Meine Mutter hat früher immer gesagt, dass der Herrgott einem Menschen stets nur die Last auf die Schultern legt, die dieser auch tragen kann. Wenn dem wirklich so ist, überschätzt der Herrgott meine Kräfte gewaltig.
MARIA BORCHARDT
Das konnte doch alles nicht wahr sein! Seit am Sonntag die Polizei auf der Suche nach Holger ihre Wohnung gestürmt hatte, war das fragile Kartenhaus, das sie sich gerade nach und nach und überaus mühsam wieder aufbaute, erneut in sich zusammengebrochen und Maria seither ein reines Nervenbündel. Zu dem Zeitpunkt, als die Polizei gekommen war, hatte sie noch gar nicht gewusst, dass Gerhard Lohmüller, der Bankier, mit dem Hanns über viele Jahre Geschäfte gemacht hatte, in seinem Haus überfallen worden und bei einem missglückten Entführungsversuch angeschossen worden war. Gestern hatte sie nun in den Nachrichten gehört, dass Gerhard Lohmüller im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen war, und die Verantwortung an diesem Überfall sollte den polizeilichen Erkenntnissen nach ihr Sohn Holger tragen. Maria konnte es nicht fassen.
Sie hatte an einen Irrtum geglaubt, an eine Verwechslung. Es war das gleiche absurde Gefühl gewesen, das sie auch am Heiligabend gehabt hatte, als es klingelte und die Polizei vor der Tür ihrer Villa stand. Tatsächlich war es genauso gewesen, fast wie ein Déjà-vu, nur dass sich ihre Wohnsituation seither verändert hatte. Das war alles.
Als die Sondereinheit des Staatsschutzes ihr dann mitgeteilt hatte, auf der Suche nach Holger zu sein, der mindestens als Sympathisant der RAF galt, womöglich sogar als Mitglied, hatte Maria auch noch das letzte bisschen Glauben an die Menschen verloren, die über Jahrzehnte ihr gesamtes Leben gewesen waren.
Holger ein Terrorist – das konnte nicht sein. Es konnte nicht, und es durfte nicht sein. Wie denn auch? Holger würde doch nun wirklich keiner Fliege etwas zuleide tun. Er war ein engagierter junger Mann, und ohne Frage hatte er seinen Vater und den kapitalistischen Lebensstil, den dieser pflegte, zutiefst verachtet. Aber deshalb schoss man doch nicht auf Menschen!
Der Mann vom Staatsschutz, dieser Achim Hellwig, der mit ihr und Hanna gesprochen hatte, schien Maria ein vernünftiger Mann zu sein, der ihr sehr klar die Optionen aufgezeigt hatte, die Holger seiner Meinung nach zur Verfügung standen. Und Maria hätte an Holgers Stelle nur zu gern eine der Optionen angenommen. Doch was nützte es, wie sie die Sache sah oder welche ihre Überzeugungen waren? Sie hatte Holger seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen, und von einer Zugehörigkeit zur RAF wusste sie nicht das Geringste, konnte es sich auch nicht vorstellen. Doch die Aussage von Jutta Tschierschke, der Haushälterin Gerhard Lohmüllers, ließ offenbar keinen Zweifel zu, dass Holger den beiden anderen, einer Frau und einem Mann, den Zutritt zum Hause Lohmüllers ermöglicht hatte, was diesem schließlich zum Verhängnis geworden war.
Am liebsten hätte Maria sich selbst mit Jutta Tschierschke unterhalten und sich von dieser schildern lassen, was wirklich geschehen war. Doch sie traute sich nicht, im Hause Gerhard Lohmüllers anzurufen und erst recht nicht, dort vorstellig zu werden. Der Name Borchardt konnte da ja nur für geballtes Unglück stehen, erst durch Hanns’ Pleite, die Gerhard Lohmüller und dessen Bank in massive Schwierigkeiten gebracht hatte, und nun war sogar ein Mitglied der Familie für dessen Tod verantwortlich. Das war auch für Maria weit mehr, als sie verkraften konnte.
Sie hatte seit Sonntag kaum geschlafen, war nun wieder zittrig und gereizt und schreckte bei jedem Geräusch zusammen. Heute Morgen war sie sogar mit Hanna aneinandergeraten, weil sie das Gefühl hatte, dass diese mehr wusste, als sie sagte, und nur ihren Bruder nicht verraten wollte. Doch wahrscheinlich bildete Maria sich das ein, wie sie inzwischen immer und überall Lug und Trug witterte und kaum mehr klar denken konnte. Ja, sie war zu weit gegangen, als sie die Fassung verloren hatte und Hanna beschuldigte, sie doch gewiss auch zu belügen, wie es schließlich offenbar alle in dieser Familie taten. Ihr hatte die Bemerkung augenblicklich leidgetan, und sie hatte eilig eine Entschuldigung hervorgebracht, doch die hatte Hanna wahrscheinlich schon nicht mehr hören können, weil sie sich wutentbrannt ihre Jacke geschnappt und die Wohnung verlassen hatte. Wenn sie nur irgendetwas tun könnte! Sie hatte mit Klaus gesprochen, der über das, was sich bei Gerhard Lohmüller zugetragen hatte, ebenso schockiert gewesen war wie Maria selbst. Er hatte schließlich angeboten, sich bei den Kollegen, die dafür bekannt waren, linke Kreise zu vertreten, nach Holger zu erkundigen. Doch bisher waren Klaus’ Bemühungen ohne Erfolg geblieben. Entweder es wusste wirklich niemand, wo Holger war, oder aber man sagte es ihr nur nicht. Im Ergebnis war es für Maria ein und dasselbe.
