7. Kapitel

Senioreneinrichtung Haus Abendfrieden, Ludolfingerplatz 7, Frohnau

Freitag, 15. April 1977

Ich glaube, dass eine Zeit des Aufbruchs vor mir liegt. Vor mir und ebenso vor meiner Mutter. Und das fühlt sich fantastisch an.

HANNA BORCHARDT

Sie hatte die gesamte Fahrt über kaum etwas gesagt und nur zugehört, während Klaus und ihre Mutter sich über Gott und die Welt unterhalten hatten. Nicht ein einziges Mal wurde die Frau erwähnt, zu der sie unterwegs waren und die womöglich wirklich ihre Großmutter war.

Die Wandlung, die seit letzter Woche mit ihrer Mutter vorgegangen war, verblüffte Hanna noch immer, und wie genau Lea das geschafft hatte, würde Hanna wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Vor allem war es nur schwer bis gar nicht nachvollziehbar, dass ausgerechnet die Frau, die eine Affäre mit ihrem Mann gehabt hatte, einen solch positiven Einfluss auf ihre Mutter nehmen konnte. Ja, Lea war wirklich eine ganze besondere Frau. Zwar hatte Hanna bisher mit niemand Außenstehendem über Lea gesprochen, doch sie konnte sich gut vorstellen, dass viele Menschen außerhalb des Clubs Anstoß an ihr nahmen und mit ihrer Art und ihren Ansichten nicht umgehen konnten. Doch sie selbst fand Lea einfach großartig. Und wenn sie nun auch noch sah, was nur das eine Gespräch Leas mit ihrer Mutter bewirkt hatte, hätte sie ihr am liebsten einen Orden verliehen.

Natürlich hatte Hanna, als sie am Sonnabend in den Club gekommen war und Lea ihr von dem überraschenden Besuch ihrer Mutter erzählt hatte, erst mal ein mulmiges Gefühl bekommen, und ihr war ein wenig bang geworden bei dem Gedanken an das, was die beiden wohl besprochen haben könnten. Immerhin hatte ihre Mutter nicht die geringste Ahnung, dass Lea und Hanna nicht nur befreundet, sondern sich auch in sexueller Hinsicht nähergekommen waren. Und Hanna wollte auch nicht, dass ihre Mutter hiervon erfuhr, hatte sie doch das Gefühl, dass dies ihre eigene Sache war und die Mutter schlicht nichts anging. Außerdem war es ihr auch irgendwie peinlich. Zum einen, weil Lea nun einmal eine Frau war und Hanna selbst noch nicht hätte sagen können, ob sie lesbisch war oder es nur ein Versuch gewesen war, ein Ausprobieren. Ganz abgesehen davon, fand sie es ja selbst eigenartig, mit der Frau zu schlafen, mit der auch ihr Vater Sex gehabt hatte. Und immer deutlicher kristallisierte sich für Hanna auch heraus, dass die Gefühle, die sie für Lea hegte, vor allem freundschaftlicher Natur waren und der Sex vor allem der Suche nach ihrer eigenen Identität geschuldet war. Sie wusste noch nicht, wer sie war, was sie fühlte und wohin ihr Weg sie führen sollte. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass genau dieser bisher für sie vorgezeichnet gewesen war. Bis zum Heiligabend des letzten Jahres war für Hanna alles vollkommen klar gewesen, und die Nächte, die sie mit Lea verbracht hatte, waren eben nur das heimliche Vorwagen in verbotene Gefilde gewesen. Hanna hatte das Gefühl, dass die Pleite ihres Vaters und der darauffolgende Skandal womöglich das Beste waren, was ihrer Mutter und ihr hatte widerfahren können. Denn die Tatsache, dass sie nichts, aber auch gar nichts mehr besaßen und alles ein einziger Scherbenhaufen war, hatte sie in die Situation gezwungen, alles völlig neu angehen zu müssen. Ihr Leben hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Und spätestens seit letzter Woche, seit der Ruck durch ihre Mutter gegangen war und diese sich nun nicht mehr verkroch wie eine Maus, die fürchtete, jeden Moment erschlagen zu werden, hatte sich jede Menge getan. Ja, es war jetzt gut, wie es war, und es fühlte sich richtig an, endlich wieder so etwas wie Kampfgeist zu entwickeln. Hanna musste sogar immer mal wieder schmunzeln, wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie doch inzwischen richtiggehend Spaß daran, endlich aus diesem Hamsterrad ausgebrochen zu sein und sich angriffslustig zu fühlen. Einerseits war ihr bewusst, dass sie nun, da sie ohne abgeschlossene Berufsausbildung dastand und bis auf Leas Angebot, im Club zu kellnern und sich so etwas dazuverdienen zu können, nicht gerade eine rosige Karriere vor sich hatte. Doch andererseits hatte sie das Gefühl, ohnehin nicht mehr den ausgetrampelten Pfaden folgen zu wollen, ganz abgesehen davon, dass sie in einem gutbürgerlichen Beruf ohnehin tun könnte, was sie wollte, und doch keine Anerkennung finden würde. Sie war nun einmal die Tochter von Hanns Borchardt, des früheren Baulöwen, der inzwischen nur noch überall als der größte Betrüger von ganz Berlin galt. So war das eben. Alle paar Wochen titelte wieder eine Zeitung mit einer Schlagzeile wie: Borchardt – der Baulöwe, der sich als falsche Schlange entpuppte . Ob sie selbst also alles ganz wunderbar machte und nur die besten Leistungen erbrachte oder aber einfach die Hände in den Schoß legte, war vollkommen gleichgültig. Die Tür zu einem ganz normalen und gesellschaftlich angesehenen Leben, wie sie es früher hätte führen können, war so fest verschlossen wie die Tore von Fort Knox. Daran gab es nichts zu rütteln. Doch wenn sie ehrlich war, hätte sie das ja sowieso nicht mehr gewollt. Sie wollte kein langweiliges Spießerleben führen. Sie wollte frei sein, sich entfalten können, wollte neugierig sein auf das, was sie noch nicht kannte. Natürlich würde sie einen Beruf ergreifen und ausüben müssen, das war ihr vollkommen klar. Aber wo stand denn geschrieben, dass man seinen Beruf hassen musste oder dass es einfach dazugehörte, eine ungeliebte Tätigkeit auszuüben, wollte man Geld verdienen und von irgendetwas leben? Noch war etwas von dem vorhanden, was ihre Mutter über viele Jahre angespart und ihr und auch Holger an dem Tag gegeben hatte, als dieser aus der Villa ausgezogen war. Doch natürlich würde das nicht ewig reichen. Und Hanna empfand es als selbstverständlich, dass sie künftig in der Pflicht war, ihre Mutter zu unterstützen, hatte diese es doch andersrum auch immer getan. Außerdem hatte ihre Mutter sicher weit schlechtere Chancen, irgendwo eine Anstellung zu finden. Genau wie Hanna hatte ja auch ihre Mutter keinen Berufsabschluss vorzuweisen. Und die Aufträge für Inneneinrichtungen hatte sie über all die Jahre natürlich immer kostenlos ausgeführt, eben einfach als Freundschaftsdienste, wenngleich sie mit Sicherheit Geld dafür hätte verlangen können. Hanna bewunderte den guten Geschmack ihrer Mutter. Sie hatte wirklich ein Händchen dafür, in einen Raum zu kommen und diesen sozusagen vollkommen verändert vor ihrem geistigen Auge zu sehen – eine Gabe, die Hanna fehlte.

