13. Kapitel

Stillgelegtes Industriegelände nahe Berlin

Montag, 25. April 1977

Ich will frei sein! Und nun kann ich es! Endlich!

HOLGER BORCHARDT

Er konnte kaum verstehen, weshalb er früher Joints gegenüber so ablehnend gewesen war. Schließlich half das Zeug wirklich; von der Wunde, die der Streifschuss hinterlassen hatte, spürte er kaum noch etwas.

Gestern war es eine Woche her gewesen, dass der Überfall im Hause Gerhard Lohmüllers stattgefunden hatte, in dessen Folge der Bankier verstorben war. Noch immer bedauerte Holger, dass es so weit gekommen war, doch er wusste auch, dass daran nichts mehr zu ändern war. Lohmüller war tot, und nach ihm wurde öffentlich gefahndet. Er konnte nicht mehr auf die Straße gehen oder sich irgendwo sehen lassen. Und vielleicht war es sogar gut so, denn so war er zu der Entscheidung gezwungen worden, Berlin zu verlassen. Hier kannte jeder sein Gesicht, und auch wenn es anderswo nicht einfach werden würde und er sich überall würde verstecken müssen, war doch die Wahrscheinlichkeit, außerhalb von Berlin nicht sogleich entdeckt zu werden, weit größer. Das Wichtigste war für ihn jedoch, dass Monika mit ihm kommen würde und sie zu zweit versuchen würden, sich durchzuschlagen. Zu zweit – oder genau genommen – zu dritt. Denn gestern, als Monika und er miteinander gesprochen und entschieden hatten, aus Berlin abzuhauen, hatte sie ihm eröffnet, dass sie schwanger sei. Holger war im ersten Moment so perplex gewesen, dass er fast nicht darauf hatte reagieren können. Er hatte Monika nur angestarrt, dann war er trotz seiner Verletzung aufgesprungen und hatte sie stürmisch umarmt. So glücklich, wie in diesem Augenblick, hatte er sich ewig nicht gefühlt, genau genommen, nie zuvor in seinem ganzen Leben. Und obwohl Monika, als sie es ihm sagte, noch skeptisch gewesen zu sein schien, hatte sie sich schließlich auch gefreut. Zwar hatte Monika ihm gesagt, dass sie der Sache der RAF auch dann treu bliebe, wenn sie losgelöst von der Gruppe die nächsten Jahre untertauchen würden. Doch das hatte Holger erst einmal einfach hingenommen. Wenn das Kind erst einmal da wäre, so sagte Holger sich, würde Monika bestimmt umdenken und ganz sicher nicht leichtfertig ihres oder gar das Leben des Kindes gefährden.

Fürs Erste wollten sie sich Richtung Westen durchschlagen und dann die Grenze bei Straßburg überqueren, um so nach Frankreich zu gelangen. Wohin es von dort aus gehen sollte, wussten sie noch nicht, doch das war Holger im Grunde auch egal. Hauptsache, er war mit Monika zusammen, und sie wären weit weg von hier, irgendwo, wo sie gemeinsam leben konnten. Gestern Abend hatten sie sich von den anderen zurückgezogen, einen Joint geraucht und sich ihre Zukunft ausgemalt. Sie hatten darüber gelacht, als Holger vorgeschlagen hatte, dass er ja Fischer werden und zusammen mit ein paar alten Franzosen auf einem Kutter auf den Atlantik hinausfahren könnte, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Monika und er hatten über Freiheit gesprochen, und darüber, dass sie vielleicht in einer kleinen Holzhütte am Meer leben könnten, irgendwo, weit weg von der Zivilisation. Irgendwie war in ihrer beider Vorstellung alles so einfach, so klar. Holger war sicher, dass nun ein neues Leben auf ihn warten würde, auf sie beide, und er war der festen Überzeugung, dass doch noch alles gut werden könnte, jetzt, wo Monika für immer bei ihm bleiben würde. Er brauchte sie einfach, ihre Nähe, ihren Duft, ihre ganze Persönlichkeit zog ihn an wie ein magisches Feuer. Er streckte die Hand danach aus und genoss die Wärme dieses Feuers so intensiv, dass er gar nicht über die Brandwunden nachdachte, die er sich zuziehen könnte. Aber nein, das stimmte nicht. Er wusste, dass er sich verbrennen würde, und zwar ganz genau. Doch er spürte auch, dass er allein den Gedanken, sich von diesem magischen Feuer zu entfernen, nicht ertragen konnte. Ohne Monika würde er nicht mehr atmen und sich nicht einen Schritt bewegen können. Das Gefühl für diese Frau war so stark, so alles verzehrend, dass er einfach bei ihr sein musste – auch wenn sie sein Verderben bedeuten könnte.