Sie bangte um das Leben ihres Sohnes, fürchtete jeden Augenblick die Nachricht zu erhalten, dass Holger aufgegriffen und bei einem Fluchtversuch von der Polizei erschossen worden war.
Noch bis Sonntagmittag hatte Maria das Gefühl gehabt, endlich ihr Leben wieder wirklich in den Griff zu bekommen, und war geradezu beflügelt gewesen nach dem, was sich im Savoy zugetragen hatte. Sie hatte wieder neuen Mut gefasst, fühlte sich seit Langem wieder stabil und war geradezu dankbar dafür, dass Klaus sie zum Essen eingeladen hatte und sie somit gezwungen gewesen war, sich der überaus unangenehmen Situation zu stellen. Sie hatte am Freitag noch bis in die frühen Abendstunden zusammen mit Klaus in dessen Büro gesessen und war mit ihm anhand der Unterlagen und Aktenordner, die von der Staatsanwaltschaft bereits zurückgegeben worden waren, alles durchgegangen, was irgendwie von Bedeutung zu sein schien. Am frühen Abend hatte Klaus sie dann zu Uschi gefahren, die wie versprochen den Autoschlüssel bei ihrer Haushälterin hinterlegt hatte. Es hatte sich für Maria wie ein weiteres Stück zurückgewonnener Freiheit angefühlt, als sie mit dem Auto zur Wohnung gefahren war und es vor dieser abgestellt hatte in dem Wissen, für die nächste Zeit in mobiler Hinsicht weder auf Klaus noch auf irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Am Sonnabend dann hatte sie einige Sachen aus dem Lagerraum geholt, in dem sie einen Großteil ihrer exklusiven Garderobe aufbewahrte und war noch am selben Tag von Pontius zu Pilatus gefahren, um schließlich nicht nur einen, sondern sogar zwei Pelzmäntel zu einem höheren Preis zu verkaufen, als sie es sich erhofft hatte. Danach war sie in die Wohnung zurückgekehrt und hatte Klaus angerufen, um diesen für den Abend zum Essen einzuladen, doch er war nicht rangegangen und hatte auf ihre Nachricht, die sie auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, nicht reagiert. Maria war tatsächlich ein wenig enttäuscht gewesen. Andererseits, so hatte sie sich gesagt, investierte der Rechtsanwalt schon so viel Zeit in sie und ihre Angelegenheiten, dass es an eine Unverschämtheit ihrerseits grenzte, überhaupt so etwas wie ein Gefühl der Enttäuschung aufkommen zu lassen, wenn Klaus mal etwas anderes vorhatte. Immerhin war er ja nicht nur Rechtsanwalt, sondern auch ein Mann, der noch dazu gut aussah und bestimmt keine Schwierigkeiten hatte, die eine oder andere Damenbekanntschaft zu machen. Maria gönnte es ihm, wenngleich sie zugeben musste, dass sie bei dem Gedanken so etwas wie Eifersucht verspürte, was natürlich vollkommener Unsinn war. Sie hatte nun wirklich kein Recht dazu, nur weil Klaus so viel Zeit mit ihr verbrachte und ihr mit Rat und Tat und sogar finanziell zur Seite stand. Er war wahrscheinlich einfach zu freundlich zu ihr gewesen, sodass sie irgendwie ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hatte, das jeder Grundlage entbehrte. Vermutlich hatte Klaus deshalb nicht zurückgerufen, weil er ihr deutlich machen wollte, dass er eben auch noch so etwas wie ein Privatleben hatte. Und darin kam Maria nun einmal nicht vor.
Am Sonntag hatte sie einen Teil des Geldes genommen, das sie mit dem Verkauf ihrer Mäntel hatte erzielen können, und war nach Frohnau gefahren, um einerseits ihre Schwiegermutter zu besuchen und andererseits die aufgelaufenen Kosten in bar zu bezahlen. Die Einrichtungsleiterin hatte sich ebenso überrascht wie erfreut gezeigt, ihr eine Quittung ausgestellt und sich bedankt, dass nach dem Hickhack der letzten Monate nun endlich wieder Ordnung in die ganze Angelegenheit kam.