Doch Hanna besaß ein anderes Talent, über das sie in letzter Zeit immer öfter nachgedacht hatte, auch wenn ihr nicht klar war, wie man hieraus einen Beruf machen und Geld damit verdienen konnte.

Sie hatte sich immer mal wieder mit Cord unterhalten und war auch einige Male mit zum Dreh seiner Aufklärungsfilme, wie er die kleinen Pornostreifen nannte, mitgegangen. Cord hatte ihr angeboten, dass sie selbst vor die Kamera gehen und für sich ausprobieren könnte, ob das vielleicht etwas für sie wäre. Immerhin konnte man als Pornodarstellerin gutes und schnelles Geld verdienen. Auch wenn man anfangs keine Reichtümer damit scheffeln konnte, hatte man doch gute Chancen, wenn man sich nach und nach einen Namen machte. Aber Hanna hatte gespürt, dass das nicht ihres wäre. Sie hatte keine Lust, sich mit fremden Männern oder Frauen einzulassen und hierbei gefilmt zu werden. Den Darstellern aber Anweisungen zu geben und den Dreh nicht nur auf den reinen Sex zu reduzieren, sondern die Annäherungen etwas spielerischer darzustellen, eben so, wie es vermutlich im richtigen Leben war, fand Hanna durchaus reizvoll. Es war, als erzählte sie damit eine kleine Geschichte, und wenn es dann schließlich zum Sex kam, dann eben als Folge des Zwischenmenschlichen, nicht jedoch so, dass es nur um den Akt selbst ging.

Cord hatte ihr weitestgehend freie Hand gelassen und sich eher in die Rolle des Beobachters begeben. Welche Szenen es letztendlich in den abgedrehten Film geschafft hatten, wusste Hanna nicht. Und natürlich hatte sie für ihre Regietipps keinerlei Geld erhalten. Doch gerade gestern hatte Cord ihr mitgeteilt, dass er es gut fände, wenn sie auch bei den nächsten Drehs dabei wäre und sich einbringen würde, denn die Filme verkauften sich besser als die, die er ohne sie gemacht hatte. Hanna hatte sich darüber gefreut, doch kaum dass Cord es ausgesprochen hatte, fügte er eilig hinzu, dass der Verkauf so wirklich viel besser natürlich auch nicht sei. Hanna hatte es einfach hingenommen, doch etwas an der Art, wie er es gesagt hatte, war ihr eigenartig vorgekommen. Fast wirkte es, als ärgerte Cord sich, so freimütig zugegeben zu haben, seinen Gewinn durch Hanna gesteigert zu haben. Und irgendwie hatte sie das enttäuscht. Es war offensichtlich, dass er mit seiner Bemerkung sicherstellen wollte, dass sie nur ja keine finanziellen Ansprüche an ihn stellte und eine Gewinnbeteiligung forderte. Und ein solches Verhalten konnte sie einfach nicht leiden. Sie hätte ja gar nichts haben wollen, zumindest da noch nicht. Doch im Nachhinein hatte sie das Gefühl, irgendwie hintergangen zu werden. Und das ärgerte sie total.