Doch genau an dieses Verderben brauchte er nun nicht mehr zu denken, jetzt nicht mehr, da sie gemeinsam in ein neues Leben aufbrechen würden. Heute Abend würde er sich im Schutz der Dunkelheit zu der Wohnung in der Holsteinischen Straße schleichen, in der seine Mutter und Schwester lebten und sich von ihnen verabschieden. Es tat ihm furchtbar leid, wie viel Kummer er vor allem seiner Mutter bereitet hatte, doch er wollte sie wenigstens nicht im Unklaren darüber lassen, dass er fortging. Fort mit der Frau, die er liebte.

Holger konnte nicht einmal erahnen, was seine Mutter über das denken musste, was über ihn in der Zeitung stand. Gerade heute war ein Artikel erschienen, in dem er erneut namentlich als einer der Haupttäter genannt wurde, die für den Tod von Gerhard Lohmüller verantwortlich waren. Zwar war es Monika gewesen, die abgedrückt hatte und nicht er selbst. Und genau genommen stimmte auch das nicht, da Monika ihm versichert hatte, dass der Schuss wie von selbst losgegangen war. Er hatte unter Schock gestanden, weshalb er sich an die Situation nicht mehr erinnern konnte, aber natürlich glaubte er es ihr, schließlich würde sie nicht einfach so einem Menschen das Leben nehmen. Und er sah auch ein, warum sie ihm die wahren Gründe, weshalb sie sich unbedingt Zutritt zu Lohmüllers Haus verschaffen mussten, verschwiegen hatte. Es stimmte ja. Hätte er davon gewusst, dass Ede und Monika vorhatten, Gerhard Lohmüller zu entführen, dann hätte Holger mit Sicherheit nicht zugestimmt. Monika hatte also gar keine Wahl gehabt, auch wenn in ihm der kleine Stich des Zweifels war, dass sie ihn einfach missbraucht hatte. Doch andererseits verstand er sie, wusste sie doch, dass Holger weit zögerlicher war als jeder andere und somit ihren Plan mit Sicherheit zunichtegemacht hätte.

Aber all das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er würde heute Abend seiner Mutter und Schwester Lebewohl sagen und dann vermutlich für immer aus deren Leben verschwinden. Man musste das Alte eben loslassen, um das Neue mit beiden Händen greifen zu können.

Vielleicht konnten die beiden ja noch ein wenig Geld erübrigen, nicht viel, nur etwas, um es für Monika und ihn ein bisschen leichter zu machen. Und wenn nicht, würden sie es schon schaffen. Holger hoffte vor allem deshalb auf eine kleine finanzielle Unterstützung, damit Monika und er auf dem Weg nach Frankreich nicht gezwungen wären, irgendwelche Überfälle oder Einbrüche zu begehen, die alles nur komplizierter machen würden. Eigentlich verabscheute er Gewalt zutiefst. Und freiwillig würde er ganz sicher nicht auf jemanden schießen. Doch wenn es darum ginge, Monika und nun auch sein Ungeborenes zu beschützen, dann war er zu allem bereit, auch wenn er hoffte, dass es nicht zum Äußersten kommen würde.