Dann war Maria zu Gertrud hinaufgegangen, und die beiden Frauen hatten sich entschlossen, gemeinsam eine Runde in dem angrenzenden Park zu drehen. Doch schon als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hielt, hatten sie es sich anders überlegt, und so waren sie ins Auto gestiegen und Richtung Innenstadt gefahren. Dort hatten sie sich in ein Café gesetzt, sich Kaffee und Kuchen bestellt und mehr als vier Stunden lang geplaudert. Es war einfach herrlich gewesen. Maria hatte von Gertrud so viele Geschichten und Anekdoten über Hanns und dessen Leben erfahren, dass Maria ein wenig von der Bitterkeit genommen wurde, die sie seit dessen Freitod mit sich herumtrug.
Im Gegenzug hatte sie Gertrud aus ihrem und Hanns’ Leben mit den Kindern erzählt, hatte über die kleinen Dinge des Alltags gesprochen, die sie in der Kindheit Holgers und Hannas erlebt hatten und nur ganz am Ende des Gesprächs einen kurzen Einblick gegeben, wie Hanns sich im Laufe der Jahre verändert hatte. Obwohl es ihr schwergefallen war, hatte sie dann Uschis Wagen auf dem Rückweg zur Koenigsallee gelenkt und war das erste Mal seit ihrem Auszug bei der alten Villa vorbeigefahren, in der sie mit Hanns und den Kindern so viele Jahre gelebt hatte.
Maria hatte sich zusammenreißen müssen und die Tränen hinuntergeschluckt, die in ihr aufgestiegen waren, als sie am verschlossenen Eingangstor zur Villa gestanden und ihre Hände an die Gitterstäbe gelegt hatte, die im wahrsten Sinne des Wortes eisern den Zugang zum Grundstück verwehrten. Gertrud hatte neben ihr gestanden und den Arm um sie gelegt, während Maria ihr schilderte, wie die Villa eingerichtet gewesen war und welch wunderbare Erinnerungen an besondere Ereignisse für immer dort innerhalb der Mauern des Gebäudes bleiben würden.
Anschließend hatte sie Gertrud zurück zur Seniorenresidenz gebracht, sie noch bis zu deren Zimmer begleitet und war dann schließlich nach Hause gefahren.
Hanna war bereits dort gewesen, und kaum dass sie etwa eine halbe Stunde in der Küche zusammengesessen hatten, hatte es geläutet, und die Polizei war in ihre Wohnung gestürmt. Und von diesem Moment an war das, was sie sich in den letzten Tagen so mühsam an Selbstvertrauen, Hoffnung und Mut zurückerobert hatte, komplett wieder zerstört worden. Es war einfach zum Heulen.
Das Telefon klingelte, und Maria zuckte zusammen, sprang auf und nahm sofort ab.
»Ja, hallo? Borchardt?«
Zunächst herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, und mit aller Macht wurde Maria in die Erinnerung an den 24. Dezember des letzten Jahres zurückgeschleudert, als es genauso gewesen war.
»Hallo? Holger, bist du es? Sag doch was!«
Ein Räuspern war zu vernehmen. »Guten Tag, Frau Borchardt, Achim Hellwig hier«, hörte sie nun die Stimme des Mannes vom Staatsschutz sagen. »Ich wollte fragen, ob Ihr Sohn sich bei Ihnen gemeldet hat. Aber so, wie Sie klingen, offenbar nicht, oder?«
»Nein«, stieß Maria gequält hervor. »Er hat sich nicht gemeldet.« Sie spürte, wie die Verzweiflung in ihr aufstieg.
»Hm«, setzte Hellwig an. »Haben Sie bereits davon erfahren? Gerhard Lohmüller ist gestern im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen.«
Maria hatte alle Mühe, sich zusammenzureißen. »Ja«, brachte sie stockend hervor, »ich habe es in den Nachrichten gehört.« Sie schluckte schwer. »Es tut mir so leid.«
»Ich glaube Ihnen, dass Sie nichts von Ihrem Sohn gehört haben, Frau Borchardt. Aber wie verhält es sich mit Ihrer Tochter. Könnten Sie sich vorstellen, dass sie Kontakt zu ihrem Bruder hat?«
»Wir haben darüber gesprochen, Herr Hellwig. Hanna hat Holger ebenso lange nicht gesehen wie ich.«
»Und telefoniert?«, hakte der Beamte nach.
»Auch nicht. Wir haben ja gar keine Nummer von Holger. Ich wusste ja nicht mal, dass er nicht mehr bei seinem Freund Thomas wohnt«, führte sie weiter aus. »Und Hanna geht es genauso.«
»Und da sind Sie sicher?« Es klang zweifelnd.
»Da bin ich sicher, ja«, beharrte Maria. »Wenn ich auch nur ahnen würde, wo Holger zu finden ist, würde ich alles daransetzen, mit ihm zu sprechen. Das schwöre ich Ihnen.«
»Das glaube ich. Doch es ist immens wichtig, dass wir Kontakt zu Ihrem Sohn bekommen, Frau Borchardt. Wie ich Ihnen schon sagte: Ich kann Ihrem Sohn nur dann helfen, wenn er uns hilft. Er gehört doch gar nicht zu denen. Und die Haushälterin von Herrn Lohmüller hat bestätigt, dass Holger auch vollkommen überrascht wirkte und gegen die anderen beiden aufbegehrt hat. Und er war es auch nicht, der geschossen hat, sondern die Frau. Die diesbezüglichen Aussagen des Wachmannes und auch der Haushälterin waren eindeutig. Wenn wir also die Gelegenheit bekämen, mit Ihrem Sohn in Kontakt zu treten, könnte für ihn noch immer alles glimpflich ausgehen«, erklärte er eindringlich.