Aus diesem Grund hatte sie heute Nacht noch eine ganze Weile wach gelegen und nachgedacht. Was, wenn sie sich eine Kamera besorgen und selbst mal versuchen würde, einen Film zu drehen? Einige Darsteller kannte sie inzwischen ganz gut, und vor allem die Frauen hatten ihr gesagt, dass sie das Arbeiten, wenn Hanna die Regieanweisungen übernahm, einfach angenehm fanden. Sie könnte ja einige von ihnen einfach mal fragen, ob sie nicht auch für sie arbeiten würden. Dass Cord das nicht gefallen würde, war Hanna selbstverständlich klar. Und im Moment wusste sie auch noch nicht, wie viel eine Kamera, selbst wenn sie sie nur mietete, kosten würden, ganz abgesehen von dem restlichen Equipment, das benötigt wurde. Sie würde Erkundigungen einholen müssen. Vor allem aber wusste Hanna nicht, wie solche Filme geschnitten wurden und schließlich in die kleinen Kinos gelangten, die sich an vielen Ecken etablierten, auch wenn eigentlich niemand offen zugab, sich diese Streifen anzusehen. Ob sie Cord unauffällig ausfragen sollte, wie so etwas lief? Eigentlich war ihr das nicht recht, fand sie es doch ein wenig schäbig, ihn so hinters Licht zu führen. Andererseits stellte sich ihr die Frage, wie es im umgekehrten Fall wäre: Hätte Cord auch nur die geringsten Bedenken ihr gegenüber, wenn er in ihrer Situation wäre? Das Beste wäre wohl, mit Lea darüber zu sprechen, auch wenn diese ebenfalls mit Cord befreundet war. Oder würde Lea es an Cord weitertragen? Hanna schüttelte den Kopf. Nein, das glaubte sie wirklich nicht. Selbst wenn Lea der Ansicht wäre, dass Hanna sich falsch Cord gegenüber verhielte, so war Hanna dennoch sicher, dass Lea sie nicht verraten würde. Es war schon ein Kreuz, dass Hanna so misstrauisch geworden war. Weil ihr Vater sie derart getäuscht hatte, beschlich sie oft der Verdacht, dass Menschen, die ihr weniger nahestanden, bestimmt noch unehrlicher zu ihr wären.

»Da wären wir«, sagte nun Klaus und holte sie so aus ihren Gedanken. Er parkte den Wagen, und alle stiegen aus.

Ihre Mutter sah an dem Gebäude hinauf, drehte sich zu ihr um und nahm Hannas Hand, die sie aufmunternd drückte.

»Alles in Ordnung, mein Schatz?«, fragte Maria.

»Klar«, gab Hanna zurück, obwohl sie sich durchaus unsicher fühlte. Was würde sie dort drinnen erwarten? Sie hatte Klaus, der die Frau ja als Einziger bereits gesprochen hatte, überhaupt nicht gefragt, mit was für einem Menschen sie es hier zu tun bekamen. War sie so eine verhärmte, grimmige Alte, die den ganzen Tag nur schimpfte und schrie und ihnen womöglich die Schuld an ihrem nicht mehr lebenswerten Leben gab.

»Na, dann komm!«, forderte ihre Mutter sie auf, und gemeinsam betraten sie das Seniorenheim.

Klaus Schröder trat mit seinem Aktenkoffer in der Hand an den Empfang und sprach kurz mit der Mitarbeiterin, dann bedeutete er Maria und Hanna, ihm zu folgen, und sagte:

»Ich habe uns angemeldet. Wir müssen hier entlang.«

Gemeinsam gingen sie zum Aufzug und fuhren hinauf in den dritten Stock. Dort angekommen, ging Klaus voraus, und erst am Ende des Korridors blieb er stehen.

»Hier ist es«, kündigte er an. »Bereit?«

Maria nickte, drückte nochmals kurz Hannas Hand und lächelte. Dann klopfte Klaus, und nachdem sie die Aufforderung erhielten, betraten die drei das Zimmer. Die Bewohnerin saß am Tisch und las gerade eine Zeitung.

»Guten Tag, Frau Meiners. Klaus Schröder, erinnern Sie sich an mich?«, fragte er und trat näher an sie heran.

»Junger Mann«, empörte sich die betagte Dame. »Sie waren gerade gestern hier und haben sich mir vorgestellt. Ich mag ja nicht mehr taufrisch sein, doch weggetreten bin ich nicht.«

»Bitte verzeihen Sie«, entschuldigte sich Klaus schmunzelnd und reichte ihr die Hand.

»Ich würde Sie gern bekannt machen«, sagte Klaus. »Gertrud Meiners, das sind Maria und Hanna Borchardt, Hanns Witwe und seine Tochter.«

Die Frau blickte erst Maria, dann Hanna an und stand etwas mühsam auf.

»Guten Tag«, grüßte sie nun und kam auf sie zu.

»Guten Tag.« Maria reichte ihr die Hand, dann trat Hanna vor.

»Guten Tag«, war nun auch das Einzige, was Hanna hervorbrachte. Denn wie auch immer sie sich diesen Moment vorgestellt und welche Zweifel sie gehabt hatte, wer die Frau überhaupt war, waren zumindest Letztere augenblicklich verschwunden. Denn die Augen, in die Hanna nun sah, waren die ihres Vaters und Bruders.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, bot Gertrud Meiners nun an und deutete zum Tisch.

»Danke«, sagte Maria, und es war deutlich zu spüren, wie unangenehm die Situation von allen empfunden wurde.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Gertrud Meiners höflich. »Ich muss nur dort klingeln«, erklärte sie und wies auf eine Klingelschnur neben der Tür.

»Nein, vielen Dank«, lehnte Maria ab. »Machen Sie sich keine Mühe.«

Einen Moment breitete sich eine unangenehme Stille aus. Dann räusperte sich Klaus.

»Ja, das ist hier wohl gerade für keinen ganz einfach«, brach er das Schweigen.

»Nein, das ist es wohl nicht«, stimmte Maria zu.

»Ich habe seit Ihrem gestrigen Besuch viel nachgedacht«, sagte nun Gertrud Meiners an Klaus gewandt. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie entweder ein Lügner sind oder eine Verwechslung vorliegt«, sagte sie und sah dann von Klaus zu Hanna. »Bis jetzt.« Sie schluckte. »Dein Name ist Hanna?«

»Ja«, antwortete Hanna knapp.