»Und? Wie weit bist du?«, fragte Monika, die sich nun neben ihn auf die Matte fallen ließ.

»Na ja, Gepäck hab ich ja nicht«, antwortete Holger und gab ihr einen Kuss.

»Andreas hat uns ’ne Karre besorgt«, sagte Monika nun.

»Und mein Auto?«

»Das bleibt noch für eine Weile im Versteck. Selbst mit neuen Kennzeichen kann den Wagen jetzt keiner fahren. Ist zu auffällig. Bist eben ein begehrter Typ bei den Bullen«, lachte sie und gab ihm einen Kuss.

Holger zog sie an sich, küsste sie erneut und hielt sie einen Moment in seinen Armen. »Ich freue mich auf unsere Zukunft«, sagte er.

Monika nickte nur. »Aber wir werden nicht ewig im Ausland bleiben«, stellte sie klar. »Nur, bis der dickste Rauch sich verzogen hat.«

»So sehe ich das auch«, stimmte Holger zu, obwohl er es nicht so meinte. Er würde schon dafür sorgen, dass Monika niemals hierher zurückwollte.

Monika reckte den Hals, um durch die verschmutzten Scheiben zu sehen. »Wird bald dunkel genug sein«, meinte sie. »Und pass bloß auf da draußen.«

»Na klar doch. Mich wirst du nicht mehr los«, versicherte er und legte kurz seine Hand auf ihren Bauch.

Monika lächelte, schob seine Hand aber dann beiseite. »Muss ja nicht jeder mitkriegen«, erklärte sie etwas zerknirscht, worauf Holger nickte und sich schließlich erhob. Die Klamotten, die er trug, stanken fürchterlich. Noch einmal duschen zu können, sich die Zähne zu putzen und sich umzuziehen wäre ihm weit lieber gewesen, als so vor seiner Mutter und Schwester aufzutauchen. Doch hierzu hatte er keine Gelegenheit. Monika hatte sich ebenfalls erhoben und deutete auf die verbundene Stelle, wo ihn die Kugel gestreift hatte.

»Ist das okay so?«

»Ich merke kaum noch etwas davon«, antwortete Holger, gerührt, dass Monika sich offenbar um ihn sorgte.

»Komm«, sagte sie nun und wies zur Tür. »Der Wagen, den du heute Abend benutzen kannst, ist ganz in der Nähe versteckt. Ich bring dich hin.«

Holger verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß, obwohl er nicht das Gefühl hatte, dass die anderen viel mitbekamen. Andreas hatte neues Gras mitgebracht, und fast alle waren ziemlich zugedröhnt, sodass sie nur mehr oder weniger saßen oder lagen und vor sich hin starrten. Die Einzigen, die sich überhaupt unterhielten, waren Cordula, die früher Krankenschwester gewesen war und sich um Holgers Wunde gekümmert hatte, und Anja, die offenbar so was wie die Freundin von Andreas war. Ihn selbst sah Holger gerade nicht. Vielleicht hatte er aber auch nur nicht mitbekommen, dass der schon wieder abgehauen war.

Zusammen traten Monika und er nach draußen. Es war schon recht schummrig, und nicht mehr lange, dann würde es richtig dunkel sein. Monika ging über den kleinen Pfad voraus, bog dann nach rechts ab und führte ihn noch tiefer in den Wald. Schließlich machte sie halt und schob einige Äste beiseite, unter denen ein blauer Fiat zum Vorschein kam.

»Hier ist der Schlüssel«, sagte sie und übergab ihn an Holger. »Setz ein Stück zurück und fahr dort raus«, riet sie ihm und deutete mit der ausgestreckten Hand in die Richtung, wo er das Ende des Waldes und eine Straße vermutete.