Maria konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Ich sage es Ihnen doch, Herr Hellwig. Wenn ich wüsste, wo er ist, würde ich es sagen. Ich habe schreckliche Angst, dass die Polizei die Leute, mit denen er zusammen ist, aufspürt und Holger hierbei verletzt werden könnte.«
Eine kurze Pause entstand.
»Ich glaube Ihnen, Frau Borchardt«, beteuerte der Beamte dann erneut. »Nun denn, Sie haben ja meine Privatnummer. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie etwas von ihm hören.«
»Das werde ich, Herr Hellwig«, versprach sie.
»Ach, und eines noch, Frau Borchardt. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber dennoch Ihnen gegenüber mit offenen Karten spielen«, fügte er hinzu. »Wenn noch weitere Anschläge dieser Leute folgen sollten, mit denen Ihr Sohn sich derzeit umgibt, wird ihm auch all das zur Last gelegt und in einem späteren Prozess gegen ihn vorgebracht werden. Erst Siegfried Buback, nun Gerhard Lohmüller. Sie werden verstehen, dass wir mit aller Härte vorgehen müssen, um weitere Verbrechen zu verhindern. Sofern es denn hierzu noch kommt.«
Maria schnürte es die Kehle zu. »Mir ist vollkommen klar, dass Sie mit Ihren Äußerungen den Druck auf mich erhöhen wollen, Herr Hellwig«, entgegnete sie und spürte, dass sich ihre Verzweiflung in Wut wandelte. »Doch das ist vollkommen unnötig.« Sie wurde lauter. »Ich habe nichts von meinem Sohn gehört! Und ich traue mich kaum mehr, die Wohnung zu verlassen, weil ich so sehr hoffe, dass er womöglich doch noch anruft oder hier vorbeikommt. Ihre versteckten Drohungen können Sie sich also getrost sparen, hören Sie?«
»Ich bitte um Verzeihung«, antwortete der Beamte. »Ich wollte nicht …«
»Doch, wollten Sie«, widersprach Maria heftig. »Und ich verstehe das auch. Aber es nützt nichts, solange Holger sich nicht meldet.«
»Sie haben recht«, räumte er ein. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Borchardt. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«
»Guten Abend, Herr Hellwig.« Maria knallte den Hörer auf und schlug die Hände vors Gesicht.
»Gibt’s was Neues?«, hörte sie plötzlich Hannas Stimme hinter sich und zuckte erneut zusammen.
»Hast du mich erschreckt«, gab Maria zurück. »Ich habe dich nicht reinkommen hören.«
»Wer war das?«, fragte Hanna und zeigte auf das Telefon, ohne auf die Bemerkung ihrer Mutter einzugehen.
»Dieser Beamte des Staatsschutzes, Achim Hellwig. Er wollte wissen, ob Holger sich gemeldet hat.«
»Und? Hat er?«
Maria legte den Kopf schräg. »Denkst du nicht, dass ich dir das sogleich gesagt hätte?« Sie ging hinüber zum Sofa und ließ sich schwer darauf plumpsen. »Nein.« Sie sah zu Hanna hinauf, die noch immer stand. »Er hat sich nicht gemeldet. Nicht mit einem Wort.«
»Glaubst du, dass ihm etwas passiert ist?«, fragte Hanna.
»Ich weiß es nicht«, gab Maria zur Antwort. »Mir gehen die wildesten Gedanken durch den Kopf. Immer wieder stelle ich mir vor, dass er vielleicht von diesen Leuten gezwungen wurde oder man ihm womöglich gedroht hat, uns etwas anzutun, wenn er sich nicht fügt. Und nun, wo sie ihn nicht mehr brauchen, könnten sie …« Maria brach ab und schlug erneut die Hände vors Gesicht.
Hanna setzte sich neben sie, strich tröstend über ihren Rücken.
»Sie haben ihn nicht gezwungen, Mama«, sagte Hanna traurig, worauf Maria ihre Hände sinken ließ und die Tochter ansah.
»Wie willst du das wissen?«
»Holger hat eine Freundin, Monika«, begann sie nun zu erklären. »Sie ist Mitglied der RAF .«
»Was? Und das hast du gewusst und mir nichts davon gesagt?«
Hanna seufzte. »Was hätte es denn gebracht? Du wärst doch ausgeflippt und hättest Holger bestimmt zur Rede gestellt.«
»Natürlich hätte ich das«, bestätigte Maria. »Und zwar zu Recht. Du siehst doch jetzt, in was er sich da hineinmanövriert hat.«
Hanna nickte traurig. »Ich weiß, ich hätte es dir sagen müssen. Aber du hattest doch selbst so viele Sorgen und warst so am Boden.« Hanna schüttelte den Kopf. »Ich hätte es tun sollen. Doch ich wusste nicht, wie.«
Maria wollte die Tochter zurechtweisen, doch sie nahm sich zurück. Es nützte niemanden, wenn sie Hanna nun schimpfte und erneut mit ihr in Streit geriet. Also sah sie Hanna nur an.
