11. Kapitel

Golden Paradise , Kurfürstendamm 201/202, Berlin-Charlottenburg

Mittwoch, 20. April 1977

Ich weiß, ich müsste die ganze Zeit nur in Sorge um Holger sein. Doch das bin ich nicht. Denn endlich sehe ich meinen eigenen Weg vor mir.

HANNA BORCHARDT

Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie beflügelt. Hanna hatte das Gefühl, diese total unterschätzt zu haben, und war richtig erleichtert, endlich ehrlich zu ihr gewesen zu sein. Zwar hatte sie ihr nicht davon erzählt, dass Lea und sie mehr als nur Freundinnen waren. Doch zumindest hatte sie ihrer Mutter gesagt, in sexueller Hinsicht über Erfahrungen zu verfügen, die diese nicht hatte. Somit war wenigstens ein Teil der Wahrheit ausgesprochen worden.

Vor allem aber war Hanna völlig begeistert davon, dass ihre Mutter nichts gegen ihr Vorhaben mit den Filmproduktionen hatte. Ganz im Gegenteil, hatte sie ihr ja sogar ihre Unterstützung angeboten. Es war einfach nur toll!

Beschwingt öffnete sie die Tür zum Club und begrüßte Uwe, der in unmittelbarer Nähe des Eingangs stand. Der Club hatte noch geschlossen, die ersten Gäste würden in frühestens einer Stunde kommen. Doch das Team war mit den Vorbereitungen weitestgehend fertig, sodass kaum noch etwas zu tun war, wie Uwe ihr sagte.

»Und wo ist Lea?«

»Noch oben«, antwortete Uwe. »Sie hatte noch irgendwas zu erledigen.«

»Okay, dann gehe ich zu ihr rauf«, erklärte Hanna, verabschiedete sich für den Moment und ging dann hinüber zum Nachbareingang, wo sie klingelte. Es dauerte ein wenig, bis der Türöffner gedrückt wurde und ein Surren das Signal gab, dass Hanna die Tür öffnen könnte. Als sie nach oben kam, stand Leas Wohnungstür offen, von ihr selbst war jedoch nichts zu sehen.

Hanna trat ein und hörte Leas Stimme aus dem Wohnzimmer. Als sie dorthin ging, war Lea gerade am Telefonieren, weshalb Hanna ihr mit einer Handbewegung bedeutete, in der Küche auf sie zu warten. Dann schloss sie die Tür, damit Lea weiterhin ungestört ihr Gespräch führen konnte, begab sich in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und setzte sich an den Tisch.

Sie hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, Lea auf ihr Vorhaben, ebenfalls in die Filmproduktion einzusteigen und Regie zu führen, anzusprechen. Nach der positiven Reaktion ihrer Mutter schien für Hanna nun jedoch der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, und sie war gespannt, wie Lea darauf reagieren würde.

Es dauerte noch gute zehn Minuten, die Hanna nur dasaß und wartete. Dann hörte sie, dass die Wohnzimmertür geöffnet wurde, und kurz darauf trat Lea in die Küche.

»Hallo«, sagte sie, kam zu Hanna und gab ihr einen Kuss aufs Haar, was Hanna überraschte, fand sie die Geste doch eher mütterlich.

»Hallo«, gab Hanna zurück.

»Entschuldige.« Lea setzte sich ihr gegenüber und zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe mit zu Hause telefoniert, und es zog sich ein bisschen.«

»Kein Problem. Ist denn alles in Ordnung?«, fragte Hanna, die wusste, dass Lea die Situation, dass ihre Mutter in Israel und damit weit weg von Berlin und von ihr lebte, manchmal als belastend empfand.

»Sicher, alles bestens«, sagte Lea mit einem Lächeln, das Hanna verriet, dass sie offenbar nicht darüber sprechen wollte.

»Und wie geht es dir? Gibt es schon etwas Neues zu deinem Bruder?«, fragte Lea nun ihrerseits nach.