»Ist gut.« Holger zog Monika an sich und gab ihr einen langen Kuss. »Ich kann es echt kaum noch erwarten.«

»Wird bestimmt ’ne gute Zeit mit uns«, antwortete sie. »Und nun mach, dass du loskommst. Und versuch Kohle zu kriegen, in Ordnung? Und wenn die Brot oder so dahaben, dann bring das auch mit.«

Holger nickte und wollte noch etwas sagen, doch da machte Monika schon kehrt und ging den Pfad zurück, den sie gekommen waren.

Holger entfernte noch die restlichen Zweige, dann stieg er ein und steckte den Schlüssel in die Zündung. Der Wagen sprang sofort an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ja gar nicht wusste, wo er hier überhaupt war. Irgendein abgelegenes Grundstück in der Nähe eines früheren Industrieparks, das war alles. Es wäre wirklich schlau gewesen, Monika wenigstens danach zu fragen, ob er, wenn er die Straße erreichte, nach rechts oder links musste. Aber nun ja – er würde sich schon zurechtfinden.

Ganz langsam, um mit dem Wagen nicht womöglich auf irgendwelchen Ästen oder Baumstümpfen aufzusetzen, lenkte er den Fiat die platt gefahrene Spur entlang, auf der dieser offenbar hierhergekommen war. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis er auf einen unbefestigten Waldweg stieß, bei dem er seiner Intuition folgend an einer Gabelung nach links abbog. Weitere fünf Minuten später erreichte er schließlich eine Landstraße, bei der er sich nun entscheiden musste, ob er nach rechts oder links abbiegen wollte. Wieder entschied er sich für links, als er plötzlich Scheinwerfer sehen konnte, die aus ebendieser Richtung kamen und ihn so zum Warten zwangen. Kurz glaubte er, sein Herz würde aussetzen, als er beim Näherkommen des Fahrzeugs einen Polizeiwagen erkannte.

Er musste sich zwingen, nicht augenblicklich den Rückwärtsgang einzulegen und die Flucht zu ergreifen. Das konnte doch nicht wahr sein.

Holger mahnte sich zur Ruhe, versuchte gleichmäßig zu atmen. Die Scheinwerfer des Polizeiwagens blendeten ihn, dann war er vorbei. Holger atmete erleichtert aus, setzte eilig den Blinker und bog erneut nach links ab.

Während er sich weiter und immer weiter von dem Waldweg entfernte, sah er im Abstand von nur wenigen Sekunden immer wieder in den Rückspiegel. Doch hinter ihm war weit und breit kein Auto zu sehen, sodass Holger wieder ruhiger wurde. Erst jetzt begann er, nach Anhaltspunkten zu suchen, um sich zu orientieren, und war froh, als er feststellte, sich tatsächlich auf direktem Weg Richtung Berlin-Innenstadt zu befinden.

Es war ein mulmiges Gefühl, sich wieder so in der Öffentlichkeit zu bewegen. Irgendwie glaubte er, jeden Moment von jemandem erkannt und schon im nächsten Augenblick verhaftet zu werden. Doch das war natürlich vollkommener Unsinn. Aber ihm kam der Gedanke, sich einen Vollbart stehen zu lassen oder sein Aussehen auf irgendeine andere Art zu verändern. Vielleicht mit einer Brille oder indem er sich eine Glatze rasierte. Irgendetwas, das ihn anders aussehen ließ. Gute zwanzig Minuten später erreichte er die Holsteinische Straße.

Vor dem Haus parkte ein Auto, von dem Holger glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Gehörte dieser BMW nicht Uschi Rebenstock, der Freundin seiner Mutter? Konnte es sein, dass sie gerade zu Besuch da war? Holger fuhr im Schritttempo weiter, blickte zu den Fenstern hinauf, die zu der Wohnung gehörten, in der seine Mutter und Schwester lebten. In der Küche brannte noch Licht. Sollte er es riskieren zu klingeln, auch wenn er Gefahr lief, dass Uschi tatsächlich gerade seine Mutter besuchte und ihn womöglich verpfeifen würde?

