Es wird immer absurder. Dabei dachte ich wirklich, dass das gar nicht mehr möglich sei.
MARIA BORCHARDT
»Guten Abend, Klaus«, grüßte sie, als sie dem Anwalt öffnete.
»Maria«, entfuhr es ihm ebenso überrascht wie beeindruckt. »Du siehst fantastisch aus.«
»Danke schön.« Sie schloss die Tür wieder. »Deshalb hattest du also vorhin keine Zeit. Du warst bei einem Friseur.«
»Nun, tatsächlich war ich schon vorgestern beim Friseur«, klärte sie ihn auf. »Vorhin war ich beim Juwelier und habe zwei weitere Schmuckstücke verkauft.«
»Zwei weitere Schmuckstücke?«
»Ganz recht. Um den Friseur bezahlen zu können, war ich am Montag schon mal bei dem Juwelier und habe meinen Ehering verkauft. Ich muss sagen, dass das die beste Investition war, die ich mir vorstellen kann.«
»Du hast deinen Ehering verkauft?«
»Würdest du bitte nicht immer alles wiederholen, was ich sage? Ja, ich habe meinen Ehering verkauft.« Sie strich ihre Haare zurück. »Und weißt du was? Ich fühle mich seither wie befreit, und mir geht es tausendmal besser als die ganzen letzten Monate.«
»So siehst du auch aus«, stellte Klaus anerkennend, aber verblüfft fest.
Sie standen noch immer im Flur, und Maria deutete auf die Tüten, die Klaus bei sich trug. »Darf ich?«
»Ja, natürlich.« Klaus wirkte völlig perplex.
»Danke schön.« Sie nahm ihm das Essen ab und trug es in die Küche. »Ich habe hier für uns eingedeckt«, erklärte sie. »Zieh doch eben deinen Mantel aus und komm.«
»Ich habe auch Wein mitgebracht!«, rief Klaus ihr vom Flur aus nach, während sie die Plastiktüten auf die Arbeitsfläche in der Küche stellte.
»Hab ich schon gesehen.« Sie nahm den Wein als Erstes heraus, dann holte sie Schalen hervor und füllte das Essen um.
»Das riecht köstlich«, freute sie sich.
»Ich wusste nicht genau, was du magst«, erklärte Klaus, der nun ebenfalls die Küche betreten hatte. »Deshalb habe ich einfach eine kleine Auswahl von verschiedenen Gerichten zusammenstellen lassen.«
Maria betrachtete mit leuchtenden Augen die Köstlichkeiten vor ihr. »Schnitzel, Braten, Kartoffeln, Gemüse und auch noch Salat«, zählte sie auf. »Das reicht in diesen Mengen ja für eine ganze Woche.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie groß mein Hunger ist«, erwiderte Klaus schmunzelnd und zog die Besteckschublade auf. Er holte einen Korkenzieher hervor und öffnete die Flasche Rosé.
»Vielleicht nicht so gut wie der, den ihr immer im Keller hattet, aber auch kein schlechter Wein.«
»Ich bin sicher, er wird uns munden. Sie holte zwei Weingläser aus dem Schrank und reichte sie Klaus, der sogleich einschenkte. Sie stießen miteinander an, tranken den ersten Schluck im Stehen und setzten sich dann, um gemeinsam zu essen. Erst als beide sich bedient und die ersten Happen zu sich genommen hatten, bat Maria: »Also, raus mit der Sprache! Was ist das für eine Sache mit Hanns’ Eltern?«
Während Maria aß und immer mal wieder am Wein nippte, hörte sie Klaus aufmerksam zu, der ihr von seinem Besuch in der Seniorenresidenz und von dem Gespräch, das er mit Gertrud Meiners, die eigentlich Gertrud Borchardt hieß, geführt hatte. Nachdem er geendigt hatte, stand Klaus auf und schenkte ihnen beiden nach.