»Nein, nichts«, antwortete Hanna bedrückt. »Er hat sich bei meiner Mutter und mir nicht gemeldet, und die Polizei hat ihn wohl auch noch nicht geschnappt.«

»Glaubst du an die Version, die in der Öffentlichkeit kursiert?«

Hanna zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass er scheinbar blind seiner RAF -Freundin folgt«, stieß sie wütend hervor. »Richtig devot, sag ich dir. Ich könnte ihn schütteln, so dämlich, wie er ist.«

»Nach allem, was im Land los ist, könnte das wirklich übel für ihn ausgehen«, meinte Lea mit Sorge in der Stimme.

Hanna nickte. »Ich weiß.« Sie hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Aber was soll ich machen? Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wo ich nach ihm suchen könnte oder so. Und selbst wenn. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich ihn überzeugen könnte, sich der Polizei zu stellen, auszupacken und gegen die anderen auszusagen.«

»Es stimmt schon. Du kannst da gar nichts tun«, erkannte Lea. »Und deine Mutter? Wie kommt sie damit zurecht?«

Hanna überlegte kurz. »Erstaunlich gut. Am Sonntag war sie natürlich total schockiert, als die Polizei bei uns reingestürmt ist, gefragt hat, ob Holger da ist, und die Wohnung durchsucht hat. Und ich hatte echt ziemliche Bedenken, dass meine Mutter jetzt wieder total einknickt oder sogar zusammenbricht. Aber gerade vorhin haben wir uns unterhalten, und sie macht auf mich einen erstaunlich starken Eindruck.« Hanna lächelte. »Sie ist durch die Veränderungen der letzten Zeit wirklich eine ganz andere geworden«, fuhr sie fort. »Weißt du, worüber wir vorhin gesprochen haben?«

»Worüber?«, fragte Lea und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Über Sex.«

»Und das habt ihr sonst nicht getan? Ich meine, ihr habt noch nie diese Mutter-Tochter-Gespräche darüber geführt?«

Hanna schüttelte heftig den Kopf. »Nie! Echt, mit keiner Silbe. Doch wie gesagt, meine Mutter hat sich total verändert. Ich finde sie richtig cool, wie sie jetzt ist.«

Hanna sah Lea an. »Wir sind deshalb auf das Thema gekommen, weil ich ihr gesagt habe, was ich künftig machen will«, erklärte sie.

»Na, nun bin ich gespannt«, sagte Lea und aschte in den auf dem Tisch stehenden Aschenbecher ab, in dem bereits einige Zigarettenstummel lagen.

»Das Gleiche wie Cord«, verkündete Hanna nun. »Nur besser«, setzte sie hinzu und grinste breit.

Lea sah sie überrascht an. »Du willst Pornofilme machen?«

»Ja, aus weiblicher Sicht.«

Lea hob den Kopf. »Ein interessanter Ansatz«, fand sie. »Weiß Cord davon?«

Hanna schüttelte den Kopf. »Ne, und ich möchte auch erst mal, dass das so bleibt.«

»Von mir wird er es sicher nicht erfahren«, stellte Lea klar. »Aber da du Darsteller brauchen wirst, macht das im Handumdrehen die Runde. Du solltest es also von dir aus ansprechen, wenn du den Ärger im überschaubaren Rahmen halten willst.«

»Also, er hat ja die Idee dazu nicht gepachtet«, wandte Hanna ein. »Er ist nicht der Erste, der solche Filme macht, und ich werde nicht die Letzte sein.«

Lea zuckte die Achseln. »Es ist deine Sache, ob und wann du mit ihm darüber sprechen willst. Ich sage dir nur meine Meinung. Wie du am Ende handelst, ist deine Entscheidung.«

