5. Kapitel

Pommersche Straße 12 A, Berlin-Wilmersdorf

Donnerstag, 14. April 1977

Es ist, als wühlte ich mich jeden Tag durch einen Haufen aus Schmutz und Dreck. In über dreißig Jahren als Anwalt habe ich ein solches Lügengebilde nicht erlebt.

KLAUS SCHRÖDER

Er hatte gezögert, bevor er den Hörer abgenommen und in seiner Wohnung angerufen hatte, in der Maria und Hanna derzeit lebten. Es kam ihm vor, als müsste er immer genau abwägen, was er seiner Mandantin sagte und an welchem Punkt die Fakten nicht mehr relevant, sondern nur noch schmerzhaft für diese waren. Doch auf das, was er nun herausgefunden hatte, musste er reagieren, ob er wollte oder nicht.

»Ja, hallo?«, hörte er nun Marias Stimme. Früher hatte sie sich immer mit ihrem Namen gemeldet, wenn sie ans Telefon gegangen war. Doch inzwischen vermied sie es, diesen Namen auszusprechen, weil sie sich offenbar zu sehr dafür schämte.

»Maria? Ich bin es, Klaus. Ich hoffe, es geht dir gut?«

»Hallo, Klaus. Ja, mir geht es tatsächlich gut«, gab sie zu seiner Überraschung zurück. Vor allem wunderte ihn, dass es ehrlich klang und nicht mehr so matt wie sonst in letzter Zeit.

»Das freut mich wirklich sehr«, antwortete er.

»Was kann ich für dich tun?«, kam sie sogleich zum Punkt.

»Störe ich dich gerade?«, fragte er, weil er das Gefühl hatte, dass sie es eilig hatte.

»Aber nein, stören ist das falsche Wort. Ich will nur gleich noch mal weg, das ist alles.«

Er verzichtete darauf nachzufragen, ob sie etwas Bestimmtes vorhatte, obwohl es ihm so vorkam. Schließlich ging es ihn im Grunde nichts an, außerdem wollte er nicht aufdringlich wirken. Andererseits überraschte es ihn, hatte Maria sich doch in den vergangenen Wochen fast ausschließlich in der Wohnung verkrochen und war nur dann herausgekommen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Eigentlich hatte er überhaupt nur deshalb auch stets darauf bestanden, dass sie ihn in der Kanzlei aufsuchte, um sich mit ihm zu besprechen. Zwar war es auch praktisch, da die Akten, die er mit ihr durchgehen wollte, sich dort befanden. Doch der Hauptgrund war, dass er sie dazu hatte bringen wollen, wieder auf die Straße zu gehen, bevor sie sich irgendwann überhaupt nicht mehr raustraute. Nun zu hören, dass sie offenbar neuen Lebensmut geschöpft hatte, freute ihn aufrichtig.

»Gut«, sagte er deshalb nur. »Ich bin in den Akten auf etwas gestoßen, das ich gern mit dir bereden würde. Es hat nichts mit Hanns Straftaten zu tun, doch es wundert mich einfach.«

»Und was?«

»Sagt dir eine Senioreneinrichtung mit Namen Haus Abendfrieden etwas?«

»Haus Abendfrieden?«, wiederholte Maria. »Nein, davon habe ich noch nie gehört. Hat Hanns zum Schein auch noch ein Pflegeheim errichten lassen?«

»Nein, es gehört nicht ihm«, erklärte Klaus. »Vielmehr bin ich darauf gestoßen, dass Hanns laufende Zahlungen an das Heim geleistet hat. Erst habe ich an Spenden gedacht, doch er hat die Zahlungen nicht als solche angegeben, was eine absolute Ausnahme zu seinem sonstigen Vorgehen darstellt.«

»Ich weiß es nicht, Klaus. Bestimmt wird er irgendeinen Vorteil daraus gezogen haben.«

Klaus räusperte sich. »Und der Name Gertrud Meiners, sagt dir der etwas?«

»Nein. Überhaupt nicht. Wer ist das?«

»Die Zahlungen an das Heim laufen auf diesen Namen.«

»Gertrud Meiners«, wiederholte Maria nun noch mal. »Nein, Klaus, ich habe wirklich keine Ahnung.«

»Hast du etwas dagegen, wenn ich bei diesem Heim einmal nachfrage?«

»Tu, was du willst, Klaus. Wenn du das Gefühl hast, es würde etwas nützen, dann bitte.«

Kurz überlegte er, Maria erklären zu wollen, dass er einfach ein komisches Bauchgefühl bei den Abbuchungen hatte und deshalb der Sache nachgehen wollte. Doch er konnte ihrer Stimme anhören, dass es sie einfach nicht mehr interessierte, was Hanns getan oder auch nicht getan hatte. Und das konnte er ihr wahrlich nicht verdenken. Ihr gesamtes Leben war ein einziger Scherbenhaufen, und alles, was sie über Jahre geglaubt hatte, hatte sich als Lug und Trug herausgestellt. Er konnte durchaus verstehen, dass sie irgendwann abgeschaltet hatte.