»Und du glaubst wirklich, dass sie seine Mutter ist?«
»Ja, ich habe überhaupt keinen Zweifel daran. Sie hatte ein gerahmtes Foto von Hanns ganz unten in ihrer Kommode.«
»Aber warum? Warum hat Hanns selbst in diesem Punkt gelogen?«, fragte Maria mit einer gewissen Fassungslosigkeit. »Ich meine, dann hat er mich ja wirklich von Anfang an belogen, von unserem allerersten Treffen an.« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat nicht einen einzigen aufrichtigen Moment gegeben, Klaus, und das während der fast dreißig Jahre, die wir uns kannten.«
»Es tut mir leid, Maria.«
Sie aß weiter, und zwar mit einem gehörigen Appetit.
»Doch er hat nicht nur dich und die Kinder belogen, sondern seine Eltern umgekehrt ebenfalls. Seine Mutter dachte, dass er unverheiratet wäre, keine Kinder hätte und in Mailand lebte.«
»In Mailand?«
»Ja, das hat sie gesagt.«
»Wieso denn in Mailand?«, fragte Maria.
Klaus zuckte die Achseln. »Glaub mir, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er darauf gekommen ist. Nicht nur du hast Hanns nicht gekannt. Ich genauso wenig, und wahrscheinlich wusste er selbst am Ende auch nicht mehr, wer er war.«
»Was soll ich jetzt tun, Klaus?« Sie ließ ihr Besteck sinken und sah ihn fragend an.
»Ich weiß es nicht«, gab er ehrlich Antwort. »Wirklich nicht.«
»Hm«, überlegte Maria. »Ich meine, ich kann doch nicht in diese Seniorenresidenz fahren und sagen: ›Hallo! Ich bin deine Schwiegertochter und war siebenundzwanzig Jahre mit deinem Sohn verheiratet, der mir erzählt hat, dass seine Eltern tot sind.‹«
»Wahrscheinlich wird es das Beste sein, wenn du genau das machst«, erwiderte Klaus. »Ich meine, wie soll man sich in einer solchen Situation verhalten? Das findest du in keinem Knigge, das ist mal sicher.« Nun ließ er sein Besteck sinken. »Und es gibt da noch etwas«, kündigte er an.
»Was kommt nun? Hatte er auch noch irgendwo Kinder versteckt?«
»Nein, nichts in der Art. Obwohl mich auch das nicht mehr wundern würde.« Klaus musste schmunzeln, und auch Maria lachte kurz auf. Die ganze Sache war inzwischen einfach zu absurd.
»Also?«, bohrte sie weiter.
»Die Kosten für das Heim wurden seit Beginn dieses Jahres nicht mehr bezahlt«, erklärte er. »Verständlicherweise«, fügte er dann noch hinzu.
Maria wurde augenblicklich wieder ernst. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.
»Ach du je«, entfuhr es ihr. »So eine Unterbringung in einer Seniorenresidenz kostet vermutlich ziemlich viel, oder?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich die genaue Summe gerade nicht«, antwortete Klaus. »Doch billig ist es bestimmt nicht.«
»Und nun soll ich das Geld auftreiben?«, stöhnte Maria. »Ich hatte ja bis vorhin noch nicht einmal das Geld, unsere Miete hier an dich zu bezahlen.«
Klaus sah sie verständnislos an, worauf sie aufstand, ihr Portemonnaie holte und ein Bündel Scheine hervorzog.
»Hier ist schon mal die Miete für Januar und Februar. Und ich werde mich in den nächsten Tagen um März und April kümmern und ab Mai immer pünktlich zu Beginn des Monats bezahlen.«
»Woher hast du denn das Geld?«, wunderte sich Klaus, ohne es zu nehmen.
»Ich habe es dir doch erzählt. Ich habe Schmuck verkauft, und bisher nicht einmal viel. Und genau das werde ich so lange weitermachen, bis ich entweder eine Anstellung gefunden habe, von der Hanna und ich leben können, oder aber bis ich allen Schmuck veräußert habe. Aber dann habe ich noch die Pelze.«
»Du willst alles verkaufen?«, fragte Klaus.