»Du glaubst, dass er ziemlich ausflippen wird, oder?«

Lea überlegte kurz, dann nickte sie. »Nach dem, was ich so über ihn gehört habe, ist sein Umsatz raufgegangen, seit du bei ihm mitgemischt hast. Ich glaube, es würde ihm weit besser gefallen, wenn du bei ihm einsteigen würdest, als dass du es selbst probierst.«

Hanna überlegte kurz. »Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber ehrlich gesagt, habe ich dazu keine Lust.« Sie legte den Kopf schräg. »Dann wäre er immer noch der große Boss und ich die, die nur Vorschläge machen darf.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht.«

»Gut«, meinte Lea, »ich finde es auch besser so. Du musst dir nur einfach darüber im Klaren sein, dass du mit Gegenwind zu rechnen hast.« Sie zündete sich die nächste Zigarette an. »Aber darauf müssen wir Frauen sowieso immer eingestellt sein, wenn wir selbst den Mund aufmachen und unseren eigenen Standpunkt vertreten wollen.« Sie blies den Rauch aus.

»Wie ist es dir damals gelungen, dich durchzusetzen?«, fragte Hanna.

Lea nahm einen weiteren Zug. Hanna kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie dann mehr rauchte, wenn sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. Vermutlich war irgendetwas vorgefallen, vielleicht mit ihrer Mutter, das Lea beschäftigte.

»Mit einem klaren Ziel vor Augen und viel Rücksichtslosigkeit«, gab Lea nun zur Antwort und lächelte, als erinnerte sie sich an die Zeit.

»Wieso bist du eigentlich damals nach Deutschland gekommen, und wie hast du hier angefangen? Du hast doch mit deiner Mutter in Israel gewohnt, oder?«

Lea nickte. »Unten, wo jetzt der Club ist, war früher mal ein Fotoatelier«, erinnerte Lea. »Es gehörte meiner Familie, genau wie das Grundstück, auf dem das Hotel jetzt steht, und der dahinterliegende Bereich.«

»Wirklich?«

»Ja. Weil wir vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, hat meine Mutter schweren Herzens alles für einen Spottpreis an einen Deutschen verkaufen müssen. Ich war damals erst zehn Jahre alt, doch ich erinnere mich noch heute an das Funkeln in den Augen meiner Mutter, wenn sie von dem alten Atelier erzählte und den wunderbaren Begegnungen und Momenten, die sie darin erlebt hat. Sie hat es immer als goldene Zeit beschrieben. Damals arbeitete sie für einige Magazine, sie hatte sich auf Tanzfotografie spezialisiert, aber auch einige Berühmtheiten abgelichtet. Der Boxer Max Schmeling war bei ihr, die Schauspielerin Kitty Aschenbach und auch Ernst Hofmann. All ihre Freundinnen hatten Geschäfte hier in der Nähe. Künstler und Intellektuelle gingen auf dem Weg zum Romanischen Café den Kurfürstendamm entlang und schauten auf einen Plausch bei meiner Mutter im Atelier vorbei. Das war, bevor sie alle die Flucht ergreifen mussten oder sie ein noch schlimmeres Schicksal ereilte.« Lea lächelte noch immer, doch etwas Trauriges lag nun in ihrem Blick. »Ich wusste immer, dass ich eines Tages nach Deutschland und hierher nach Berlin zurückkehren und das Atelier wieder in den Besitz meiner Familie bringen würde.« Sie sah Hanna an, die geradezu an ihren Lippen hing.

»Wie hast du’s geschafft?«, fragte Hanna. »Ich meine, hattest du viel Geld oder wie?«

»Unsinn, ich hatte so gut wie nichts, als ich hierherkam. Doch 1951 war Deutschland noch anders als heute. Der Wiederaufbau war in vollem Gange. Die meisten hatten alles verloren, es war hart, wieder Fuß zu fassen. Das alte Atelier stand noch, und ich arbeitete die ersten Jahre als Gehilfin bei dem Fotografen Ernst Marquardt, der das Gebäude und das gesamte Grundstück seinerzeit von meiner Mutter gekauft hatte. Ich fing sogar eine Affäre mit ihm an und wohnte schließlich mit ihm zusammen. Als Ernst erkrankte, habe ich ihm das Atelier und auch das gesamte Gelände nebst Hotel für einen ebenso geringen Betrag, wie ihn damals meine Mutter von ihm erhalten hatte, abgekauft.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte Hanna, die ihr die ganze Zeit gebannt zugehört hatte.

