube, das kannst du vergessen. Gerade ich, der Sohn von Hanns Borchardt, bin wohl das, was man eine Persona non grata nennt.«
»Na ja, einen Versuch wäre es wert. Wie lange kennst du beispielsweise den Bürgermeister oder diese Firmenbosse und Bankiers?«
Holger sah sie fragend an. »Warum?«
»Ganz einfach, vielleicht mögen sie dich nicht, weil dein Vater sie beschissen hat. Aber wir hätten so wenigstens die Möglichkeit, ins Haus zu kommen und nicht draußen schon abgefangen zu werden.«
»Und wozu?«
»Um ihnen ein Schreiben zu übergeben, in dem steht, was wir von der Regierung fordern, damit so was wie mit Buback nicht mehr notwendig ist.«
»Aber wenn wir das machen, weiß jeder, dass ich zu euch gehöre«, antwortete Holger mit einem gewissen Entsetzen.
»Nur weil du ein Schreiben übergibst, das dann auch mal bei denen ankommt, an die es adressiert ist, bist du ja nicht gleich ein Terrorist.«
Holger wurde misstrauisch. »Sag mal, hast du dir das spontan gerade eben überlegt?« Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. Fast kam er sich vor, als wäre er in eine Falle getappt.
»Dass man an solche Leute rankommen muss?«, fragte Monika und fuhr sogleich fort. »Ne, darüber haben wir schon länger gesprochen. Nur dass wir mit dir in eine der Reichenvillen spazieren könnten, der Gedanke kam mir jetzt erst.«
Holger sah sie prüfend an. Irgendetwas in Monikas Blick, oder vielleicht auch an der Art, wie sie ihm geantwortet hatte, ließ Zweifel in ihm aufkommen, dass sie ihm wirklich die Wahrheit sagte.
»Aber muss ja nicht sein«, fügte Monika nun hinzu. »Ich dachte nur, das könnte was für dich sein, nachdem du hier eben Reden geschwungen hast, von wegen du machst lieber was, als nur zu labern.«
»Stimmt ja auch«, versicherte Holger sogleich.
Monika nahm den letzten Zug ihrer Zigarette und drückte diese dann in dem schon vollen Aschenbecher, der auf dem Nachttisch stand, aus.
Für Holger war es fast unerträglich, dass sie offenbar bereits wieder das Interesse an ihm verlor.
»An wen genau denkt ihr denn?«, fragte er nun nach. »Ich meine, wem wollt ihr denn ein Schreiben übergeben und wozu?«
Monika schien zu überlegen. »Na ja, am besten jemandem, dem man einen Schrecken einjagen kann und der schon deshalb unsere Forderungen weiterträgt«, gab sie ausweichend zur Antwort und sah ihn nun an. »Wenn du uns reinbringst, wäre das für mich echt ein klares Zeichen, dass du dich zu uns bekennst.«
Holger dachte nach. »Na ja, also Gerhard Lohmüller ist Bankdirektor und hat über viele Jahre Geschäfte mit meinem Vater gemacht. Zwar wird er nicht gut auf mich zu sprechen sein, doch ich glaube kaum, dass er mich abweisen würde.«
»Ein Bankdirektor«, überlegte Monika laut.
»Ja«, sagte Holger nur.
»Ich spreche mal mit Ede drüber«, kündigte sie an, lächelte, beugte sich zu Holger hinüber und gab ihm erneut einen Kuss. Holger zog sie erleichtert an sich. Das miese Gefühl, das in ihm aufgekommen war, ignorierte er. Alles, was zählte, war, dass Monika und er wieder eine Basis fanden und endlich ihre Beziehung wieder aufnahmen. Und wenn dazu weiter nichts notwendig war, als dass er seine früheren Kontakte nutzte, umso besser. Ihm konnte doch vollkommen egal sein, was Lohmüller oder auch andere von ihm hielten und ob sein Ansehen bei diesen noch mehr in den Keller ging. Er wollte ohnehin in seinem Leben nichts mehr mit diesen Leuten zu tun haben. Und wenn er nach einem kurzen Gespräch dort hinausgeworfen würde, dann war ihm das auch egal. Monika und er kamen sich wieder näher. Das war alles, was zählte.