»Selbstverständlich. Ich muss endlich wieder ins Leben zurückfinden. Vor allem aber ist mir dank Lea klar geworden, dass ich endlich die Verantwortung für mich übernehmen muss. Für mich und Hanna, auch wenn sie inzwischen volljährig ist.«
»Ich muss schon sagen, du überraschst mich.« Er kniff die Augen zusammen. »Und Lea? Welche Lea?«
»Lea Stern, die Besitzerin des Golden Paradise . Hanns’ frühere Geliebte.«
Klaus hatte gerade das Glas angesetzt und einen Schluck getrunken. Nun verschluckte er sich so heftig, dass er husten musste. Maria stand auf, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser.
»Hier, trink einen Schluck. Dann wird es besser.«
Klaus hustete noch immer, schnappte nach Luft. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm er das Wasserglas und trank mehrere kleine Schlucke.
»Danke«, röchelte er.
Maria, die sich wieder hingesetzt hatte, nippte an ihrem Wein. Sie hatte mehr als gut gegessen und war wirklich pappsatt. Denn anders als in letzter Zeit hatte sie Hunger gehabt, richtigen Hunger. Und im Grunde war sie selbst überrascht, aber die Nachricht, dass Hanns sie auch hinsichtlich seiner Eltern belogen hatte, machte ihr nicht mehr wirklich etwas aus. Vielleicht war sie durch alles, was sie seit Heiligabend des letzten Jahres hatte erfahren müssen, inzwischen derart abgestumpft, dass sie es einfach nur so hinnahm. Sie hatte keine Tränen mehr für diesen Mann übrig, weder aus Trauer noch aus Enttäuschung oder Entsetzen. Nur die Tatsache, dass nun auch noch Heimkosten aufliefen, für die vermutlich sie aufzukommen hatte, bereitete ihr ein wenig Sorge. Andererseits war sie so tief gefallen, hatte alles, aber auch wirklich alles verloren und nun dennoch das Gefühl, dass sie ihr Leben Stück für Stück wieder aufbauen konnte. Die Welt drehte sich noch immer, ob sie nun in Saus und Braus oder totaler Armut lebte. Und ob sie nun glücklich und euphorisch oder deprimiert und verzweifelt war – die Sonne würde auch morgen wieder auf- und am Abend wieder untergehen. Punkt. Das Leben war eben nicht vorbei, wenn man bankrott war. Doch es hatte bis zu ihrem Treffen mit Lea gedauert, dass sie genau das erkannt und für sich hatte annehmen können.
»Hast du eben gesagt, dass du Kontakt zu Lea Stern hast?«, holte Klaus sie nun aus ihren Gedanken.
»Ja, allerdings. Und ich sage dir, sie ist eine fantastische Frau.« Maria lachte auf. »Ehrlich gesagt, kann ich Hanns sogar richtiggehend verstehen. Lea ist mit niemandem zu vergleichen, den ich kenne. Ich bin wirklich froh, sie nun in meinem Leben zu haben.«
»Entschuldige bitte, aber ich kann dir nicht ganz folgen«, brachte Klaus seine Verwirrung zum Ausdruck. »Wärst du so nett, mich aufs Laufende zu bringen?«
»Sicher«, gestand Maria zu. »Ich bin letzte Woche am Sonnabend zu ihrem Club gegangen, weil ich sie kennenlernen wollte. Außerdem wollte ich ihr danken, weil sie Hanna geholfen hat.«
»Hanna geholfen – inwiefern?«
»Ach, das weißt du ja auch noch gar nicht. Hanna arbeitet nicht mehr im Übersetzungsbüro. Ihr Chef hat sie angegriffen und wollte sie vergewaltigen.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Zum Glück konnte sie sich noch rechtzeitig befreien.« Maria überkam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, was gewesen wäre, wenn Hanna diesem Ziegler nicht so entschlossen zwischen die Beine getreten hätte.
»Sie ist dann rüber zu Leas Club. Die beiden kennen sich schon eine Weile und sind befreundet, weißt du?«
»Hanna und Lea Stern?«, vergewisserte Klaus sich, sie wirklich verstanden zu haben.