»Na ja, als Ernst starb, habe ich einen Club aus dem alten Atelier gemacht. Damals hieß es noch Tanzlokal«, stellte Lea mit einer gewissen Süffisanz in der Stimme fest.

»Wusste mein Vater davon?«

»Wovon?«

»Von deiner Geschichte mit diesem Ernst Marquardt und dass das alles hier früher deiner Mutter gehörte?«

»Nein, so vertraut waren Hanns und ich nicht«, stellte Lea fest. »Wieso fragst du?«

»Na ja, demjenigen, der um die Geschichte weiß, muss doch vollkommen klar sein, dass du das hier niemals verkaufen wirst, ganz gleich, was dir jemand bietet.«

»Du weißt ja, wie dein Vater war. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht verkaufen werde. Doch er wollte davon nichts hören. Und es stimmt nicht, dass ich niemals verkaufen würde. Ich würde nur niemals an jemanden verkaufen, der die Geschichte, die Seele, die in diesem Gebäude steckt, nicht zu würdigen weiß. Und das wusste – bei allem Respekt – dein Vater ganz sicher nicht.«

»Ja, da hast du recht«, pflichtete Hanna ihr bei. »Aber sag mal«, kam sie nun auf das vorherige Thema zurück, »in Bezug auf Cord, wie würdest du da an meiner Stelle vorgehen?«

»Wahrscheinlich sollte ich dich jetzt fragen, ob du möchtest, dass er danach noch mit dir spricht oder ob dir das egal ist. Doch das erspare ich mir, weil so etwas ohnehin nicht funktioniert.«

»Du denkst also wirklich, dass er richtig sauer wird?«

»O ja, und ob!« Lea nickte wissend. »Ich mag Cord, er ist ein netter Kerl. Doch eben – ein Kerl«, schmunzelte sie. »Und die nehmen es überaus persönlich, wenn eine Frau kommt und meint, das, was sie machen, schlicht besser zu können.«

Hanna rollte die Augen. »Was ja wohl absolut dämlich ist.«

»Allerdings«, stimmte Lea zu.

»Kennst du dich mit den Vertriebswegen aus?«, fragte Hanna nun ganz konkret. »Denn ich weiß bisher nur, wie solche Filme gedreht werden. Doch sie müssen ja auch geschnitten werden und vor allem vertrieben.«

»Ich weiß, dass Mike den Schnitt für Cords Filme macht«, gab Lea Auskunft.

»Aber dann wird er das ja für mich bestimmt nicht machen, oder?«

Lea zuckte die Achseln. »Warum nicht? Mike ist unabhängig, und du wärst somit nur eine weitere Auftraggeberin. Aber beim Vertrieb muss ich passen. Doch bestimmt finden wir das raus.«

»Meinst du?«

»Na, sicher doch.«

»Du hilfst mir also?«

»Selbstverständlich helfe ich dir«, sicherte Lea zu. »Weißt du, es gibt genau zwei Sorten Frauen. Die, die es verstanden haben und andere Frauen unterstützen, und die, die ihnen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen. Und zu Letzteren, das sage ich dir, möchte ich wirklich niemals gehören.«

Hanna sprang auf und umarmte Lea stürmisch. »O danke!« Sie gab ihr einen Kuss.