»In Ordnung. Ich halte dich auf dem Laufenden, wenn ich etwas in Erfahrung bringen sollte.«

»Danke, Klaus, das ist nett von dir. Dann auf bald, ja?«

»Ja, auf bald, Maria. Ich melde mich. Auf Wiederhören.«

»Auf Wiederhören, Klaus.«

Klaus legte auf, überlegte kurz, suchte dann die Nummer des Pflegeheimes heraus und rief dort an.

»Haus Abendfrieden, Kleingans am Apparat«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Klaus Schröder, Rechtsanwalt in Berlin«, stellte Klaus sich vor. »Sagen Sie bitte, haben Sie eine Bewohnerin mit Namen Gertrud Meiners?«

Die Mitarbeiterin zögerte. »Aber ja, Frau Meiners lebt bei uns. Darf ich fragen, weshalb Sie das wissen wollen?«

»Nun, ich bin bei der Sichtung einiger Akten auf Zahlungen gestoßen und konnte den Namen nicht zuordnen«, gab Klaus zurück.

»Einiger Akten?«, wiederholte Frau Kleingans. »Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu Frau Meiners stehen?« Sie zögerte. »Es ist nämlich so, dass wir schon seit einiger Zeit ganz dringend versuchen, einen Angehörigen von Frau Meiners ausfindig zu machen.«

»Ach ja?«

»Ja, allerdings.«

Klaus überlegte. Eigentlich durfte er Hanns Namen nicht nennen. Doch wenn er hier weiterkommen und schlau aus der Sache werden wollte, blieb ihm wohl nichts anderen übrig.

»Nun, es verwundert mich etwas, dass Sie keinen Kontakt zu den Angehörigen Ihrer Bewohnerin haben? Ich meine, ist es nicht üblich, dass Kontaktpersonen vorhanden sind?«

»Ja, eigentlich schon«, antwortete sie zögernd.

»Frau Kleingans, ich glaube, wir haben gerade beide ein ähnliches Problem. Sie wollen keinen Namen eines Angehörigen nennen und ich nicht den meines Mandanten.«

Die Heimmitarbeiterin lachte auf. »Ja, so ist es wohl.«

»In Ordnung. Dann würde ich vorschlagen, ich nenne Ihnen lediglich einen Vornamen. Sollte dieser mit der bei Ihnen hinterlegten Kontaktperson übereinstimmen, können wir wohl davon ausgehen, uns darüber unterhalten zu dürfen. Was meinen Sie?«

»Eine gute Idee.«

»Hanns«, sagte Klaus hierauf.

Die Pflegekraft atmete hörbar aus. »Genau. Hanns«, bestätigte sie und fuhr sogleich fort. »Hanns Meiners, der Sohn unserer Bewohnerin. Wir haben hier eine Telefonnummer für Notfälle. Doch der Anschluss existiert nicht mehr, und die Rechnungen sind seit Anfang dieses Jahres nicht mehr beglichen worden.«

»Hanns Meiners«, wiederholte Klaus, der nun doch unsicher wurde. War wirklich von dem gleichen Mann die Rede?

»Haben Sie den Sohn Ihrer Bewohnerin mal persönlich kennengelernt?«

»Nein, leider nicht. Frau Meiners hatte schon sehr lange keinen Besuch mehr, wissen Sie«, sagte sie mit Bedauern in der Stimme.

»Hm.« Klaus überlegte: War er auf dem Holzweg? Soweit er wusste, waren Hanns Eltern schon sehr lange tot. Ganz abgesehen davon passte der Name nicht.

»Sagen Sie bitte, wie alt ist Frau Meiners?«

»Ende siebzig«, antwortete Frau Kleingans.

»Ich verstehe«, sagte Klaus, der nun schon in die Richtung gedacht hatte, dass es sich bei dieser Frau Meiners womöglich um eine frühere Geliebte von Hanns handelte, die krank und pflegebedürftig geworden war. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf. Nein, so würde er nicht weiterkommen.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Frau Meiners besuchen käme?«, fragte Klaus nun.

»Aber nein, natürlich nicht. Wir sind eine Seniorenresidenz und kein Gefängnis«, entgegnete Frau Kleingans. »Und vielleicht gelingt uns dann ja auch, weitere Angehörige ausfindig zu machen. Denn so leid es mir tut, doch wenn die Kostenübernahme nicht bald geklärt wird, werden wir Frau Meiners den Heimplatz kündigen müssen.«

»Ich verstehe«, antwortete Klaus und sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Mit dem Auto würde er bei dem Verkehr etwa eine Dreiviertelstunde bis Frohnau brauchen. Er warf einen kurzen Blick in seinen Terminkalender. Für den Nachmittag war dort nichts mehr eingetragen.

»Ich werde etwa in einer Stunde da sein«, kündigte er an.

»Ach, das freut mich wirklich, dass sich nun jemand kümmert.« Frau Kleingans klang erleichtert.