»Ja, genau«, stimmte Maria zu. »Und Lea hat dann auch sofort reagiert und Hanna beigestanden«, resümierte sie. »Na, jedenfalls war ich dann am Sonnabend bei ihr, und wir haben uns unterhalten. Und sie … wie soll ich sagen?« Maria überlegte kurz. »Sie hat mich ins Leben zurück und auf den Boden der Tatsachen geholt und mir klargemacht, dass es nur an mir liegt, was ich künftig aus meinem Leben machen will.«
»Lea Stern?«, fragte Klaus ungläubig.
»Ja, Lea Stern«, bestätigte Maria.
»Ich muss zugeben, dass mich das ziemlich erstaunt«, meinte Klaus nun. »Du sagst das so, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt.«
»Ja, nicht wahr?«, meinte Maria. » Es kommt mir ja auch ziemlich eigenartig vor. Aber ich finde es auch gut, habe ich doch das Gefühl, dass sie mir die Augen geöffnet hat.« Maria berührte ihre Haare. »Lea hat mir geraten, nein, genau genommen, von mir gefordert, dass ich zum Friseur gehe, um das Desaster, das auf meinem Kopf herrschte, in den Griff zu bekommen. Und sie riet mir, meinen Schmuck zu verkaufen«, fuhr Maria fort. »Ich bräuchte übrigens den Schlüssel für das Lager, in dem meine Sachen sind, damit ich die Pelzmäntel holen kann.«
»Findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst?«, wandte Klaus nun ein. »Ich bin zwar wirklich froh darüber, dass du ins Leben zurückgekehrt zu sein scheinst. Aber du wirkst dermaßen …«
»Entschlossen?«, schlug Maria vor.
»Ja, entschlossen auch. Aber recht wild entschlossen.«
»Na und? Was ist dagegen einzuwenden?«, hielt Maria gegen.
»Im Grunde ist gar nichts dagegen einzuwenden. Aber wenn du alles verkaufst, was du hast, nur um mir die Miete zu bezahlen, ist das doch Unsinn. Du weißt, dass ich nicht auf das Geld angewiesen bin. Du und Hanna könnt hier so lange wohnen, wie ihr wollt, und zwar unentgeltlich.«
»Das habe ich verstanden«, erwiderte Maria. »Und ich danke dir auch sehr dafür. Aber«, sie deutete auf die Geldscheine, die sie Klaus auf den Tisch gelegt hatte, »so fühlt es sich viel besser an. Ich will nicht mehr von irgendjemandem abhängig sein, Klaus. Auch nicht von dir, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass du es mir niemals vorhalten oder womöglich irgendwelche Gegenleistungen erwarten würdest.«
Klaus sah sie überrascht an. »Selbstverständlich nicht«, versicherte er.
»Ich weiß«, sagte Maria. »Doch ich habe viel zu lange nichts unternommen, Klaus. Ich habe mich kleingemacht und immer kleiner. Ich war ja schon lange Jahre fast unsichtbar, so sehr habe ich mich hinter Hanns versteckt. Und dann, als alles zusammengebrochen war, habe ich dich machen lassen und war froh über deine Hilfe. So froh.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Doch im Grunde bin ich von einer Abhängigkeit in die nächste gestolpert.« Maria sah ihn prüfend an, hoffend, dass er sie nicht falsch verstanden hatte. »Halte mich bitte nicht für undankbar, Klaus, denn genau das Gegenteil ist der Fall. Ich werde dir den Rest meines Lebens dankbar sein dafür, wie sehr du dich für mich eingesetzt und geholfen hast, als ich ganz am Boden war. Doch nun ist es an der Zeit, mich wieder aufzurichten und meinen Weg zu gehen, ganz gleich, wie schwierig dies auch sein mag.« Sie sah ihn an, hoffend, dass er es ihr nicht übel nahm.