»Jetzt bist du sauer auf mich«, stellte Hanna fest. »Und das verstehe ich auch. Ich weiß ja, dass es nicht richtig von mir war.« Sie berührte Marias Arm. »Sag doch was, Mama, bitte.«
»Ich bin nicht sauer auf dich, Hanna. Ich bin einfach enttäuscht, was aus uns geworden ist. Wir als Familie haben einander doch mal vertraut. Wir waren doch füreinander da, haben zusammengehalten. Und nun ist nichts mehr wie früher. Jeder hat irgendwelche Geheimnisse und belügt die anderen. Ich kann das einfach nicht mehr aushalten.«
Hanna umarmte sie und drückte sie an sich. »Bitte Mama, es wird bestimmt alles wieder gut.«
Maria blicke sie an und schüttelte den Kopf. »Nein, Hanna, es wird nicht wieder gut. Das, was Holger getan hat, kann niemals wieder gut werden. Ob er nun selbst abgedrückt hat oder nicht. Ein Mensch ist tot. Gerhard Lohmüller ist an der Schussverletzung gestorben, und das kann nichts und niemand mehr ändern.«
»Aber wenn er selbst es gar nicht war und auch nicht wirklich wusste …«
»Dann ändert das nichts daran, dass er mit diesen Leuten dort war. Es gibt Dinge, die werden nicht wieder gut, nur weil wir es wollen, Hanna. Egal, wie man es dreht und wendet, und selbst wenn Holger nur eine geringe Strafe erhält: Er wird damit leben müssen, einen Anteil daran gehabt zu haben, dass ein Mensch gestorben ist. Ich kann mir keine größere Last im Leben vorstellen.«
Eine Weile schwiegen die beiden, dann umfasste Hanna ihre Hand.
»Wegen heute Morgen«, begann sie nun.
»Es tut mir leid, Hanna. Ich hätte dich nicht so angehen sollen. Bitte entschuldige«, sagte Maria sofort.
»Du hattest recht«, meinte Hanna nun zu Marias Überraschung.
»Recht womit?«
»Mit den vielen Lügen. Ich habe dich auch belogen, Mama.«
»Du meinst wegen Holger?«
»Das auch. Doch da ist noch was«, kündigte Hanna an.
Maria schloss kurz die Augen. »Bitte, Hanna, spann mich nicht lange auf die Folter. Sag mir geradeheraus, was es ist. Ist es etwas Illegales? Bist du auch in irgend so einer Gruppe?« Maria hatte das Gefühl, dass ihr Herz krampfte. Sie spürte eine große Erleichterung, als Hanna lächelnd den Kopf schüttelte, offenbar amüsiert, dass ihre Mutter gleich das Schlimmste befürchtete.
»Nein, überhaupt nichts in der Art«, antwortete Hanna, worauf Maria erleichtert ausatmete.
»Sondern?«
»Ich habe dir doch von dem Freund erzählt, mit dem ich öfter Zeit verbringe. Cord.«
»Ja«, sagte Maria. »O Gott!«, entfuhr es ihr dann. »Bist du schwanger?«
Hanna verdrehte die Augen. »Nein, ich bin nicht schwanger, Mama«, gab sie etwas genervt zurück.
»Was ist es dann?«
»Nun ja, Cord hat einen etwas ungewöhnlichen Job, weißt du?«
»Wieso? Was macht er denn?«
»Er …«, Hanna zögerte, »er … ich weiß echt nicht, wie ich es dir sagen soll?«
»Ist es etwas Illegales? Ist er so eine Art Gangster oder so etwas?«
»Nein, Mama, er dreht Aufklärungsfilme.«
Maria sah Hanna völlig perplex an. »Wie? Er dreht Aufklärungsfilme?«
»So, wie ich es gesagt habe, er dreht Aufklärungsfilme«, erwiderte Hanna. »Oder anders ausgedrückt: Pornos.«
»Du meinst, er hat Sex mit Frauen und lässt sich dabei filmen?«
»Äh, ne, er ist der Regisseur und Produzent. Also er hat keinen Sex, sondern gibt Anweisungen.«
»Aha«, meinte Maria, die nicht recht wusste, was sie dazu sagen sollte.