»Auf den ersten Blick siehst du deiner Mutter sehr ähnlich«, stellte Gertrud Meiners fest. »Doch ich erkenne auch viel von meiner Schwester in dir, als sie in etwa so alt war wie du jetzt. Sie ist schon viele Jahre tot, doch mein Sohn hatte viel von ihr.« Sie lächelte. »Nun ja, alle sagten immer, dass Hanns nur die Statur von seinem Vater hatte. Alles andere hat er von mir gehabt.«

Hanna schluckte. »Ihre Augen«, sagte sie nun. »Mein Vater hatte genau Ihre Augen, und mein Bruder Holger hat die gleichen.«

»Holger«, wiederholte Gertrud Meiners.

»Ja. Bestimmt wird er Sie auch mal besuchen kommen, wenn wir ihm von Ihnen erzählen«, fuhr Hanna fort, wenngleich sie sich da alles andere als sicher war. Sie hatte in den letzten Wochen so gut wie keinen Kontakt mehr zu Holger gehabt, und die wenigen Male, die er bei ihrer Mutter und ihr in der Wohnung war, hatten sie nur oberflächlich miteinander gesprochen. Er war ihr fremd geworden, und solange er sich bei dieser Monika rumtrieb, würde sich das vermutlich auch nicht ändern.

»Es tut mir so leid«, sagte Maria nun mit brüchiger Stimme und sah Gertrud Meiners an. »Wir haben es wirklich nicht gewusst.«

Der alten Dame kamen die Tränen. »Ich habe mir immer gewünscht, dass Hanns eine Frau findet und eine Familie gründet«, sagte sie und musste kräftig schlucken. »Ich verstehe das nicht. Bin ich denn wirklich so schlimm, dass er sich für mich geschämt hat und mich nicht vorstellen mochte?«

Maria lächelte traurig. »Vielleicht war ja ich diejenige, die nicht vorzeigbar war«, bot sie als mögliche Erklärung an.

»Darf ich fragen, was er Ihnen gesagt hat, was mit seinen Eltern ist?«

»Hanns sagte mir, dass sie bei einem Unfall gestorben seien, als er noch nicht mal erwachsen war. Ihm war anzumerken, dass er nicht gern darüber sprach. Deshalb habe ich nicht tiefer gegraben.«

Gertrud Meiners schüttelte den Kopf. »Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum?«, fragte sie mit Verzweiflung in der Stimme.

»Ich weiß es wirklich nicht, und ich bedauere, dass er so gehandelt hat. Ich hätte Sie sehr gern früher kennengelernt.«

»Bitte, siezt mich doch nicht. Ich bin doch …«, unterbrach sie sich und sah nun wieder Hanna an. In ihrem Blick lag so unendlich viel Schmerz, dass es Hanna fast das Herz zerriss. »Ich bin doch deine Großmutter.«

»Das fühlt sich wirklich eigenartig an«, sprach Hanna ihren Gedanken aus. »Ich habe mein Leben lang keine Oma gehabt. Die Mutter meiner Mutter ist schon gestorben, bevor Mama geheiratet hat. Nun doch noch eine Oma zu haben ist irgendwie komisch. Aber ich freue mich«, fügte Hanna eilig hinzu.

»Und mein Vater ist im Krieg gefallen«, ergänzte Maria, »sodass die Kinder ihn auch nicht kennengelernt haben und bisher keine Großeltern hatten.«

»Warum nur hat Hanns sich eine solche Lüge ausgedacht?«

Hanna war in Versuchung, ihrer Großmutter zu sagen, dass deren Sohn im Grunde sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als zu lügen, und sich, als es rauskam, deshalb sogar vor den Zug geworfen hatte. Doch eine solche Aussage wäre mehr ihrer eigenen Wut auf den Vater geschuldet gewesen, und sie hatte kein Recht dazu, ebendiese Wut nun an ihrer Großmutter auszulassen.

»Ich weiß nicht, warum er uns diese Lüge aufgetischt hat«, antwortete Maria nun. »Doch nach seinem Tod ist herausgekommen, dass er viel, wirklich sehr viel gelogen hat.«

Gertrud Meiners senkte den Blick. »Ja, das hat er schon als Kind getan«, erinnerte sie sich nun. »Doch damals ging es ja nur um Kleinigkeiten, etwa wenn er nicht zugeben wollte, seine Hausaufgaben nicht erledigt oder etwas kaputt gemacht zu haben. Solche Dinge. Heinrich, sein Vater, hat ihn manches Mal verdroschen, wenn wir ihn wieder bei einer Lüge ertappt haben.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Oft auch zu doll.« Sie blickte Maria an. »Bestimmt liegt es an mir. Ich habe bei seiner Erziehung alles falsch gemacht.«

»Aber nein«, sagte Maria mitfühlend. »Sag doch so etwas nicht. Moment«, bat Maria und hob ihre Chanel-Handtasche auf den Tisch. »Ich habe dir etwas mitgebracht«, erklärte sie dann und zog einen Stapel Fotos hervor. »Ich habe diese hier herausgesucht.« Sie reichte die Fotos an Gertrud, die sie mit zittrigen Händen annahm.

»Mein Gott«, entfuhr es ihr. »So hat mein Hanns also bei seiner Hochzeit ausgesehen.« Dann ging sie die Fotos Stück für Stück durch.