»Du beeindruckst mich, Maria«, stellte er fest und wirkte tatsächlich verblüfft. »Wirklich«, bekräftigte er. »Es ist noch nicht einmal eine Woche her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Doch du wirkst völlig verändert auf mich. Die Maria der letzten Woche und die heute sind ganz und gar unterschiedliche Frauen.«
Sie lächelte ihn an. »Ja, da hast du recht. Das ist auch mein Gefühl.« Sie stand auf und holte die Flasche Wein, deren restlichen Inhalt sie auf die Gläser verteilte. Dann nahm sie wieder Platz und erhob das Glas: »Auf dass ich nie wieder die sein werde, die ich war«, verkündete sie.
Klaus hob sein Glas und ließ es gegen ihres klingen. »Zwar habe ich die frühere Maria auch gemocht«, entgegnete er. »Doch ich glaube, die, die jetzt vor mir sitzt, ist mir noch lieber.«
»Darauf trinke ich.« Maria nahm einen großen Schluck und genoss es zu spüren, dass der Wein seine Wirkung tat. Eigentlich hätte sie jetzt aufhören sollen, mochte sie es doch nicht, einen Schwips zu bekommen. Doch hier und jetzt störte es sie nicht. Ganz im Gegenteil: Dieser berauschte Zustand war ihr sogar willkommen.
Klaus und sie plauderten noch bis fast dreiundzwanzig Uhr. Während dieser Zeit erzählte sie ihm in aller Ruhe davon, dass Hanna aufgrund des Vorfalls im Übersetzungsbüro ihre Ausbildung abgebrochen hatte, und auch von dem Gespräch mit Lea. Es tat gut, einfach miteinander sprechen zu können und sich nicht mehr so schlecht zu fühlen wie noch wenige Tage zuvor. Maria konnte es sich selbst nicht erklären, doch irgendetwas war seit ihrer Unterhaltung mit Lea geschehen. Es war, als wäre der Nebel aufgerissen, der sie zuvor Dinge nicht hatte sehen lassen, die ihr jetzt vollkommen deutlich erschienen.
»Es war ein wirklich wunderschöner Abend, Klaus«, sagte Maria, als sie ihn zur Tür begleitete.
»Das fand ich auch«, gab er lächelnd zurück und umarmte sie zum Abschied.
Einen Moment verharrten sie so, und als sie sich lösten, trafen sich ihre Blicke. Kurz hatte Maria das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde schwanken, und sie hielt sich lachend an Klaus fest.
»Ups!«, entfuhr es ihr, und sie lachte auf.
»Ich habe den Abend wirklich sehr genossen«, betonte er nun und sah ihr tief in die Augen. Maria hob den Kopf, ihre Gesichter waren einander ganz nah. Klaus kam noch etwas näher, aber plötzlich schien ein Ruck durch ihn zu gehen.
»Dann gute Nacht, Maria. Ich hole dich dann wie vereinbart morgen um zehn Uhr ab.«
»Ja, Klaus. Danke. Gute Nacht.« Sie schloss die Tür hinter ihm und machte die Kette vor. Diese löste sie jedoch sofort wieder, weil ihr einfiel, dass Hanna ja noch gar nicht zu Hause war. Was war sie nur so durcheinander? So viel Wein war es doch nun auch wieder nicht gewesen.
Maria ging erst ins Bade- und dann direkt ins Schlafzimmer, um sich müde in ihr Bett fallen zu lassen. Sie war zufrieden. Nein, genau genommen war es wirklich so etwas wie Glück, das sie empfand. Klaus hatte schon recht. Ihr Leben hatte sich in nicht einmal einer Woche so sehr verändert, dass es gar nicht wiederzuerkennen war. Sie war nicht mehr die hilflose, zittrige und dünnhäutige Frau, die sie über Monate gewesen war. Das Gespräch mit Lea hatte sie wachgerüttelt. Ihr war klar geworden, dass sie dafür kämpfen musste, wenn sie ein irgendwie geartetes Leben weiterführen wollte. Sie war im letzten Jahr fünfzig geworden und hatte sich alt gefühlt. Nun jedoch, war sie ihrem Gefühl nach fünfzig und jung. Vor allem viel zu jung, um einfach aufzugeben. Nein, aufgeben war für sie keine Option mehr. Sie wusste nicht, was sie noch alles erwartete. Doch sie hatte beschlossen, sich dem zu stellen und nicht mehr zurückzuweichen – nicht einen einzigen Schritt.