»Keine Ursache«, antwortete Lea, und während Hanna sich wieder setzte, fragte sie: »Und deine Mutter? Was hat sie zu dem gesagt, was du vorhast?«

»Sie hat wirklich unheimlich cool reagiert. Ich hätte ihr das nie zugetraut, doch irgendwie habe ich auch das Gefühl, sie jetzt erst so richtig kennenzulernen.« Hanna überlegte. »Und ich glaube, sie sich auch.«

»Trotz allem wirst du Startkapital für die notwendige Ausstattung brauchen«, meinte nun Lea.

»Ich habe mich mal erkundigt, was so was kostet. Das Geld dafür habe ich«, erklärte Hanna.

»Dann sehe ich keinen Grund, warum du es nicht versuchen solltest.«

»Na ja«, gab Hanna etwas zögernd zu. »Ich habe natürlich schon ein bisschen Angst, dass es nicht klappt.«

»Wenn du so da rangehst, kannst du es gleich vergessen«, antwortete Lea, was Hanna ein wenig schroff vorkam.

»Das klingt ja nicht gerade ermutigend«, gab Hanna enttäuscht zurück.

»Du willst in die Selbstständigkeit gehen, Hanna. Da gibt es kein Fangnetz und keinen doppelten Boden. Entweder, du glaubst an dich und gehst deinen Weg, ohne nach rechts oder links zu gucken, oder du lässt es sein. Wenn du zweifelst, wirst du dich niemals durchsetzen können. Dann kann ich dir nur anraten, die Finger davonzulassen.«

»Das ist wirklich nicht gerade sehr aufbauend.«

»Liebes«, sagte Lea nun und beugte sich vor, »es hat keinen Sinn, dass ich dir nach dem Mund rede. Ich weiß, wie hart es ist, sich wieder und wieder behaupten zu müssen. Und ich kann nur jedem, der sich hierzu nicht in der Lage fühlt, dringend davon abraten, sich dennoch selbstständig zu machen.«

»Ganz schön desillusionierend«, seufzte Hanna.

»Ich bin nur ehrlich«, meinte Lea und zog wieder an ihrer Zigarette. »Warum möchtest du diese Filme machen?«

»Weil es mich total stört, dass immer nur die männliche Sicht dargestellt wird. Die Frau muss immer irgendwie überredet werden, ist unsicher, weiß nicht, was sie will. Also muss erst der große Kerl um die Ecke kommen, der ihr dann schon zeigen wird, was gut für sie ist.« Hanna verdrehte die Augen. »Das ist irgendwas zwischen völlig bescheuert und einfach widerlich. Ich habe mich bei den Dreharbeiten von Cord sogar schon total aufgeregt, weil es so rüberkam, als wollte die junge Frau nicht und hätte sich nur von ihrem Typen drängen lassen. Er hat gemacht, sie nur stillgehalten. Das ist doch wirklich das Letzte.«

»Na also«, erwiderte Lea und schmunzelte. »Du bist ja richtig wütend. Es gibt also einen guten Grund, warum du es anders machen willst. Also, geh es an.« Wieder zog sie an ihrer Zigarette. »Hör auf, dir Gedanken über ein Gelingen oder Scheitern zu machen, und konzentriere dich ganz und gar auf die Sache, in deinem Fall, auf die Art Film, die dir vorschwebt. Ich habe meine ganze Energie in den Club gesteckt. Teilweise habe ich die Nächte durchgearbeitet, bis wirklich alles erledigt war. Und wenn die Gedanken kamen, ob auch wirklich genug Gäste den Club besuchen würden und ich somit auch die Rechnungen bezahlen könnte, habe ich sie mit aller Macht weggeschoben. Denn nur wenn du dich auf die Sache selbst konzentrierst, besteht überhaupt die Möglichkeit, erfolgreich zu sein.«

Hanna, die sich eben noch ein wenig geknickt gefühlt hatte, meinte nun zu verstehen, worauf Lea hinauswollte.

»Okay, ich werde mich darauf konzentrieren, die Filme zu machen«, bekräftigte Hanna.