Er parkte den Fiat ein Stück weiter vorn und stieg aus. War das nicht Klaus Schröders Auto direkt vor ihm? Holger zögerte. Fand da oben gerade so eine Art Party statt? Er schüttelte den Kopf. Zwar glaubte er, dass Schröder mal so einen Wagen gefahren hatte, aber so selten war ein 5er-BMW nun auch wieder nicht. Wahrscheinlich sah er langsam Gespenster. Holgers Blick schweifte kontrollierend die Straße entlang. Er hatte keine Uhr, doch er vermutete, dass es wahrscheinlich schon elf Uhr durch war, vielleicht sogar nach zwölf.

Er drehte sich um, sah in die andere Richtung. Vermutlich war er inzwischen vollkommen paranoid, denn er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch von wem? So ein verdammter Quatsch aber auch! Hier war außer ihm kein Mensch, alles war ruhig und friedlich. Einzig die bange Frage, was ihn erwarten würde, wenn er klingelte und seine Mutter und Schwester dort oben nicht allein waren, trieb ihn um. Waren Uschi Rebenstock und seine Mutter überhaupt noch befreundet? Holger hatte nicht die geringste Ahnung. Kein Wunder, hatte er doch so gut wie gar keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter. Er wusste nicht, was in ihr vorging, mit wem sie Umgang hatte, wovon sie überhaupt lebte. Es stimmte schon – er interessierte sich nur noch für Monika und sich selbst. Das war alles. Er war ein absoluter Mistkerl geworden.

Langsam ging er auf das Haus zu, blieb abermals stehen und wandte sich um, dann sah er erneut zur Wohnung hinauf. Soeben war das Licht in der Küche ausgeschaltet worden, und Holger machte ein paar Schritte rückwärts, um erkennen zu können, ob in einem anderen Raum der Wohnung das Licht eingeschaltet wurde. Doch alles blieb dunkel. Offenbar waren seine Mutter und seine Schwester schon zu Bett gegangen.

Er atmete noch mal tief durch, dann ging er entschlossenen Schrittes auf den Eingang zu. Wahrscheinlich würden die beiden sich zu Tode erschrecken, wenn um diese Zeit noch an der Tür geklingelt würde. Aber er hatte nun einmal keinen Schlüssel und insoweit auch keine Wahl.

Er streckte den Finger vor, wollte soeben den Klingelknopf drücken, da wurde er gepackt und zu Boden geschleudert.

»Polizei! Keine Bewegung, Freundchen!«

Holger schrie auf, als ihm ein Knie in den Nacken gedrückt wurde. Dann wurden seine Hände gepackt und mit Handschellen auf dem Rücken fixiert. Er glaubte, nicht atmen zu können. Panisch schnappte er nach Luft. Das Knacken eines Funkgeräts war zu hören, und eine Stimme sagte: »Wir haben ihn.« Das war alles. Dann wurde er in die Höhe gezogen, zu einem Auto geführt und auf dessen Rückbank gezwungen. Ein Mann stieg zu ihm hinten ein, zwei andere nahmen vorn Platz. Holger blickte auf und sah genau in diesem Moment Hanna, die soeben angeradelt kam und nun direkt vor der Haustür abstieg. Ihr Blick fiel auf das Auto, dessen Motor gerade angelassen wurde. Hanna machte einen Schritt darauf zu. Sie stand unter der Straßenlaterne, und Holger konnte ihr hübsches Gesicht erkennen, ebenso ihren fragenden Blick. Holger wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass seine Schwester ihn bemerkt hatte, denn er bot einen jämmerlichen Anblick.