Morgen früh würde Klaus sie abholen und mit ihr dann gemeinsam nach Frohnau in diese Seniorenresidenz fahren, in der die Frau lebte, die vermeintlich Hanns’ Mutter war. Denn tatsächlich konnte Maria noch nicht glauben, dass es wirklich der Wahrheit entsprach.
Über diesen Gedanken schlief sie ein und wachte erst auf, als es bereits wieder hell war. Sie hatte so tief und fest geschlafen, dass sie nicht einmal mitbekommen hatte, dass Hanna nach Hause gekommen war. Sie war doch nach Hause gekommen?
Maria schlug eilig die Decke beiseite, stand auf und schlich über den Flur zu Hannas Zimmer. Ganz vorsichtig drückte sie die Klinke hinab und lugte in den Raum. Sie war erleichtert, als sie die Tochter tief schlafend in ihrem Bett liegen sah.
Beruhigt schloss sie die Tür wieder, ging dann in die Küche, setzte einen Kaffee auf und zog sich an, während dieser durch den Filter lief. Es war kurz nach halb acht und das erste Mal seit Hanns’ Tod, dass sie die ganze Nacht durchgeschlafen hatte.
Als der Kaffee fertig war, schenkte sie sich eine Tasse voll ein und setzte sich damit auf den Balkon. Hatte sie es zuvor nur nicht bemerkt, oder war es wirklich so, dass der Frühling erst jetzt Einzug hielt und es merklich wärmer wurde?
Sie trank in kleinen Schlucken ihren Kaffee und blickte dabei auf die Bäume im Innenhof. Eigenartig. Es war das allererste Mal seitdem sie hier wohnten, dass sie hier draußen saß.
»Hey. Guten Morgen«, hörte sie Hanna nun hinter sich sagen und drehte sich um.
»Guten Morgen«, gab sie lächelnd zurück. »Der Kaffee steht frisch aufgebrüht in der Küche. Hol dir doch auch eine Tasse.«
»Okay.« Hanna ging wieder hinein und kam kurz darauf mit einer dampfenden Tasse Kaffee zurück, worauf Maria ihr einen Balkonstuhl zurechtrückte und Hanna sich neben sie setzte.
»Es ist gestern Abend spät geworden«, entschuldigte Hanna sich.
Maria behielt ihr Lächeln bei. »Das macht doch nichts. Wenn du wieder eine Arbeit hast, wirst du dir das nicht mehr leisten können. Doch jetzt?« Maria zuckte die Achseln. »Wen kümmert’s?«
»Du bist echt cooler geworden«, stellte Hanna fest. »Und du? Hattest du Besuch? Ich habe die Essenverpackungen und die leere Weinflasche in der Küche gesehen.«
»Klaus war hier und hat Essen mitgebracht.« Maria lachte auf. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen.« Sie deutete auf ihre Haare. »Ich glaube, er konnte es gar nicht fassen, wie ich aussehe.«
»Also ich bin total froh, dass du beim Friseur warst«, meinte Hanna. »Du siehst mindestens zehn Jahre jünger aus und einfach auch viel gepflegter.«
»Ja, finde ich auch«, stimmte Maria zu.