»Gut, so ist es richtig. Wobei mir gerade noch etwas einfiel«, kündigte Lea an. »Willst du überhaupt selbst produzieren, so wie Cord es macht, oder bist du mehr an der Regie interessiert? Denn gerade klang es so.«

»Hm, im Grunde möchte ich vor allem die Filme so machen, wie ich sie gut finde.«

»Wäre es dann nicht sinnvoller, dass du mit einer Produktionsfirma sprichst und sich dort als Regisseurin bewirbst? So könntest du noch mehr Erfahrungen sammeln.«

»Aber dann wäre ich ja wieder an das gebunden, was mir jemand anders vorgibt«, gab Hanna zu bedenken.

»Sicher. Aber du würdest nicht sofort auf alles oder nichts gehen. Und wenn du deine Sache gut machst, wäre es vielleicht der bessere Weg. Denn eines hast du leider bisher überhaupt nicht bedacht.«

»Nämlich?«

»Die Darsteller. Die möchten natürlich auch bezahlt werden.«

»Ich weiß. Ich hatte überlegt, ihnen nur einen geringen Grundlohn anzubieten und sie am späteren Gewinn zu beteiligen«, meinte Hanna nun, spürte aber, dass ihre Antwort offenbar recht naiv wirkte. Deshalb fügte sie hinzu: »Ich habe das alles noch zu wenig durchdacht, stimmt’s?«

»Richtig«, antwortete Lea.

Hanna spürte erneut eine gewisse Enttäuschung in sich aufsteigen. »Hm«, brummte sie. »Dabei fand ich die Idee gut.«

»Finde ich auch. Aber wie du schon sagst, du hast es noch zu wenig durchdacht.«

Hanna überlegte. »Dann werde ich genau das jetzt erst mal machen«, kündigte sie an. »Ich werde nach Hause fahren und mir eine Liste machen.«

»Oder du verhältst dich weniger charmant, ziehst das Ganze noch eine Weile bei Cord durch und versuchst so, an die richtigen Leute ranzukommen, die dir weiterhelfen können.«

»Das wäre echt ziemlich mies, oder?«

»Sicher. Doch weißt du, wärst du ein Mann, hättest du auch nicht die geringsten Bedenken, dich so zu verhalten.« Lea lächelte. »Das meinte ich vorhin, als ich sagte, das, was ich erreicht habe, nur mit viel Rücksichtslosigkeit geschafft zu haben.«

Hanna sah auf die Uhr. »Ich muss los«, stellte sie fest. »Ich hatte Cord zwar gesagt, dass ich heute nicht zum Dreh kommen würde, doch ich habe es mir anders überlegt.« Hanna stand auf.

»Na dann, viel Erfolg beim Spionieren. Und wenn du dich schlecht dabei fühlst, dann frag dich, von wie vielen du schon gehört hast, die irgendwo gearbeitet haben und sich dann selbstständig machten. Das ist nämlich gang und gäbe.«

»Danke, Lea.« Hanna beugte sich zu der Clubbesitzerin herunter und gab ihr einen Kuss.

»Immer gern. Einen lieben Gruß an Cord.« Wieder schmunzelte sie.

»Richte ich aus!« Damit beeilte Hanna sich, aus der Wohnung zu kommen, und rannte gut gelaunt die Stufen hinunter. Vor dem Eingang des Golden Paradise trafen die ersten Gäste ein, und das Wummern der Musik war immer dann, wenn die Tür geöffnet wurde, bis auf die Straße zu hören. Hanna machte ihr Fahrrad los und fuhr zu der Wohnung in der Passauer Straße, in der Cord heute drehte. Dort hastete sie die Stufen in den dritten Stock hinauf und klingelte. Brigitte, die etwa zwei oder drei Jahre älter war als Hanna und schon mehrfach in Cords Filmen mitgewirkt hatte, öffnete die Tür.

»Hey, du kommst ja doch.« Sie machte die Tür noch weiter auf. »Gut, dass du da bist.« Brigitte, die im Film Lola genannt wurde, verdrehte die Augen.