Hanna kannte jede der Aufnahmen. Die Bilder von der Hochzeit ihrer Eltern. Ihr Vater in der Tür des Hauses, in dem sie gewohnt hatten, als Holger und sie noch klein gewesen waren. Kinderbilder von Holger und ihr. Sie mit ihrer Schultüte in der Hand und dann ein weiteres von allen vieren, das an ihrem ersten Schultag auf dem Schulhof aufgenommen worden war, damals, als noch alles gut war. Es folgten einige Fotografien von Holger in verschiedenen Altersstufen, dann einige von ihr, mit ihrem neuen Fahrrad und ein weiteres, mit ihrem Schulzeugnis in der Hand. Von ihnen als Familie, auf denen sie alle vier abgebildet waren, gab es nur insgesamt zwei Fotografien. Kein Wunder, hatte doch meist ihre Mutter die Kamera in Händen gehalten und die wichtigen Augenblicke ihres Familienlebens eingefangen.

Gertrud sah sich die Fotografien an, lächelte bei jedem Bild. Doch der Schmerz, den es für sie bedeutete, das Leben ihres Sohnes zwar anhand der Fotos nachvollziehen zu können, jedoch kein Teil davon gewesen zu sein, war ihr deutlich anzusehen. Als sie fertig war, legte sie den Stapel vor sich hin, lächelte Maria an, erhob sich und ging zu ihrer Kommode. Dort nahm sie ein gerahmtes Bild heraus und kam damit wieder an den Tisch.

»Das ist leider die einzige Aufnahme, die mir von Hanns geblieben ist«, erklärte sie.

Maria nahm es und hielt es so, dass Hanna es auch sehen konnte.

»Wie alt war Papa da?«, fragte sie.

»Anfang zwanzig«, antwortete Gertrud Meiners nach kurzem Zögern. »Er trägt dort seine Uniform, mit der er in den Krieg gezogen ist.«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich wusste zwar, dass er zum Kriegsdienst hatte antreten müssen. Doch ich habe nie etwas von ihm über diese Zeit erfahren. Aber das war wohl bei vielen so.«

»Ja, die Männer haben nicht gern davon gesprochen. Verständlicherweise«, räumte Gertrud ein.

Klaus Schröder räusperte sich. »Sagen Sie, Frau Meiners, haben Sie sonst noch irgendwelche Unterlagen«, meldete er sich nun das erste Mal, seit sie da waren, wieder zu Wort, »über ihr früheres Haus und Grundstück?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Darum hat sich doch Hanns gekümmert. Er müsste die ganzen Papiere haben.«

»Ich verstehe«, sagte Klaus und erklärte dann Maria, die ihn fragend ansah: »Als ich gestern hier war, erzählte mir Frau Meiners davon, dass sie und ihr Mann einen Bauernhof hatten. Dort ist Hanns aufgewachsen.«

»Uns hat Papa immer erzählt, dass seine Eltern ein Handelsgeschäft hatten«, sagte nun Hanna, zuckte aber gleich darauf mit den Schultern. »’tschuldigung«, fügte sie hinzu, »das war vermutlich auch gelogen.« Hanna verzog das Gesicht.

»Wir hatten einen Bauernhof nahe Wolfsburg«, berichtete nun Gertrud.

»Können Sie sich noch an die genaue Anschrift erinnern?«, fragte Klaus, bückte sich und holte aus seinem Aktenkoffer einige leere Papierblätter und einen Kugelschreiber hervor.

»Sicher. Ich habe doch mein ganzes Leben dort verbracht«, antwortete Gertrud und nannte ihm sowohl die Anschrift als auch einige Angaben, wo genau das Grundstück gelegen hatte und wie groß die Flächen waren, die ebenfalls dazugehört hatten.

Klaus notierte alles, stellte noch einige Nachfragen zu dem Datum, an dem Heinrich Borchardt gestorben war, und wann das Grundstück verkauft wurde, die Gertrud allesamt sogleich beantworten konnte.

»Damit kann ich auf jeden Fall einige Nachforschungen anstellen«, erklärte er.

»Darf ich fragen, weshalb?«, erkundigte sich Gertrud.

»Nun, ich konnte bisher nichts über das Grundstück oder den Verkauf in den Akten finden. Es ist zwar nur ein dünner Strohhalm, weil ich nicht davon ausgehe, dass Hanns das Geld irgendwo gesondert hinterlegt hat«, klärte Klaus auf. »Aber wir dürfen nichts unversucht lassen.«

»Aber Hanns war doch ein vermögender Mann«, wandte nun Gertrud ein. »Als Sie mir gestern sagten, dass die Kosten hier nicht bezahlt sind, da dachte ich, es läge nur daran, dass Hanns verstorben ist.« Sie wirkte erschrocken. »Er muss doch genug Geld hinterlassen haben. Das Geld aus dem Verkauf des Hofes würde mit Sicherheit reichen, um die Rechnungen des Heims für die nächsten fünfzig Jahre hier zu bezahlen.«

»Es tut mir leid«, sagte nun Maria an ihre Schwiegermutter gewandt. »Wie wir ja schon feststellten, hat Hanns uns alle belogen. Auch, was seine finanzielle Situation anging. Er war vollkommen pleite, und die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn ermittelt. Deshalb hat er sich auch das Leben genommen.«

»Was?« Gertrud Meiners riss die Augen auf. »Das kann nicht sein.« Sie blickte zu Klaus. »Haben Sie mir nicht gesagt, dass es ein Unfall gewesen wäre?« Es klang vorwurfsvoll.