Das Auto fuhr an, und Holger drehte den Kopf, wollte noch einmal einen Blick auf seine Schwester erhaschen und wünschte sich in diesem einen Moment nichts sehnlicher, als auszusteigen und sie in seine Arme zu nehmen. Doch natürlich ging das nicht. Vielleicht würde er sie nie wieder in die Arme schließen können, sie nicht und auch nicht … sein Hals schnürte sich zu. Monika! Was war mit Monika? Seine Mutter und Schwester konnten ihn, wenn sie denn wollten, im Gefängnis besuchen. Doch Monika? Die natürlich nicht. Sie musste sich fernhalten von ihm, wenn sie nicht selbst geschnappt werden wollte. Aber das ging doch nicht. Das durfte nicht sein! Er würde nicht ohne Monika leben können. Und sein Kind. Was war mit dem Kind?

Wie von Sinnen schlug Holger wieder und wieder seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Er wollte hier raus, raus, raus, raus!

»Der dreht hier hinten durch!«, rief der Beamte neben ihm, packte zu und presste ihn mit aller Kraft in das Polster der Rückbank.

»Ich will hier raus!«, hörte Holger sich selbst brüllen, nur dass seine Stimme gar nicht mehr klang wie seine und er sich auch nicht mehr fühlte, wie er selbst. Alles war fremd, Panik und Verzweiflung überkamen ihn. Ihm wurde übel, alles um ihn herum drehte sich schneller und immer schneller. Da stieß er mit seinem Kopf nach vorn und knallte ihn gegen den Schädel des Beamten, worauf dieser einen Schmerzensschrei von sich gab und der Fahrer abrupt das Auto stoppte.

»Hör jetzt auf, du verdammter Scheißkerl«, schnauzte der Mann auf dem Beifahrersitz, stieg aus und kam um das Auto herum. Dann riss er die hintere Tür auf, packte Holger am Jackenkragen, holte aus und ließ seine Faust in Holgers Gesicht schnellen.

Ihm war, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. Dann verlor er das Bewusstsein und kam erst wieder zu sich, als er von zwei Männern aus dem Auto gezerrt wurde.

»Sofort ab ins Vernehmungszimmer mit ihm«, hörte er jemanden sagen, dann hakten ihn die zwei, die ihn aus dem Auto gehievt hatten, unter und schleppten ihn in das Gebäude. Holger schloss die Augen. Vielleicht wirkte der Joint noch, denn er hatte das Gefühl, seinen Körper verlassen zu haben. Er nahm alles nur schemenhaft wahr, vernahm Stimmen – mal lauter, mal wieder leiser –, konnte jedoch die Worte nicht begreifen. Würde er in den nächsten Minuten sterben? Wich das Leben aus ihm, und hatte sich sein Geist bereits befreit? Er versuchte zu ergründen, was er fühlte, nahm noch immer wahr, dass er weiter- und immer weitergeschleppt wurde. Dann war ihm, als träumte er, doch schon im nächsten Moment schreckte er durch irgendetwas wieder hoch. Er blinzelte, um etwas erkennen zu können, und fand sich nun in einem kargen Raum und an einem Tisch sitzend wieder. An der Wand hing ein überdimensionaler Spiegel, und er war allein. Wie in einem schlechten Film, ging es ihm durch den Kopf.

Eine Weile saß er so da und wartete. Doch es kam niemand. Irgendwann stand er auf, was sich mit auf dem Rücken gefesselten Händen als schwierig erwies, schob den Stuhl mit dem Fuß beiseite und legte sich einfach auf den kahlen Boden. Er war müde, unendlich müde, und tatsächlich stellte sich so etwas wie Erleichterung ein, dass er geschnappt worden war. Nicht mehr fliehen, nicht mehr fortlaufen, kein Zusammenzucken, sobald eine Tür ins Schloss fiel. Das Schlimmste, was er sich hatte vorstellen können, war Realität geworden. Es war geschehen, sie hatten ihn. Die Flucht war vorbei, noch bevor sie richtig angefangen hatte. Er kauerte sich zusammen, versuchte die Kälte zu verdrängen.

Holger hörte, dass die Tür geöffnet wurde, doch er ließ seine Augen geschlossen. Sie hatten seinen Körper gefangen, doch sein Geist gehörte ihm, und er könnte sich an einen anderen Ort denken, einen Ort an einem See im Sommer, und neben ihm Monika.