Klaus wollte erwidern, dass mit seinem Besuch keinesfalls klar war, dass er sich auch der Sache annehmen würde. Erst einmal musste er ja ohnehin herausfinden, wer diese Gertrud Meiners überhaupt war. Trotzdem sagte er: »Wir können dann ja nachher persönlich miteinander sprechen, Frau Kleingans. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich da bin.«

»Danke schön, Herr Schröder. Dann bis später.«

»Ja, bis später.« Klaus legte auf. Kurz überlegte er, ob er noch mal bei Maria anrufen sollte, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Doch er entschied sich dagegen. Im Grunde wusste er ja noch gar nichts, und der Name Hanns war ja nicht wirklich selten, höchstens in der Schreibweise mit zwei N. Aber wer konnte diese Gertrud Meiners sein, und weshalb hatte Hanns ihr ganz offensichtlich den Heimplatz bezahlt? Denn dass seit Januar keine Zahlungen mehr eingegangen waren, passte natürlich zu Hanns Tod am Heiligen Abend. Klaus schüttelte den Kopf, als könnte er so die vielen Gedanken ordnen. Alles, was Hanns betraf, war so undurchsichtig, ja fast irrational. Hanns schien in seiner vollkommen eigenen Welt gelebt und mit seinen vielen Lügen alles dem angepasst zu haben, was er dachte und wollte. Und tatsächlich hatte Klaus den Eindruck gewonnen, dass Hanns ein psychisches Problem gehabt haben musste, so wie er agiert hatte.

Er stand von seinem Schreibtischsessel auf, griff sich von der Garderobe seinen Mantel und verließ die Kanzlei. Sein Wagen stand ein Stück entfernt in einer Garage, weil er diesen im Laufe des Tages nur selten nutzte, da er innerhalb Berlins am liebsten mit der Bahn unterwegs war.

Er warf noch einen Blick auf seinen Notizzettel, auf dem er die Adresse Ludolfingerplatz 7 geschrieben hatte. Dann schloss er die Fahrertür, startete den Motor und fuhr los. Von der Pommerschen Straße aus bog er zunächst nach rechts auf die Bayerische Straße und schon nach gut hundert Metern nach links auf die Wittelsbacher Straße ein. Von dort aus ging es weiter auf der Brandenburgischen Straße und auf der Lewishamstraße, die ab der Kreuzung Stuttgarter Platz in die Kaiser-Friedrich-Straße überging. Nach insgesamt fast vier Kilometern erblickte er auf der linken Seite das imposante Schloss Charlottenburg mit seinen Parkanlagen, überquerte sodann über die Schloßbrücke die Spree und bog gleich dahinter nach links in den Tegeler Weg ein. Im Anschluss an den Kreisverkehr am Jakob-Kaiser-Platz befuhr er den Kurt-Schumacher-Damm, überquerte den Hohenzollernkanal und bog nach links in die Scharnweberstraße ein, die dann rechts abknickend in die Seidelstraße überging. Er passierte die linksseitig befindlichen Borsigwerke mit ihrem markanten Borsigturm, dem 1922 erbauten ersten Hochhaus Berlins, und fuhr weiter Richtung Norden. In Höhe des Humboldt-Schlosses Tegel bog er nach rechts auf den Hermsdorfer Damm ab. Nach Unterquerung der S-Bahn bog er nach links in die Berliner Straße und unmittelbar darauf nach links in die Burgfrauenstraße ein, der er bis zum Kreisel Zeltinger Platz folgte. Von dort aus überquerte er beim Bahnhof Frohnau die S-Bahn-Trasse und erreichte schließlich sein Ziel am Kreisverkehr Ludolfingerplatz 7.

»Guten Tag«, grüßte Klaus, als er auf den Empfangstresen zuging. »Mein Name ist Klaus Schröder, ich habe vorhin angerufen.«

»Ach, Herr Schröder, das freut mich wirklich.« Die Dame am Empfang kam um den Tresen herum und reichte ihm die Hand. »Constanze Kleingans, wir haben vorhin telefoniert.«

»Freut mich sehr«, gab Klaus zurück und schüttelte ihre Hand.

»Einen kurzen Moment bitte«, sagte sie nun zu ihm, ging noch einmal zum Tresen und in den dahinterliegenden Raum hinein, den man von Klaus Position nicht einsehen konnte.

»Gerda, ich bin mal kurz weg.«

»Ist gut«, hörte er nun eine weibliche Stimme. Dann kam Constanze Kleingans wieder nach vorn und deutete in Richtung Gang. »Gehen wir doch in den Cafébereich und setzen uns«, schlug sie vor.

»Gern.« Klaus folgte ihr den Gang entlang, an dessen Ende ein Raum gelegen war, in dem auf einem Tisch an der Seite etliche Tassen mit Untertellern bereitstanden und diverse Thermoskannen. Klaus fand die Beschreibung Café hierfür etwas übertrieben. Doch zumindest war außer ihnen niemand hier, sodass sie sich in Ruhe unterhalten konnten.

»Kaffee oder Tee?«, fragte Frau Kleingans.

»Gern einen Kaffee. Schwarz ohne alles.«

»Sehr gern. Nehmen Sie doch irgendwo Platz.«

»Danke.«

Klaus ging zu einem der Tische hinüber und setzte sich. Frau Kleingans schenkte die Tassen voll und kam dann damit herüber.

»Bitte«, sagte sie, als sie eine davon vor Klaus abstellte.