»Ja, das habe ich.« Er nickte. »Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.«

»O mein Gott.« Gertruds Zittern verstärkte sich. »Ich kann es nicht glauben. Er war doch immer so gut gekleidet, und auch die Dinge, die er mir geschenkt hat, waren allesamt bestimmt sehr teuer.«

»Ja, so war er immer«, gab Maria ihr recht. »Doch es war eine Scheinwelt. Das alles war nichts als eine Scheinwelt.«

Hanna atmete hörbar aus. Das hier war alles so bedrückend.

»Aber wenn das Geld aus dem Hofverkauf wirklich weg ist«, sagte nun Gertrud und sah jeden von ihnen der Reihe nach an, »wie sollen denn dann diese Rechnungen hier bezahlt werden? Ich meine, ich selbst habe doch nichts. Unser Geld steckte in dem Hof und dem Vieh.«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich will ganz ehrlich sein«, sagte sie nun, »ich weiß es nicht. Doch natürlich werden wir eine Lösung finden.«

Gertrud schloss einen kurzen Moment die Augen. »Ich habe mein Leben lang gearbeitet und immer für die Familie gesorgt. Als es Heinrich damals schlechter ging, habe ich einiges an Vieh verkauft und mich schließlich allein um alles gekümmert.« Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Das Konto«, sagte sie dann. »Wir hatten doch ein Konto. Darauf muss noch Geld sein.«

»Wissen Sie noch, wo?«

»Selbstverständlich. Ich kann mich sogar an die Kontonummer erinnern.«

Klaus reichte ihr einen weiteren Zettel und den Kugelschreiber und bat sie, alles aufzuschreiben, an was sie sich noch erinnerte, vor allem auch ihre persönlichen Daten. Dann holte er eine Vollmacht hervor und ließ sich diese von ihr unterzeichnen.

»Ich werde versuchen, so viel wie möglich herauszufinden«, versicherte Klaus.

»Danke«, sagte Gertrud Meiners nur, der eine gewisse Furcht anzumerken war.

»Sag mal, warum bist du eigentlich hier?«, fragte nun Hanna. »Ich meine, du wirkst nicht krank oder so.«

»Das bin ich auch nicht«, erwiderte Gertrud und klang dabei leicht verärgert. »Nach dem Tod deines Großvaters ging es mir eine Weile nicht gut«, klärte sie auf. »Ich habe mein ganzes Leben mit ihm verbracht, und als er gestorben ist, da starb auch ein Teil in mir. Deshalb habe ich den Fehler gemacht, den Hof zu vernachlässigen. Und ich war auch so unglücklich, weil ich ja Hanns nicht über den Tod seines Vaters informieren konnte. Er hatte mir zwar eine Telefonnummer in Mailand gegeben, doch unter der war er nicht zu erreichen.«

»In Mailand?«, echote Hanna und hob die Hände. War ihr Vater denn völlig durchgedreht?

Gertruds Augen füllten sich mit Tränen. »Heinrich war schon beerdigt, als Hanns wieder mal zu Besuch kam. Vor allem meine Nachbarin, die Elfriede, hat ihm schwere Vorwürfe gemacht. Sie haben gestritten, das weiß ich noch. Doch alles andere liegt wie in einem Nebel.«

»Und dann hat er Sie hierhergebracht?«

Gertrud nickte. »Ja. Er kam, hat mich abgeholt und ist mit mir hierhergefahren. Hier würde man sich um mich kümmern, hat er gesagt. Ich habe nicht einmal meine eigene Kleidung packen und mitnehmen können. Hanns hat alles neu gekauft, oder besser, kaufen lassen. Ilse, eine der Pflegerinnen hier, ist mit mir einen Katalog durchgegangen und hat sich dann darum gekümmert. Hanns hat alles bezahlt.«

»Ja, diese Art passte zu ihm«, meinte Maria.

»Ich habe ja verstanden, dass ich den Hof nicht allein weiterbetreiben konnte. Und ich glaube, Hanns hat es auch nicht gefallen, dass die Elfriede Schmelzer so mit ihm geschimpft hat, und wollte das wohl nicht noch mal erleben.« Sie blickte auf. »Elfriede hat den Hof von ihren Eltern übernommen«, erzählte sie nun. »Ich kannte sie schon als kleines Kind. Sie hat sich gekümmert und immer nach mir gesehen.«

»Gut, dass so jemand in deiner Nähe war«, meinte Maria, worauf Gertrud nickte.

»Aber hierher habe ich wirklich nie gewollt«, fuhr Gertrud nun traurig fort. »Es ist so langweilig, und jeder Tag ist wie der andere.«

»Er ist einfach über deine Wünsche hinweggegangen«, stellte Maria fest und seufzte. »Es tut mir wirklich sehr leid.«

Gertrud zuckte die Achseln. »Er hat mir gesagt, dass es nicht anders ginge, weil er ja immer in Mailand wäre.«

»Er war ein solcher Mistkerl!«, entfuhr es Hanna, und sie sah ihre Mutter an, die sie offenbar zurechtweisen wollte. »Nein, Mama, sag nichts. Er war ein Mistkerl und hat jedem einfach nur seinen Willen aufgedrückt.«

Einen Moment herrschte Schweigen.

»Ich werde mich erkundigen und mich bei Ihnen melden, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, Frau Meiners. Irgendwie werden wir diese Angelegenheit regeln«, sagte Klaus dann.

»Wieso eigentlich Meiners?« Hanna deutete auf den Zettel, auf dem die Großmutter ihren Namen, Geburtsdatum und die weiteren persönlichen Daten notiert hatte. »Da steht doch auch Borchardt.«

»Hanns wollte nicht, dass ich unter meinem richtigen Namen hier lebe.«

Hanna schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ich hätte es mir denken können.« Sie fühlte sich richtiggehend matt. Offenbar gab es nicht einen Bereich seines Lebens, in dem ihr Vater nicht gelogen hatte. Und er hatte sogar auch noch andere dazu gebracht, es ihm gleichzutun. Es war schlicht unglaublich.