»He, Dornröschen, hier wird nicht gepennt«, sagte nun jemand, und Holger wurde in die Höhe gezogen und wieder auf den Stuhl gesetzt. Er blinzelte wie schon zuvor, während der, der ihn angesprochen hatte, sich nun einen Stuhl nahm und sich an die Tischseite gegenüber setzte.

»Sie sind also Holger Borchardt«, stellte er fest. »Mein Name ist Achim Hellwig, ich arbeite für den Staatsschutz.«

Holger antwortete nicht.

»Sie sitzen ziemlich in der Tinte, Herr Borchardt.« Er suchte Holgers Blick. »Verzeihen Sie’s mir, aber Sie sehen beschissen aus. Wollen Sie vielleicht einen Kaffee, Tee oder sonst irgendwas?« Achim Hellwig musterte ihn. »Oder könnten Sie etwas zu essen vertragen?«

Holger schüttelte den Kopf. »Bringen Sie’s einfach zu Ende«, brachte er stockend hervor.

Hellwig sah ihn an und lachte kurz auf. »Wie soll ich das denn verstehen? Denken Sie, wir knallen Sie ab oder was?«

Hellwig schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Ist nicht unsere Art, auch wenn einige von Ihnen das wirklich zu glauben scheinen«, meinte er dann. »Also wie schaut’s aus, essen, trinken, oder wollen Sie nichts? Ihre Entscheidung.«

»Kann ich ein Brot haben?«

»Sicher.«

»Und Tee?«, fragte Holger weiter.

Achim Hellwig wandte sich zu dem Spiegel um und blickte kurz hinein. Dann drehte er sich wieder zu Holger und sah ihn an, stand auf und schloss dessen Handschellen auf. Holgers Arme schnellten auseinander wie Gummibänder, und er rieb sich augenblicklich die schmerzenden Handgelenke, während der Beamte des Staatsschutzes wieder auf dem Stuhl gegenüber Platz nahm.

Sie saßen einfach nur da, schwiegen, Holger mit gekrümmtem Rücken und auf den Tisch starrend, während Hellwig seinen Blick weiter auf Holger ruhen ließ.

Nach einer Weile kam ein Mann herein, der einen Tee und einen Teller mit einem belegten Brot vor Holger abstellte und ohne ein Wort wieder verschwand. Holger schnappte sich augenblicklich das Brot und biss gierig davon ab. Es tat so unglaublich gut, etwas zu essen, und es dauerte wohl nicht einmal eine Minute, bis das Brot vertilgt war. Dann nahm er einen Schluck von dem Tee, der jedoch noch zu heiß war, sodass er sich die Zunge verbrannte und diesen wieder abstellte. Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass sie versuchen könnten, ihn zu vergiften. Monika hatte erzählt, dass einige ehemalige Gefangene ihr von solchen Methoden berichtet hatten. Er sah Hellwig an, versuchte an seinem Gesichtsausdruck etwas abzulesen. Hellwig saß nur da und beobachtete ihn wortlos und mit verschränkten Armen. In diesem Augenblick kam Holger sich einfach nur erbärmlich vor. Was für einen Anblick musste er bieten, mit seinen abgewetzten, schäbigen und dreckigen Klamotten, den ungekämmten Haaren, die schon eine Weile keinen Friseur mehr gesehen hatten, und vermutlich stinkend, obwohl er das selbst nicht einmal mehr wahrnahm.

Als hätte Hellwig seine Gedanken geahnt, sagte er nun: »Hast schon bessere Zeiten gehabt, was?«

Holger antwortete nicht darauf.

»Kann ich noch ein Brot haben?«, fragte er stattdessen, worauf Hellwig sich wieder zum Spiegel drehte und kurz den Arm hob. Jetzt war es ohnehin zu spät, den Stolzen zu geben, und hungrig war er immer noch.