»Stimmt was nicht?« Hanna betrat die Wohnung und schloss hinter sich die Tür, während Brigitte kehrtmachte und Hanna ihr ins Wohnzimmer folgte, von wo aus aufgebrachte Stimmen schon über den Flur zu hören waren.

»Das ist totaler Blödsinn, Heinz, und das weißt du auch«, regte Cord sich auf und sah dann Hanna an. »Ah, gut, dass du doch kommst, Hanna. Du kannst mir hier helfen.« Cord wandte sich an sein Gegenüber. »Das ist Hanna Borchardt, von der ich dir schon erzählt habe«, stellte er vor. »Hanna, das ist Heinz Suhrfeld, mit dem zusammen ich die Filme produziere.«

Hanna wurde hellhörig. »Sehr erfreut«, sagte sie und begrüßte den Mann mit Handschlag. »Ich wusste gar nicht, dass Cord einen Partner hat.«

»Warum wundert mich nicht, dass du das nie erwähnt hast?«, entgegnete Suhrfeld und sah Cord an. »Ich will das hier nicht weiter vertiefen«, fügte er hinzu. »Klär das, Cord. Ich habe keine Lust, dass wir wie Arca enden. Und du bist auch nicht Oswalt Kolle.«

Noch bevor Cord antworten konnte, streckte Suhrfeld Hanna die Hand entgegen. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich versuche jetzt diesen Mist mit der FSK zu klären«, stellte er dann Cord gegenüber klar. »Bis die Tage.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Hanna, überlegte dann aber kurz, als Suhrfeld schon an der Tür war.

»Äh Cord, ich muss noch mal weg«, log sie. »Ist mir gerade erst eingefallen. Wir sehen uns.«

»Was?«, fragte Cord. »Du bist doch gerade erst gekommen?«

»Ja, ich weiß. Wir sehen uns«, beeilte sie sich noch zu sagen, dann verließ sie den Raum und erreichte die Wohnungstür, kurz nachdem Heinz Suhrfeld diese hinter sich ins Schloss gezogen hatte.

»Herr Suhrfeld!«, rief sie ihm im Treppenhaus nach, worauf dieser stehen blieb und auf sie wartete.

»Einfach Heinz«, erwiderte er.

»Also Heinz«, sagte Hanna. »Hättest du einen Moment?«

»Sicher«, bestätigte er.

Hanna deutete mit der Hand zum Ausgang, sodass sie zusammen die letzten Stufen hinunterstiegen und nun auf die Straße traten. Sie wollte nicht drinnen mit ihm sprechen, weil sie fürchtete, dass Cord sie sonst hören könnte.

»Darf ich fragen, um was es ging? Ich meine, ich habe in letzter Zeit oft mit Cord gearbeitet und würde insoweit gern wissen …«, weiter kam sie nicht.

»Sicher. Cord zieht sein eigenes Ding durch, und ihm scheint egal zu sein, dass wir die Filme auch bei der FSK durchkriegen müssen. Wenn die das Material nicht freigeben, ist das Geld, das wir da reingesteckt haben, verbrannt.« Er schüttelte den Kopf. »Ist kein Geheimnis, dass wir unterschiedlicher Ansicht sind. Deshalb habe ich es auch vor den Darstellern angesprochen. Denn wenn es nicht weitergeht, wird es sie schließlich auch betreffen.« Es klang, als wollte er sich für seine Offenheit, über den Streit mit seinem Geschäftspartner zu sprechen, entschuldigen.

Natürlich wusste Hanna, dass ohne eine Freigabe der FSK kein Film auf den Markt kam. Nach welchen Kriterien hier vorgegangen wurde, war ihr jedoch nicht klar.

»Soll das heißen, dass die weiteren Produktionen in Gefahr sind?«, fragte sie nach, während sie ihr Fahrrad nahm und nun neben Heinz herging.