»Vielleicht sollten wir jetzt gehen«, meinte Klaus. »Ich denke, wir haben hier alle etwas, das wir sacken lassen müssen.«

Gertrud sah Maria an, dann Hanna. »Kommt ihr wieder?«, fragte sie eilig.

»Selbstverständlich«, versprach Maria sofort. »Wir haben schon so viel Zeit im Leben des anderen verpasst.«

Gertrud atmete tief durch. »Danke«, sagte sie nur.

Die alte Frau tat Hanna in diesem Augenblick unendlich leid. Sie wirkte so allein und total verloren, ja richtig ängstlich. Hanna hatte das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, um sie ein wenig aufzuheitern, bevor sie gingen. Etwas, das ihr Hoffnung gab.

»Sag mal, Oma, wie ist das hier eigentlich? Kannst du auch mal raus? Oder musst du immer im Heim bleiben, sodass wir dich nur hier besuchen können.«

Gertrud wirkte überrascht. »Natürlich darf ich raus. Es ist ja kein Gefängnis.« Sie zuckte die Achseln. »Nur wüsste ich nicht, wohin ich sollte.«

»Na, wir könnten doch zusammen ins Café gehen oder so«, sprach Hanna den ersten Gedanken aus, der ihr dazu gekommen war.

»Das ist eine sehr gute Idee«, pflichtete Maria ihr bei. »Ich habe derzeit kein Auto, weil durch die Zwangsvollstreckung alles weg ist. Aber ich könnte mir den Wagen von Uschi, meiner Freundin, leihen und dich einfach mal abholen«, schlug sie vor.

»Du kannst meinen Wagen nehmen, Maria, wann immer du ihn brauchst«, bot Klaus sofort an.

Gertrud war so überrascht, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte.

»Wenn das ginge«, gab sie dann zögerlich zurück. »Das wäre einfach wunderbar.«

»Ist doch kein Leben, hier drin zu versauern«, meinte nun Hanna und traute sich, ihre Hand auf die der Großmutter zu legen. »Du bist jetzt nicht mehr allein, Oma.« Sie spürte, wie ihr bei ihren eigenen Worten die Tränen kamen. Sie war fest entschlossen, sich um ihre Großmutter, die sie gerade erst kennengelernt hatte, zu kümmern. Natürlich würde es Zeit brauchen, wirklich eine Beziehung aufzubauen. Aber das Mindeste, was sie und ihre Mutter tun konnten, war ja wohl, einfach Menschlichkeit zu zeigen. Wie schwer konnte es sein, sich einfach normal zu benehmen und ein wenig Mitgefühl zu haben?

Gertrud schloss die Augen und schluchzte kurz auf. »Entschuldigt«, sagte sie. »Ich, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Maria lächelte Hanna an. »Hanna hat recht, Gertrud. Du bist nicht mehr allein und wirst es nie mehr sein, weil du jetzt eine Familie hast.« Sie wandte sich an Klaus. »Ich bin so froh, dass du so gründlich arbeitest und hierauf gestoßen bist. Danke.«

Klaus nickte nur, dann stand er auf. »Verabschiedet ihr euch in Ruhe voneinander. Ich werde schon mal nach unten gehen und mit der Einrichtungsleiterin sprechen, um einige Dinge zu klären. Wir treffen uns dann am Auto, ja?«

»Ja, Klaus. Danke«, sagte Maria.

Er streckte Gertrud die Hand entgegen. »Auf Wiedersehen, Frau Meiners. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß.«

Gertrud ergriff seine Rechte mit beiden Händen. »Es gibt keine Worte für das, was Sie für mich getan haben, Herr Schröder. Danke.«

»Gern geschehen, Frau Meiners«, gab er in verbindlichem Tonfall zurück. »Wir sehen uns in Kürze.« Er nickte ihr noch einmal zu, nahm seinen Koffer und verabschiedete sich.

»Bis gleich, Klaus«, sagte Maria, während Hanna nur kurz die Hand hob. Dann ging er raus, und Hanna ließ ihren Blick noch kurz auf der Tür ruhen. Sie mochte Klaus Schröder, schätzte seine ruhige, besonnene und zurückgenommene Art. Vor allem aber würde sie ihm nie vergessen, was er für sie und ihre Mutter getan hatte. Und nun half er auch noch ihrer Großmutter. Wäre er nicht der, der er war, würde sie vermutlich misstrauisch werden, was er mit so viel Einsatz bezweckte. Doch wahrscheinlich war sie inzwischen einfach immer auch ein wenig auf der Hut, weil sie das Gefühl hatte, kaum noch jemandem trauen zu können. Das war ihr bei Cord so gegangen, und auch bei ihren Freunden hinterfragte sie mehr als früher. Bei Klaus Schröder jedoch wollte sie dieses Misstrauen nicht zulassen. Er war ein netter Mensch und nicht daran interessiert, einen irgendwie gearteten Nutzen aus der misslichen Lage der Familie zu ziehen. Keinesfalls wollte sie auf eine solche Verbitterungsschiene geraten und hinter jedem und allem nur noch Böses vermuten. Die Sache mit ihrem Vater hatte sie geprägt, doch das sollte nicht fortan ihr gesamtes Leben bestimmen. Er war tot und begraben. Nun galt es, nach vorn zu blicken. Und hierfür war es auch notwendig zu vertrauen, so schwer es auch fiel.