»Vielen Dank.« Er sah sich um. »Gemütlich haben Sie’s hier. Ist es eine reine Senioreneinrichtung?«

»Ja. Und zwar ohne staatliche Förderung«, verlautbarte sie. »Wir legen Wert darauf, unabhängig zu sein und uns nicht an die teils menschenunwürdigen Vorgaben zu halten, die es in manch öffentlicher Einrichtung gibt.«

»Und Frau Meiners ist schon wie lange hier?«

»Ich habe mir nach unserem Telefon ihre Akte gezogen«, erklärte Constanze Kleingans. »Es werden demnächst fünf Jahre.«

»Und die Verträge? Wer hat die unterschrieben?«

»Da müsste ich noch mal nachsehen.«

»Das wäre nett«, meinte Schröder. »Was können Sie mir über den Sohn von Frau Meiners erzählen?«, erkundigte sich Klaus nun.

»Um ehrlich zu sein, ist mir nicht ganz wohl dabei, solche Informationen herauszugeben. Frau Meiners ist ja bei klarem Verstand. Sie sollten sie selbst fragen.«

»Das werde ich tun«, versicherte Klaus. »Mir ging es nur erst einmal darum, mir ein Bild davon zu machen, in welcher Verbindung Ihre Bewohnerin mit meinem früheren Mandanten stehen könnte.«

»Früheren Mandanten?«, hakte Constanze Kleingans nach.

»Ganz recht. Er ist verstorben. Doch ich vertrete die Familie und muss dementsprechend die Unterlagen sichten.«

»Hm«, überlegte die Angestellte. »Also ich glaube, dann liegt hier eine Verwechslung vor. Denn wenn ihr Sohn wirklich verstorben wäre, so hätte man Frau Meiners ja gewiss informiert. Sie hat mir jedoch gerade heute Morgen erzählt, dass er in Kürze zu Besuch käme. Ihr Sohn wohnt in Mailand, wissen Sie?«

»In Mailand?«

»Ja. Und eine Familie hat er nicht. Ich fürchte also, wir reden hier von zwei unterschiedlichen Menschen.«

»Vermutlich, ja«, stimmte Klaus zu, dem es nun doch immer unwahrscheinlicher vorkam, dass wirklich von Hanns die Rede war. »Kann ich jetzt mit Frau Meiners sprechen?«, fragte Klaus nun und trank seinen Kaffee leer.

»Natürlich. Und würden Sie mir danach Bescheid sagen, bevor Sie gehen? Denn wir haben hier ja das Problem, dass die Rechnungen nicht bezahlt werden und wir handeln müssen.«

Beide standen auf.

»Sicher. Ich werde noch mal vorstellig, sobald ich mit Frau Meiners gesprochen habe«, sicherte Klaus zu.

»Dann kommen Sie bitte. Ich bringe Sie zu ihr.« Sie machte eine Handbewegung in Richtung Korridor.

»Gern.« Klaus folgte ihr über den Flur zum Fahrstuhl, mit dem sie gemeinsam in den dritten Stock und damit nach ganz oben fuhren. Dort stiegen sie aus und wandten sich nach links.

»Frau Meiners bewohnt eines unserer besten Zimmer«, erklärte Constanze Kleingans und ging bis ans Ende des Flurs. Dort klopfte sie und trat nach einem kurzen Moment des Wartens ein.

»Frau Meiners, Sie haben Besuch.«

»Wirklich?« Klaus trat hinter Frau Kleingans ein. Die Frau, die in dem Sessel am Fenster gesessen hatte und nun aufgestanden war, wirkte sichtlich enttäuscht, als sie ihn sah.

»Guten Tag, Frau Meiners«, begrüßte er sie. »Mein Name ist Klaus Schröder, ich bin Rechtsanwalt.«

»Ein Anwalt?« Gertrud Meiners zog die Stirn in Falten.

»Dann lasse ich Sie beide mal in Ruhe miteinander sprechen, in Ordnung?« Constanze Kleingans lächelte und wandte sich in Richtung Tür.

»Ja, danke.« Gertrud Meiners deutete zum Tisch. »Setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ich brauche nur zu klingeln, dann kommt jemand.«

»Nein, vielen Dank. Ich hatte gerade noch unten einen Kaffee.«

Sie gingen zusammen hinüber, und die betagte Dame ließ sich von Klaus den Stuhl zurechtrücken. »Danke«, sagte sie.

Klaus lächelte, nahm ihr gegenüber Platz und musterte sie. Die Augen, in die er blickte, hatte er schon einmal gesehen, und zwar bei Hanns Borchardt und genau genommen auch bei Holger, dessen Sohn. Die Ähnlichkeit war unübersehbar. Es bestand also ein wie auch immer geartetes Verwandtschaftsverhältnis. Klaus versuchte sich zu erinnern, ob Hanns ihm gegenüber jemals eine Tante erwähnt hatte.

»Also, junger Mann, was kann ich für Sie tun?«

Klaus schmunzelte. Er war fünfundfünfzig. Als jungen Mann hatte man ihn schon lange nicht mehr bezeichnet.

»Ich bin hier, weil ich …« Er brach ab. Wenn diese Frau Hanns nahestand und aus irgendeinem Grunde womöglich noch nicht wusste, was diesem zugestoßen war, wäre es alles andere als angebracht, sie nun mit der Nase darauf zu stoßen.

»Sagen Sie, Frau Meiners, kennen Sie einen Mann namens Hanns Borchardt?«

Sie blickte ihn an. »Ja, natürlich.« Sie zögerte. »Weshalb? Was wollen Sie von ihm?« Es klang misstrauisch.