»Und?«, fragte Hanna nun. »Was denkst du darüber?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich meine, ist das wirklich ein Beruf? Verdient man Geld mit so was?« Maria hatte zwar davon gehört, dass die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle sich großer Beliebtheit erfreuten oder besser, erfreut hatten, denn Maria meinte, dass diese Phase schon wieder vorbei sei. Sie selbst hatte nie einen derartigen Film gesehen und war auch nicht neugierig darauf gewesen, einfach weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass es sie nicht betraf. Als diese Filme in die Öffentlichkeit kamen, war sie schon verheiratet und zweifache Mutter gewesen. Für sie war Aufklärung eher ein Thema für junge Leute, die noch keinen Sex gehabt hatten und sozusagen lernen wollten, wie so etwas ging. Natürlich war ihr klar, dass auch eine gehörige Portion Voyeurismus mit hineinspielte, wenn man sich solche Filme ansah und es eben nicht nur darum ging herauszufinden, wie Sex überhaupt funktionierte. Doch es war eben eine andere Welt. Sie hatte auch nie etwas mit Drogen oder solchen Dingen zu tun gehabt. Plötzlich kam ihr ein Verdacht.
»Spielst du etwa auch in diesen Filmen mit?«, fragte sie erschrocken, weil ihr der Gedanke, dass ihre Tochter sich mit diversen Männern abgab, vollkommen widerstrebte.
»Nein«, antwortete Hanna sofort, was Maria ein wenig aufatmen ließ. »Obwohl ich darüber nachgedacht habe«, fügte die Tochter dann hinzu, worauf Maria sie überrascht ansah.
»Warum? Ich meine, um Geld zu verdienen oder wie?« Maria lief es kalt über den Rücken.
»Auch, klar. Aber vor allem aus Neugierde«, antwortete Hanna und zuckte mit den Schultern. »Aber keine Sorge, ich glaube, das ist nichts für mich.«
Maria atmete geräuschvoll aus. »Gut«, sagte sie nur.
»Doch ich würde gern das Gleiche machen wie Cord«, verkündete Hanna dann.
»Du willst was?« Maria glaubte, sich verhört zu haben.
»Ich möchte Aufklärungsfilme drehen«, gab Hanna nun mit Selbstbewusstsein in der Stimme zu. »Ich war schon einige Male bei den Dreharbeiten dabei, und ich finde es doof, dass immer so getan wird, dass die Frau sozusagen das Opfer ist und«, sie deutete mit den Fingern Gänsefüßchen an, »zu ihrem Glück gezwungen oder zumindest überredet werden muss. Das ist doch Quatsch.«
Maria saß mit offenem Mund da. Sie fühlte sich überaus unwohl, fand sie es doch alles andere als natürlich, mit ihrer Tochter über Sex zu sprechen. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der man mit seinem Mann schlief, weil es eben zu einer Ehe dazugehörte.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll«, brachte sie etwas verlegen hervor.
Hanna sah sie an. »Ich kann mit dir nicht darüber reden, richtig?«
Maria erwiderte den Blick. »Doch«, stellte sie dann entschieden fest, »du kannst mit mir darüber reden.« Maria lächelte. »Es ist nur das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich mit jemanden über das Thema unterhalte. Ich gehöre einer Generation an … wie soll ich sagen …?« Maria suchte nach den richtigen Worten.
»Es ist Dienstag. Zieh dein gutes Nachthemd an und leg dich schon mal hin?«, schlug Hanna schalkhaft vor.
Maria sah die Tochter entrüstet an, dann musste sie loslachen. »Ja, genau so. Zieh dein gutes Nachthemd an und leg dich schon mal hin!«
Hanna stimmte in das Lachen ein. »O Mann, Mama, die Zeiten sind zum Glück echt vorbei«, gab Hanna zurück.
»Ich glaube, du hast mehr Erfahrungen als ich«, mutmaßte Maria und musste noch immer über den Satz schmunzeln.
»Wir wollen ja künftig ganz offen und ehrlich miteinander sein, Mama«, fuhr Hanna fort. »Also ja, ich glaube auch, dass ich mehr Erfahrungen habe als du. Ich habe total Lust, mich auszuprobieren. Für mich ist Sex keine Sache, die bei ausgeschaltetem Licht im Ehebett passiert, sondern etwas, worauf man Lust hat und es dann einfach macht. So wie man ein Erdbeereis genießt. Ich brauche es nicht, um mich zu ernähren, aber ich habe Lust, es zu essen.«
»Ich glaube, ich werde rot«, meinte Maria und legte kurz in einer verschämten Geste die Hand vor den Mund. »Wenn ich künftig jemanden ein Erdbeereis essen sehe, muss ich bestimmt an dieses Beispiel denken.«
Nun war es Hanna, die herzlich lachte. »Du bist echt viel zu verklemmt, Mama. Hast du überhaupt jemals mit einem anderen Mann Sex gehabt, als mit Papa?«
Maria schüttelte den Kopf. »Das war damals so«, erklärte sie entschuldigend.
»Na ja, wie wir beide wissen, hat er es nicht so gehandhabt.«
»Wie sagtest du letztes Mal so schön?«, erinnerte Maria die Tochter. »Weil er ein Mistkerl war.«
»Ganz genau«, stimmte Hanna zu.