»Ja, das heißt es«, bestätigte er. »Dabei hat er doch gezeigt, dass er auch anders kann. Aber die letzte Arbeit war einfach für die Tonne.«

Hanna nahm ihren ganzen Mut zusammen. Einerseits fand sie es schäbig, Cord so in den Rücken zu fallen. Andererseits würde sie nur die Wahrheit aussprechen.

»Du meinst den Film, der zum Teil in dem Abrissgebäude gedreht wurde.«

»Genau den. So einen Mist will doch keiner sehen«, schimpfte Heinz.

»Das habe ich Cord auch gesagt«, kam es wahrheitsgemäß prompt von Hanna.

»Ach ja? Aber er wollte nicht hören, oder?«

»Nein. Das muss er ja auch nicht, schließlich hat er die Ahnung, nicht ich.«

»Na ja«, Heinz wiegte den Kopf. »Cord hat mir erzählt, dass du deine Ideen eingebracht hast. Und das, was dabei rausgekommen ist, hat mir gefallen.«

»Ehrlich?«

»Ja, wirklich. Du hast eine andere Herangehensweise.«

Hanna nahm all ihren Mut zusammen. »Ich würde da gern was Eigenes auf die Beine stellen.« Sie atmete geräuschvoll aus. So, nun war es ausgesprochen, und es gab kein Zurück mehr. »Aber dafür habe ich zu wenig Erfahrung und auch nicht die finanziellen Mittel.«

Heinz blieb stehen. »Ist das dein Ernst?«

»Ja, klar«, gab sie betont locker zurück. »Wenn du jemanden in der Branche kennen solltest, der sucht, wäre es toll, wenn du den Kontakt herstellen könntest.«

Sie gingen weiter, und einen Moment sagte keiner von beiden etwas. Heinz schien zu überlegen.

»Was würdest du denn anders machen als Cord?«, hakte er nach.

»Nun ja, ich finde Cords Anweisungen oft zu flach, zu …«, sie suchte nach den richtigen Worten, »also es ist mir irgendwie zu viel Nötigung dabei, zu viel Gewalt. Obwohl das ein zu harter Begriff ist.«

»Ich weiß, was du meinst«, stimmte Heinz ihr zu. »Genau das ist es, was uns den Ärger mit der FSK einbringt. Was würdest du denn ändern?«

»Ich würde einen anderen Ansatz wählen, einen weiblicheren. Ich finde, die Frau als Opfer darzustellen, das alles willenlos mit sich geschehen lässt, ist einfach nicht richtig.«

Wieder blieben sie stehen, und Heinz sah sie an.

»Wie wäre es, wenn ich dich einen Film machen lassen würde, bei dem Cord außen vor ist?«

Hanna klopfte das Herz bis zum Hals. Keinesfalls wollte sie zugeben, genau darauf hinausgewollt zu haben.

»Ich weiß nicht«, gab sie sich zögerlich. »Cord wäre natürlich ziemlich sauer, tippe ich mal.«

»Na und? Hier geht’s ums Geschäft, und ich bin nicht mit Cord verheiratet. Du etwa?«

»Nein, sicher nicht.«

»Also, wenn du willst, versuchen wir es mal miteinander«, schlug Heinz vor. »Natürlich erst mal mit einer kleinen Produktion, die keine hohen Summen verschlingt. Schauen wir mal, wie die Kinos deine Herangehensweise annehmen.«

Hanna sah ihn an und lächelte. »Also ehrlich, ich hätte Lust.«

»Prima.« Heinz streckte ihr die Hand entgegen. »Über die Konditionen sprechen wir noch. Und wenn es gut läuft, unterhalten wir uns über die Zukunft.«

Hanna schüttelte seine Rechte. »Einverstanden.«

Sie riss sich zusammen, um nicht laut aufzujubeln. Cord würde ihr wahrscheinlich den Kopf abreißen wollen. Aber wie Lea es schon prophezeit hatte: Auf Gegenwind würde sie sich einstellen müssen.