»Darf ich Sie fragen, in welchem Verhältnis Sie zu ihm stehen.«

»Fragen dürfen Sie. Aber erst mal beantworten Sie meine Frage. Was wollen Sie von meinem Hanns?«

Klaus atmete tief durch. Sie hatte von ihrem Hanns gesprochen, eine Redewendung, wie sie typisch für Mütter war.

»Ich bin sein Anwalt«, erklärte Klaus.

»Ist meinem Hanns etwas zugestoßen?« Ihre Augen waren geweitet. »Ist er krank?«

»Ist Hanns Borchardt Ihr Sohn, Frau Meiners?«, fragte Klaus nun und ging nicht auf ihre Fragen ein.

Gertrud Meiners nickte. »Bitte, sagen Sie mir, dass es ihm gut geht.«

Klaus senkte den Blick. Darüber, eine betagte Dame über den Tod ihres Sohnes zu informieren, hatte er sich keine Gedanken gemacht, bevor er hierhergekommen war.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Meiners. Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Hanns nicht mehr am Leben ist.«

Sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Nein«, entfuhr es ihr. »Bitte sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist.«

Er legte seine Hand auf ihre. »Mein aufrichtiges Beileid, Frau Meiners.«

»Aber das kann doch nicht sein«, murmelte sie, während ihr Tränen in die Augen stiegen. »Hanns ist doch so gesund und stark.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, entschied sie dann. »Das muss ein Irrtum sein.« Die Tränen tropften auf den Tisch, und die Verzweiflung, die in ihren Augen zu lesen war, ließ Klaus Herz krampfen. Er zog ein Taschentuch hervor und reichte es ihr, wartete eine Weile, während sie schluchzte und sich das Taschentuch vor den Mund presste. Ihn überkam die Befürchtung, dass es sich womöglich doch um eine Verwechslung handeln könnte und er der alten Dame den Schock ihres Lebens versetzte.

»Haben Sie ein Bild Ihres Sohnes da?«, fragte er und ließ seinen Blick suchend durch den Raum schweifen.

Gertrud Meiners nickte, atmete tief durch, stand auf und ging zur Kommode. Sie zog ein gerahmtes Foto von ganz unten hervor und kam damit an den Tisch zurück.

»Hanns möchte nicht, dass jeder es sehen kann. Darum habe ich es nicht aufgehängt«, sagte sie und reichte das Foto Klaus. Fast spürte dieser so etwas wie Erleichterung, hatte er doch nichts Falsches gesagt. Zwar war der Mann auf dem Foto vermutlich zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht älter als fünfundzwanzig. Aber es war dennoch eindeutig Hanns Borchardt.

»Es ist nicht allzu neu«, fügte Frau Meiners erklärend hinzu und setzte sich wieder.

»Ich bedauere aufrichtig, Ihnen solchen Kummer bereiten zu müssen«, entschuldigte sich Klaus und sah sie an. »Aber es ist, wie ich es Ihnen sagte: Ihr Sohn ist nicht mehr am Leben, Frau Meiners.«

»Hatte er einen Unfall?«, schluchzte sie.

»Ja, einen Unfall«, log Klaus, denn die Wahrheit hätte Hanns Mutter noch tiefer in die Verzweiflung gestürzt.

Wieder kamen ihr die Tränen, und Klaus blickte sich um, ob er irgendwo etwas zu trinken entdeckte. Dann stand er auf und nahm von dem kleinen Tisch, der neben dem Sessel stand, in dem Frau Meiners vorhin gesessen hatte, das dort stehende Glas Wasser und kam damit wieder zurück.

»Bitte«, sagte er. »Trinken Sie etwas.«

»Ein Schnaps wäre jetzt das Richtige. Aber so was gibt es hier nicht.« Sie trank in mehreren Schlucken. Dann sagte sie: »Ich glaube, ich habe es gewusst.« Sie seufzte tief. »Zumindest geahnt habe ich es, weil er so gar nichts mehr von sich hören ließ.« Sie sah Klaus an. »Seit wann ist er tot?«

»Seit Heiligabend«, gab Klaus Auskunft. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass man Sie nicht benachrichtigt hat. Doch, und ich weiß nicht, wie ich es Ihnen schonender beibringen soll«, gab Klaus mit tiefem Bedauern zu, »wir wussten schlicht nicht, dass es Sie gibt.«

»Das wundert mich nicht«, erwiderte Gertrud Meiners und schüttelte den Kopf. »Mein Hanns war niemand, der sein Herz auf der Zunge trug. Waren Sie befreundet oder nur sein Anwalt?«, fragte sie nun.

»Ich denke, wir waren so etwas wie Freunde«, antwortete Klaus ein wenig zögerlich, wenngleich ihm nach allem, was er inzwischen über Hanns wusste, nicht ganz wohl dabei war, diesen als Freund zu bezeichnen. Dafür waren ihre Werte bei Weitem zu unterschiedlich.

»Und doch hat er mich auch Ihnen gegenüber nie erwähnt«, erkannte sie traurig.