»Aber um auf diese Filmerei zurückzukommen«, kam Maria nun auf das ursprüngliche Thema zurück, »wie muss ich mir das vorstellen? Cord sagt: ›Legt los!‹, und dann haben die Leute Sex?«
»Na ja, ganz so nun auch nicht. Aber im Grunde trifft es das, ja.«
»Und das geht?«, fragte Maria überrascht. »Ich meine, du weißt schon …«
Hanna lachte. »Mensch, Mama, sei doch nicht so prüde. Natürlich muss der Mann erst einen Ständer habe, eine Latte, einen Steifen, nenn es, wie du willst.« Wieder lachte sie auf. »Jetzt bist du tatsächlich rot geworden«, stellte sie fest, worauf auch Maria losprusten musste.
»Ich bin fünfzig Jahre und muss mir von meiner Tochter die saloppen Begriffe für eine Erektion um die Ohren hauen lassen. Na wunderbar!« Wieder lachte sie, was ihr nach den letzten Tagen des ständigen Angespanntseins unglaublich guttat.
»Und das willst du jetzt auch machen? Also willst du Cord dabei unterstützen?«, fragte Maria.
»Ne, eben nicht.« Hanna wiegte den Kopf. »Und vermutlich wird er nicht gerade begeistert davon sein. Aber ich möchte gern was Eigenes auf die Beine stellen.«
»Wie meinst du das?«
»Na, ganz einfach. Ich möchte mir eine Kamera kaufen und auch Beleuchtungsequipment und solche Sachen und dann eigene Filme drehen. Denn weißt du, was mich stört?«, fragte Hanna, sprach aber sogleich weiter. »Das, was ich vorhin schon sagte. Diese Filme stellen die Frauen immer irgendwie als willenlos dar. Der Mann bestimmt und dreht die Frau in die Position, in der er sie haben will. Aber so ist es doch nicht.«
»Verzeihe einer unerfahrenen Frau«, bat Maria, »aber wie ist es denn deiner Meinung nach?«
»Na, wir Frauen empfinden doch auch etwas. Wir wollen etwas, wollen was fühlen und unseren Spaß haben. Nicht nur der Mann.«
Maria kam sich albern vor, hatte sie doch in diesem Moment das Gefühl, ertappt worden zu sein. Sie musste ihren Mut zusammennehmen, bevor sie hervorstieß: »Schön wär’s.«
Hanna sah sie fast mitleidig an. »Hattest du denn wirklich nie Spaß? Ich meine, war da nicht irgendein Wunsch, den du hattest und den du Papa mitgeteilt hast? Hast du ihm jemals gezeigt, was du willst und schön findest?«
Maria senkte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, als schnürte sich ihr Brustkorb zu. »Ehrlich gesagt, nein.« Sie sah Hanna wieder an. »Das war niemals ein Thema in unserer Ehe.«
Hanna musterte sie, dann umarmte sie ihre Mutter. »Das tut mir echt total leid.« Sie löste sich wieder von Maria, suchte erneut ihren Blick. »Siehst du?«, meinte sie nun. »Genau deshalb sollten Filme gemacht werden, die das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zeigen. Aus dem Blickwinkel der Frau, nicht dem des Mannes.«
Maria schwieg kurz. »Weißt du eigentlich, wie unglaublich stolz ich auf dich bin?«, sagte sie dann.
Hanna stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. »Weil ich Pornofilme produzieren möchte?«, hakte sie nach und hob die Augenbrauen.
»Weil du dir Gedanken um Dinge machst, die mir nie gekommen wären. Du scherst dich nicht darum, was die anderen denken oder sagen, und machst das, was du für richtig hältst. Du stehst für eine Generation moderner Frauen, die nicht bereit ist, sich einem Mann unterzuordnen. Das bewundere ich sehr.«
»Danke, Mama.« Hanna musste sichtlich schlucken. »Das bedeutet mir echt total viel.«
Nun war es Maria, die die Tochter umarmte. »Kann ich dir irgendwie helfen bei dem, was du vorhast? Du sagtest eben, du möchtest eine Kamera anschaffen?«
»Ja, von dem Geld, das du mir und Holger damals gegeben hast. Also, wenn das für dich okay ist? Ich dachte, da du jetzt deinen Schmuck und deine Pelze verkaufst und so zu Geld kommst …«
»Und endlich aufhöre, nur von dem zu leben, was du bis vor Kurzem durch die Ausbildung deiner Tochter an Einkommen hattest«, vollendete Maria den Satz.
»So habe ich das echt nicht gesehen. Du hast auch immer alles für mich getan, für mich und Holger. Ich fand das selbstverständlich, dass wir das so geregelt haben.«
»Ja, ich weiß. Doch es war ein elendiges Gefühl für mich, und ich kann nicht mehr verstehen, warum ich es zugelassen habe«, erkannte Maria nun. »Weißt du, seit Sonntag, seit die Polizei hier hereingestürmt ist und wir das mit Holger erfahren haben, bin ich wieder genau in das alte Muster zurückgefallen. Doch unser Gespräch hier hat mir gezeigt, dass ich das nicht darf. Ich darf nicht, und ich will auch nicht. Zwar mache ich mir entsetzliche Sorgen um Holger, doch ich weiß auch, dass es nichts ändert, ob ich hier sitze und verzweifele oder aber versuche, mein Leben zu leben. Und du«, sie tippte der Tochter mit dem Zeigefinger gegen die Brust, »musst erst recht deinen eigenen Weg gehen.«
»Ich finde es irre, dass du dich echt so lange von Papa hast unterbuttern lassen«, meinte Hanna und nickte. »Ich glaube, der würde vor Schreck umfallen, wenn er dich jetzt so sehen könnte.«
»Ich habe das alles viel zu lange mit mir machen lassen und vieles auch nur ausgesessen.« Maria schüttelte den Kopf. »Doch damit ist Schluss.« Sie lächelte bei der Erinnerung an letzten Freitag. »Weißt du, was ich mir im Savoy geleistet habe?«
»Nein. Ich wusste nicht mal, dass du da warst«, gab Hanna zur Antwort.