»Gab es denn einen Anlass, warum Klaus da war? Ich meine, hatte er Neuigkeiten wegen dieser ganzen Verfahren?«
»Ehrlich gesagt, haben wir darüber gar nicht gesprochen«, erklärte Maria. »Denn ja, es gibt etwas Neues, und ich hoffe du sitzt gut?«
»Na, was ist es denn diesmal? Wen hat Papa jetzt wieder um sein Vermögen gebracht?«
Maria trank einen Schluck. Dann sah sie zu Hanna hinüber. »Papa hat uns doch immer erzählt, dass seine Eltern bei einem Unfall gestorben sind, als er noch ein Jugendlicher war.«
»Ja. Und?«
Maria schüttelte den Kopf. »Das war gelogen.« Sie wiegte den Kopf. »Wie eben alles gelogen war, was er uns und auch anderen erzählt hat.«
»Wie jetzt?«
»Nun, allem Anschein nach lebt deine Großmutter, und zwar gar nicht mal weit von hier in einer Senioreneinrichtung. Dein Vater hat sie schon vor Jahren dort untergebracht. Klaus ist beim Aktenstudium auf Zahlungen an die Einrichtung gestoßen, hat nachgeforscht und ist gestern dort gewesen, um mit ihr zu sprechen. So, wie ich Klaus verstanden habe, ist die Frau ganz eindeutig die Mutter deines Vaters.«
Hanna öffnete den Mund und schloss ihn nach einer Weile wieder, ohne etwas zu sagen.
»Ja.« Maria nickte. »Genau so habe ich wohl auch geguckt.«
»Ehrlich jetzt, Mama, das gibt es doch nicht, oder?«
Maria zuckte die Achseln. »Wirklich, mein Schatz, ich glaube inzwischen alles und gar nichts mehr. Ich habe überhaupt keine Ahnung, warum dein Vater ein solches Lügengebilde um sich herum errichtet hat und wie alles so weit kommen konnte. Wenn sich aber die Identität dieser Frau als wahr herausstellen sollte, dann verstehe ich das alles noch weniger. Denn das würde bedeuten, dass dein Vater mich von unserem ersten Treffen an belogen hat. Und das hatte da noch nichts zu tun mit irgendwelchen Geldern oder sonst was. Er hat einfach gelogen und gelogen und gelogen. Nichts von dem, was in fast drei Jahrzehnten war, ist echt.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid für dich«, versicherte sie.
»Ach, weißt du, irgendwie habe ich das Gefühl, dass es keine Rolle mehr spielt. Ich weiß nicht, wer dein Vater war. Das muss ich mir schlicht eingestehen. Also werde ich die Dinge, so gut es eben geht, regeln und mich auf mein eigenes Leben konzentrieren.« Sie berührte kurz Hannas Arm. »Also natürlich auch auf deines und Holgers, aber ich meine, ich will all das hinter mir lassen, was mit deinem Vater zu tun hat.«
»Ich finde es echt bemerkenswert, wie du damit umgehst«, meinte Hanna.
»Also bist du mir auch nicht mehr böse, dass ich hinter deinem Rücken zu Lea gegangen bin?«
Hanna schüttelte heftig den Kopf. »Ne, überhaupt nicht. Hätte ich geahnt, wie gut ihr euch versteht und dass das Gespräch für dich ein Anstoß sein würde, dein Leben selbst in die Hand zu nehmen, hätte ich sogar darauf gedrängt.« Hanna sah Maria liebevoll an. »Wirklich, Mama, ich bin stolz auf dich, wie du das jetzt alles angehst.«
»Danke schön, mein Schatz.«
»Und was willst du jetzt wegen der Frau im Pflegeheim machen, also mit Papas Mutter, wenn sie es denn ist?«
»Nun ja, Klaus holt mich um zehn Uhr hier ab, und dann fahren wir gemeinsam dorthin.« Maria zuckte die Achseln. »Mal sehen, was dann geschieht. Ich lasse es jetzt erst mal auf mich zukommen.«
»Um zehn?«, wiederholte Hanna. »Soll ich vielleicht mitkommen?«
»Wenn du möchtest, gern«, stimmte Maria zu.
»Okay.«
Die beiden unterhielten sich noch eine Weile, bevor sie sich fertig machten, frühstückten und dann um kurz vor zehn nach unten gingen, um dort auf Klaus zu warten, der auch pünktlich kam. Maria war nicht ganz sicher, ob es ihr über die nächsten Stunden gelingen würde, ihre gelassene Art beizubehalten. Doch sie würde es versuchen, ganz gleich, was sie erwartete. Denn wie sie es sich schon vorgenommen hatte: Sie würde künftig keinen Schritt mehr zurückweichen.