»Nein, ich bedauere.« Klaus holte tief Luft. »Und …«, er zögerte, es auszusprechen, »und ich fürchte, auch seine Familie wusste nichts von Ihrer Existenz.«

»Seine Familie?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Hanns hatte keine Familie. Also keine Familie mehr, außer mir, meine ich. Wir beiden hatten nur noch uns.«

Klaus wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Diese freundliche alte Dame erst mit dem Tod ihres Sohnes zu konfrontieren und ihr nun auch zumindest einen kleinen Einblick in sein Lügengebilde geben zu müssen, war ihm gerade wirklich zu viel.

»Es tut mir sehr leid, Frau Meiners. Und ich fürchte, Sie werden gleich ziemlich zornig auf mich werden. Doch Hanns hat Sie belogen. Ich kann es nicht anders ausdrücken.«

»Ich muss doch sehr bitten«, begehrte Gertrud Meiners nun auf. »Aus welchem Grund sollte mein Hanns mich denn belügen? Und Sie wollen mit ihm befreundet gewesen sein?«

»Ich verstehe Sie sehr gut«, räumte Klaus ein. »Doch ich kann es nur sagen, wie es ist.« Klaus fühlte sich hilflos.

Gertrud Meiners musterte ihn einen Moment lang, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, warum Sie schlecht über Hanns reden. Doch ich habe nicht vor, mir das länger anzuhören.«

»Ich verstehe«, sagte Klaus und stand sogleich auf. »Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich sehr bedaure, Ihnen die traurige Nachricht überbracht zu haben.« Klaus senkte den Blick. »Auf Wiedersehen, Frau Meiners.«

Sie nickte nur, worauf Klaus seinen Mantel nahm und zur Tür ging.

»Warten Sie«, forderte sie plötzlich, als er schon fast draußen war.

»Ja?« Klaus verharrte in der Bewegung.

»Wo hat Hanns die Jahre über gelebt?«

»Wo er gelebt hat?«, echote Klaus. »In der Koenigsallee in Grunewald.«

Gertrud Meiners schüttelte den Kopf. »Aber das stimmt doch nicht. Mein Hanns hat in Mailand gelebt.« Sie sah ihn mit Verzweiflung im Blick an. »Es ist also doch alles eine Verwechslung«, meinte sie, doch Klaus konnte hören, dass sie selbst nicht so recht daran glauben konnte.

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, gestand er ein und fühlte sich vollkommen hilflos. Er hätte der alten Dame nur zu gern gesagt, dass er sich womöglich irrte und sie von zwei unterschiedlichen Männern sprachen. Doch der Mann dort auf dem Foto war Hanns. Jünger zwar, aber ohne jeden Zweifel Hanns.

Klaus ging noch einmal zu ihr hinüber. »Sagen Sie, Frau Meiners, weshalb hat Ihr Sohn einen anderen Nachnamen als Sie?«

Gertrud Meiners wischte sich erneut die Tränen aus dem Gesicht. »Hat er nicht«, sagte sie dann. »Ich heiße eigentlich Borchardt. Doch Hanns wollte nicht, dass ich unter meinem richtigen Namen hier gemeldet bin.« Sie schüttelte den Kopf und dachte einen Moment nach. »Er hat mir damals auch den Grund genannt, doch ich habe es vergessen«, bekannte sie leise.

»Ich verstehe«, antwortete Klaus nur, nicht wissend, was er sonst noch hätte erwidern können.

Gertrud Meiners putzte sich kräftig die Nase und sah ihn dann an. »Sie sagten vorhin, Hanns hätte eine Familie gehabt?«

Klaus nickte und nahm dann nach einigem Zögern wieder Platz. »Ja, das stimmt. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Holger und Hanna sind inzwischen erwachsen.«

»Warum?« Sie sah ihn traurig an. »Warum denken Sie, hat er mich belogen?«

Klaus lag die Antwort auf der Zunge, dass Hanns absolut jeden um sich herum belogen hatte, doch er schluckte die Bemerkung hinunter. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht beantworten«, brachte er mühsam hervor.

»Ich glaube, ich habe es irgendwie geahnt«, sagte sie leise mehr zu sich selbst und sah Klaus dann an. »Hanns hatte sich ja schon eine lange Zeit von uns abgewandt, wissen Sie? Also von seinem Vater und mir. Und als mein Mann Heinrich dann vor fünf Jahren starb, kam Hanns eines Tages, hat mich abgeholt und hierhergebracht. Ich hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit, noch etwas mitzunehmen, und war darüber eine ganze Weile sehr traurig. Das Einzige, was ich überhaupt noch habe, ist das Bild hier von Hanns. Von meinem Mann habe ich nicht einmal mehr ein Foto.«

Klaus versuchte das Gehörte nachzuvollziehen. »Aber warum? Ich meine, Sie hätten doch bestimmt auch Persönliches hier mit herbringen dürfen, oder nicht?«

Gertrud Meiners zuckte die Achseln. »Nun ja, vom Heim aus schon. Deshalb habe ich Hanns auch gebeten, mir die Sachen vom Hof herzubringen.«

»Vom Hof?«, fragte Klaus nach. Er war sicher, dass Hanns ihm mal erzählt hatte, dass sein Vater ein Handelsgeschäft besessen hätte, wenngleich er nicht mehr wusste, was für ein Handel es gewesen sein sollte.