»Klaus hat mich eingeladen«, erklärte Maria und berichtete der Tochter dann von dem Zusammentreffen mit Cornelia und davon, wie sie aufgestanden war und was sie gesagt hatte.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend ich war. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, was ich mich da getraut habe, zittern mir jetzt noch die Knie.«
Hanna sah sie mit offenem Mund an. »Wow!«, stellte sie anerkennend fest. »Hallo, fremde Frau, wo haben Sie denn meine Mutter gelassen?«
»Verrückt, oder?« Maria legte kurz die Hand vor den Mund, dann sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, woher ich den Mut dazu genommen habe.«
Hanna kicherte. »Was hat Klaus gesagt?«
»Hm, irgendwas in der Art, dass es richtig war oder an der Zeit oder so etwas. Ich war so voller Adrenalin, dass ich gar nicht richtig zugehört habe.«
»Wo du ihn gerade erwähnst«, meinte Hanna nun. »Geht da eigentlich was zwischen euch?«
»Zwischen Klaus und mir? Aber nein, wo denkst du hin. Wir sind nur Freunde.«
Hanna schüttelte den Kopf. »Und du bist sicher, dass er das auch so sieht?«
»Ja, bin ich. Ich habe ihm am Sonnabend auf den Anrufbeantworter gesprochen und ihn zum Essen eingeladen, doch er hat nicht zurückgerufen. Er hatte wohl eine andere Verabredung.«
Hanna zuckte die Achseln. »Na ja, mag sein. Aber wenn du mich fragst, dann fährt er voll auf dich ab.«
»Ach bitte. Das glaube ich nicht.«
»Du merkst es nur nicht, das ist alles.«
Maria kam die Szene in den Sinn, als Klaus letztens das Essen mitgebracht hatte und sie sich dann im Flur voneinander verabschiedeten. Da war tatsächlich so ein kurzer Moment gewesen, in dem sie geglaubt hatte, dass er sie küssen wollte.
»Da war unlängst so ein Moment«, gestand sie Hanna. »Es war an dem Abend, als wir hier gegessen haben und uns schließlich verabschiedeten.«
»Ja?«
»Ich dachte, er wollte mich küssen.«
»Und warum denkst du, hat er es nicht getan?«
»Ich weiß nicht.«
»Und hättest du es denn gewollt?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Ach Mama!« Hanna lachte auf. »Du bist echt ein schwieriger Fall.«
»Ja, ich fürchte auch.« Sie überlegte kurz. »Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann kommt mir in den Sinn, wie er mich angesehen hat, als ich ihm sagte, dass ich ihm keinesfalls etwas schuldig bleiben wollte für das, was er als Rechtsanwalt für mich und uns getan hat. Und dass Gleiches eben auch für die Mietzahlungen hier gilt und alles andere.« Sie sah Hanna an. »Ich glaube, da war so etwas in seinem Blick«, meinte Maria nun.
»Was?«
»Ich glaube, dass er es so aufgefasst hat, dass ich unsere Beziehung rein auf das Geschäftliche beschränken wollte. Vielleicht liege ich ja auch falsch, aber nachdem ich ihm das gesagt hatte, kam er mir verändert vor.«
»Ich finde es trotzdem richtig, dass du ihm das klargemacht hast. Wäre doch Mist, wenn du in finanzieller Hinsicht von ihm abhängig bist.«
»Das sehe ich ganz genauso. Ich glaube, ich werde bei einem unserer nächsten Treffen deutlich machen, dass ich lediglich das Finanzielle vom Privaten trennen möchte.«
»Und was könntest du dir im Privaten so vorstellen mit dem lieben Klaus?«, fragte Hanna nun und grinste.
Maria lachte auf. »Ach herrje, ich habe wirklich keine Ahnung.« Sie sah Hanna an. »Dafür muss ich mir wohl erst mal einen dieser Filme angucken, um zu lernen, wie Frauen so etwas heute machen.«
Mutter und Tochter fielen sich in die Arme. Und Maria hatte das Gefühl, dass in diesem Moment so unendlich viel von ihr abfiel. Deshalb schob sie das Bild Holgers, das ihr in diesem Augenblick in den Sinn kam, beiseite. Schritt für Schritt und Problem für Problem. Nur so würde sie alles meistern können.