Sie blieben noch einige Minuten, dann verabschiedeten Maria und Hanna sich von Gertrud mit dem Versprechen, dass mindestens eine von ihnen am Wochenende noch vorbeikäme, um sie zu besuchen. Die Freude hierüber, aber wohl auch eine gewisse Skepsis, war Gertrud deutlich anzusehen gewesen. Hanna konnte es ihr nicht verdenken, ging es ihr doch genauso. Sie alle waren wohl zu oft belogen worden und ihr Grundvertrauen in andere Menschen entsprechend erschüttert.

Es war Hanna albern vorgekommen, sich mit einem Händeschütteln zu verabschieden. Schließlich war die Frau ihre Großmutter, ob sie sich nun schon wirklich kannten oder nicht. Also beugte sie sich runter und umarmte Gertrud.

»Mach’s gut, Oma. Wir sehen uns die Tage.«

Gertrud umfasste Hannas Arm. »Ja, das würde mich freuen«, erwiderte sie.

Maria beugte sich ebenfalls zu Gertrud hinab, um sich zu verabschieden. Dann gingen Maria und Hanna hinaus. Hanna war aufgefallen, dass ihre Mutter die Fotos auf dem Tisch hatte liegen lassen und einfach nur ihre Handtasche genommen hatte, als sie gingen.

»Hast du die Bilder mit Absicht dagelassen?«, fragte Hanna, als sie draußen waren.

Maria nickte. »Ja. Ich denke, es ist schön für Gertrud, sie sich in Ruhe ein wenig ansehen zu können.« Maria lächelte. »Es zerreißt mir das Herz, was dein Vater ihr mit seinen Lügen angetan hat.«

»Ja, mir auch«, stimmte Hanna zu.

»Ich werde mich um sie kümmern«, stellte Maria entschieden fest. »Sie hat lange genug in dieser elenden Einsamkeit leben müssen. Die Jahre, die sie noch hat, wird sich das ändern.«

Hanna sah ihre Mutter von der Seite an und hakte sich dann unter. »Du bist klasse, Mama, weißt du das?«

»Danke schön.« Maria lehnte im Gehen ihren Kopf an Hannas. »Die Verzweiflung über das, was Hanns getan hat, ist inzwischen einer gewaltigen Wut gewichen«, stellte sie fest. »Ich werde nicht mehr zulassen, dass seine Taten sich negativ auf unser Leben auswirken. Mit dem Wegducken ist jetzt Schluss, und das ein für alle Mal.«

Hanna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Doch sie musste lächeln.

Zusammen fuhren sie im Fahrstuhl nach unten, grüßten im Weggehen die Frau hinter dem Tresen und gingen dann hinaus. Klaus Schröder stand vor seinem Auto und wartete auf die beiden.

»Was hast du heute noch so vor, Hanna?«, fragte Maria nun.

»Also, ich weiß noch nicht«, wich Hanna aus. Sie konnte ihrer Mutter ja schlecht sagen, dass sie darüber nachdachte, Cord beim Filmen assistieren zu wollen, um so mehr über die Vermarktung von Pornofilmen zu erfahren. Ihre Mutter dachte ja ohnehin, dass Cord und sie ein Paar waren, und Hanna ließ sie in dem Glauben. Doch sie spürte, dass sie der Mutter möglichst bald die Wahrheit würde sagen wollen. Denn es gab schon genug Lügen in ihrer beider Leben, und sie wollte nicht in die gleiche Schublade gehören wie ihr Vater. Nur, wie sie ihrer Mutter die Pornosache erklären sollte, das wusste sie im Moment wirklich noch nicht.

»Klaus, hättest du noch Zeit für mich?«, fragte Maria den Anwalt, als sie ihn erreichten, und wandte sich dann wieder an Hanna. »Wenn du einverstanden bist, würden wir dich dann einfach bei der Wohnung absetzen, und ich würde dann noch mit Klaus in die Kanzlei fahren.« Sie sah wieder zum Anwalt. »Also, wenn es bei dir zeitlich passt und dir recht wäre?«

»Sicher«, stimmte er zu. »Ich habe heute keine Termine mehr im Kalender.«

»Von mir aus«, antwortete Hanna. »Kein Problem.«

»Gut«, entschied Maria. »Dann machen wir es so. Denn ich möchte gleich heute noch einiges klären.«

»Und was?«, fragte Hanna und sah die Mutter an. Sie schien ihr so derart entschlossen, dass es Hanna fast ein wenig bang wurde.

»Das erzähle ich dir am besten heute Abend«, wich nun Maria aus. »Oder am Wochenende.« Sie deutete zur Senioreneinrichtung. »Wenn es noch einen letzten Funken gebraucht hat, um mich wachzurütteln, dann ist dieser nun endgültig übergesprungen.«

Sie stiegen in Klaus Auto, der zunächst Hanna zurück zur Wohnung in der Holsteinischen Straße brachte. Dort verabschiedete sie sich von den beiden, die direkt weiterfuhren. Hanna sah ihnen noch kurz nach. Sie erkannte ihre Mutter wirklich kaum wieder. Aber das Gefühl des Aufbruchs, das sie nun schon einige Tage wahrnahm, war nun so deutlich und klar, dass Hanna sich darauf freute, was als Nächstes geschah. Und irgendwie gewann sie hierdurch auch noch mehr Mut, ihren eigenen Weg mit großer Entschlossenheit voranzubringen. Vielleicht würde ihre Mutter ihre Entscheidung nicht verstehen, das mochte sein. Doch ein Gefühl sagte Hanna, dass sie es dennoch akzeptieren würde. Es gab also keinen Grund mehr, auch nur einen Augenblick zu warten.