»Ja, mein Heinrich und ich hatten einen Bauernhof. Doch Hanns hat das Leben auf dem Hof nie gemocht. Mir war immer klar, dass er gehen würde, sobald er erwachsen war.« Sie knetete das Taschentuch in ihren Händen. »Als er zwanzig war, wurde er dann zum Kriegsdienst eingezogen«, fuhr sie fort. »Ich war krank vor Sorge damals. Doch mein Heinrich hat immer gesagt, dass dem Jungen nichts geschehen wird.« Sie sah Klaus an. »Unser Hanns hatte etwas an sich, so etwas«, sie suchte nach den richtigen Worten, »wie soll ich sagen, so unverwüstlich. Er hat einfach gemacht und nicht lange nachgedacht. Und damit ist er auch immer gut gefahren. Er war nie der Überflieger, auch in der Schule nicht. Doch am Ende hat er immer alles erreicht, was er wollte.«

»Ja«, pflichtete Klaus bei. »So habe ich ihn auch kennengelernt.«

Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht der betagten Dame. »So, wie Sie vorhin fragten, wussten Sie nicht, dass ich seine Mutter bin. Hat er denn nie von mir erzählt?«

»Bedauere«, antwortete Klaus. »Aber letztendlich musste er das ja auch nicht. Wir waren in erster Linie geschäftlich verbunden und nur oberflächlich befreundet. Ich habe ihm auch nicht von meinen Eltern erzählt«, fügte er eilig hinzu, weil ihm die alte Dame so leidtat.

Sie nickte. »Ja, so ist es wohl.« Sie blickte auf. »Wie sind Sie eigentlich auf mich gestoßen?«, fragte sie nun.

»Mir ist bei der Sichtung seiner Unterlagen aufgefallen, dass regelmäßige Zahlungen an diese Einrichtung getätigt wurden. Da wollte ich nachforschen, wofür.«

Wieder schien sie kurz zu überlegen. »Sagen Sie, wenn Hanns wirklich tot ist …«, begann sie, »wer bezahlt dann meine Unterkunft hier?«

Klaus seufzte. »Ich möchte Sie nicht anlügen, Frau Meiners. Soweit ich es von der Verwaltung hier erfahren habe, sind wohl die letzten Monate die Rechnungen nicht mehr beglichen worden.«

Wieder schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund. »Aber …«, begann sie, brach dann aber ab und starrte ihn an.

»Es wird sich eine Lösung finden lassen«, antwortete Klaus.

»Man könnte das Geld vom Hofverkauf nehmen«, schlug sie vor. »Neben dem Haus und dem Stall hatten wir mehr als vier Hektar Land. Hanns wird also einiges dafür bekommen haben.«

»Bestimmt«, meinte Klaus. »Ich werde gern nachforschen, wenn Sie möchten«, sicherte er zu, wohl wissend, dass das Geld, was Hanns für den Hof seiner Eltern bekommen hatte, vermutlich für irgendwelche Champagnerempfänge oder irgendwelchen Protz verprasst worden war.

»Das wäre wirklich sehr nett.« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte verzeihen Sie, wie war noch mal Ihr Name? In der Aufregung habe ich ihn jetzt ganz vergessen.«

»Klaus Schröder.«

»Ja, natürlich, Herr Schröder. Das sagten Sie ja auch«, erinnerte sie sich nun, legte dann die Hände vors Gesicht und rieb ihre Augen. »Sie müssen entschuldigen. Mir ist das gerade alles zu viel.«

»Das ist nur allzu verständlich. Machen Sie sich hierüber keine Gedanken.«

»Sie sind ein angenehmer Mensch. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie vorhin so angegangen bin.«

»Ich bitte Sie. Das ist nicht der Rede wert.«

Sie sah ihn aus müden Augen an. »Hanns Witwe und die Kinder«, sagte sie nun, »wissen sie von mir?«

»Nein.« Klaus schüttelte den Kopf.

»Könnten Sie … ich meine, könnten Sie ihnen vielleicht sagen, dass ich hier bin?«

»Natürlich. Ich werde mich darum kümmern.«

»Danke.«

Klaus wartete noch einen Moment. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen, Frau Meiners. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich in den nächsten Tagen wieder.«

»Ja, gern.« Sie nickte.

»Gut.« Er deutete zum Bett. »Kann ich Sie vielleicht hinüberbegleiten? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich hinlegen wollen.«

Gertrud schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ich möchte noch ein wenig hier sitzen bleiben.«

»Natürlich«, stimmte Klaus zu, erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen, die sie griff. »Auf Wiedersehen, Frau Meiners. Ich werde bald wiederkommen.«

»Danke schön, Herr Schröder.«

Klaus ging zur Tür, öffnete sie und trat hinaus. Ganz leise zog er sie hinter sich ins Schloss und blieb kurz dahinter stehen, während er ausatmete. Gertrud Meiners oder besser Gertrud Borchardt, tat ihm von Herzen leid. Wie furchtbar musste es für sie sein, erst vom Tod ihres Sohnes erfahren zu haben und dann, dass dieser sie offenkundig über viele Jahre belogen hatte. Noch konnte er sich nicht vorstellen, wie dies überhaupt möglich gewesen war. Immerhin hatten Hanns und Maria vor zwei Jahren bereits ihre Silberhochzeit gefeiert. Klaus war eingeladen gewesen, und sie hatten mit so vielen anderen zusammen gefeiert. Wie unvorstellbar war es, dass er all die Jahre seinen Eltern vorgelogen hatte, nie geheiratet und auch keine Kinder zu haben? Und vor allem: Warum? Klaus konnte sich nicht einmal im Ansatz einen Reim darauf machen. Gertrud Borchardt schien eine überaus nette Frau zu sein. Und so, wie sie sprach, konnte Klaus sich nur schwerlich vorstellen, dass sie und ihr Mann schlechte Eltern gewesen waren. Und selbst wenn: War das wirklich ein Grund, eine solche Lüge zu erfinden?

Klaus seufzte tief, dann ging er zum Fahrstuhl und fuhr nach unten ins Erdgeschoss. Dort angekommen trat er wieder an den Tresen, worauf nach kurzer Zeit Frau Kleingans aus dem hinteren Raum nach vorn kam.

»Vielen Dank, Frau Kleingans, dass ich mit Frau Meiners sprechen konnte.«

»Und zeichnet sich eine Lösung ab?«, fragte sie.

»Ich werde mich darum kümmern. Bitte geben Sie mir bis Ende des Monats Zeit, die Angelegenheit zu klären«, bat er.

»Natürlich«, stimmte sie zu. »Aber bitte wirklich nur noch diesen Monat, ja?«

»Versprochen.«

»Danke.« Sie nickte ihm zu.

»Ich komme in den nächsten Tagen wieder. Vielleicht weiß ich dann schon mehr«, kündigte er an. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

Klaus verließ die Seniorenresidenz, stieg in seinen Wagen und fuhr wieder los. Eigentlich wollte er zurück in seine Kanzlei, entschied sich aber dann, bei Maria vorbeizuschauen und mit ihr persönlich zu sprechen. Also parkte er seinen Wagen vor dem Mehrfamilienhaus in der Holsteinische Straße und klingelte. Er wartete einen Moment, klingelte dann erneut, doch niemand öffnete. Unverrichteter Dinge stieg er wieder in sein Auto und fuhr zurück in seine Kanzlei.

In den nächsten zwei Stunden versuchte er in unregelmäßigen Abständen vergeblich, Maria telefonisch zu erreichen. Als sie dann endlich ans Telefon ging, war es bereits nach achtzehn Uhr.

»Na endlich«, entfuhr es ihm, und er hatte Mühe, nicht allzu ungehalten zu klingen.

»Klaus? Ich komme gerade erst zur Tür herein. Hast du es schon mal versucht?«

»Ja, schon seit Stunden.«

»Oh«, erwiderte Maria. »Das tut mir leid. Ist denn etwas passiert?«

»Ja, schon. Aber ich würde lieber gern persönlich mit dir darüber sprechen.«

»Um Himmels willen, Klaus. Mach mir doch nicht solche Angst. Was ist geschehen? Werde ich verhaftet oder so etwas?«

»Nein, ich bitte dich. Nichts in der Art.«

»Sondern?«

»Ich habe dich doch vorhin am Telefon gefragt, ob dir diese Senioreneinrichtung etwas sagt«, erklärte er.

»Ja. Und?«

»Ich war da.« Er machte eine kurze Pause. »Maria, Hanns hat dir noch in einem weiteren Punkt nicht die Wahrheit gesagt«, kündigte er an.

»Ach«, meinte Maria, und Klaus schien es, als schwänge eine gewisse Resignation mit. »Was kommt denn jetzt noch? Hat er Fahrten zum Mond verkauft und dafür Geld verlangt?«

Klaus hätte über die Bemerkung geschmunzelt, wenn es nicht so ernst wäre.

»Nein«, antwortete er dann.

»Also? Was ist es?«, fragte Maria.

»Was weißt du über Hanns Eltern?«

»Hanns Eltern?«, wiederholte sie. »Die beiden sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als Hanns noch jung war. Wie alt genau, weiß ich nicht. Wieso?«

»Nun, weil ich gerade vorhin mit Hanns Mutter gesprochen habe. Sie lebt in dem Seniorenheim, dessen Namen ich in den Akten gefunden habe, und ist quicklebendig.«

Klaus horchte, doch Maria blieb stumm.

»Maria, bist du noch da?«

Es klang, als presste sie Luft durch die Lippen.

»Bitte, Klaus, sag mir, dass du nur einen Scherz machst. Einen ganz schlechten Scherz.«

»Ich wünschte, es wäre so«, seufzte er.

Wieder trat ein Moment der Stille ein.

»Möchtest du, dass ich bei dir vorbeischaue, damit wir darüber reden können?«, bot Klaus an und wartete erneut, bis Maria sich räusperte und dann sagte:

»Ja bitte. Komm her.«

»In Ordnung. Ich bringe uns Abendessen mit. Ist Hanna auch da?«

»Nein, sie ist nicht da«, erwiderte Maria tonlos. »Und sie kommt auch erst spät zurück.«

»Okay. Ich bin in spätestens einer Stunde da.«

»Danke«, sagte Maria. »Dann bis gleich.«

»Ja, bis gleich«, antwortete Klaus und hängte ein. Wie viel würde wohl noch ans Licht kommen, bis endlich Ruhe in die Sache kam.