»Kommt gleich«, antwortete der Beamte dann knapp.

»Aus mir kriegen Sie nichts raus«, sagte Holger nun, weil er das Gefühl hatte, die Stille durchbrechen zu müssen. »Sie können mich also direkt in eine Zelle sperren.«

»Damit du schlafen kannst, nicht wahr?«, gab Hellwig zurück. »Das kommt später. Doch erst mal brauche ich ein paar Antworten. Dann lasse ich dich in Ruhe, und du kannst dich hinlegen, allein in einer Zelle mit Bett, Decken und allem Drum und Dran. Klingt ziemlich gut, oder?«

»Aus mir kriegen Sie nichts raus«, wiederholte Holger, dann wurde die Tür geöffnet, und er bekam sein zweites Brot, das er sofort verschlang.

Während er kaute und nun auch seinen Tee trank, fragte Hellwig: »Wie und wann hast du deine neuen Freunde kennengelernt? Soweit wir in Erfahrung gebracht haben, muss das ja schon vor dem Zusammenbruch deines Vaters gewesen sein. Wie kommt also einer wie du, aus einem so reichen Haus und von dort ganz oben, an Leute wie die?«

»Mit Leuten wie die meinen Sie wohl Menschen, die sich nicht alles gefallen und sich auch nicht den Mund verbieten lassen.«

»Niemand hat vor, irgendjemandem den Mund zu verbieten. Das ist ein freies Land mit einem Recht auf ebenso freie Meinungsäußerung. Menschen umzubringen, das verbieten wir. Aber reden kann jeder, was er will.«

»Nur dass reden eben nur dann nützt, wenn die anderen auch zuhören«, gab Holger giftig zurück.

»Na ja, Gerhard Lohmüller hört jetzt wohl keiner mehr zu«, entgegnete Hellwig. »Und in politischer Hinsicht hätte seine Stimme auch nur wenig Gewicht gehabt. Ihr hättet nur ein Lösegeld erzwingen und versuchen können, Druck auszuüben. Aber du bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Du weißt ganz genau, dass niemand in der Regierung irgendwelchen Forderungen nachgegeben hätte. Was wolltet ihr also mit ihm? Ging es um Geld? Habt ihr gehofft, dass seine Bank Lösegeld für ihn zahlt, damit ihr euch damit mehr Waffen besorgen könnt? Und dann was? Anschläge auf Regierungsgebäude und der Tod weiterer Menschen? Und das soll etwas bewirken?«

Holger versuchte, an etwas anderes zu denken, kam aber nicht umhin, dem Beamten zuzuhören. Natürlich hätte er das nicht zugegeben, aber dieser Hellwig hatte ja genau recht, wie Holger fand. Protest – ja, Demonstrationen – ja, auf sich aufmerksam machen und so die Bevölkerung hinter sich bringen – ja, doch das Töten war einfach nur sinnlos und bewirkte gerade in der Öffentlichkeit genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollten. Denn mit solchen Taten brachte man diejenigen, die jetzt noch schwiegen, nur gegen sich auf, gewann jedoch nichts.

»Die Haushälterin hat ausgesagt, dass du offenbar selbst überrascht warst, was deine Freunde da bei Lohmüller abgezogen haben«, erklärte Hellwig nun. »Du wusstest gar nicht, was die vorhatten, oder?«

Holger nahm erneut einen Schluck Tee, antwortete aber nicht.

»Sie hat weiter ausgesagt, dass du keine Waffe hattest, sondern die Frau, die dabei war. Wer ist sie? Deine Freundin?«

Holger spürte so etwas wie Erleichterung. Offenbar kannten sie Monikas Namen noch nicht.

»Es soll ein ziemliches Gerangel gewesen sein. Ihr hattet gar nicht vorgehabt, dass Lohmüller stirbt, oder? Dann sprechen wir hier von Totschlag, nicht Mord. Und von Fahrlässigkeit statt Vorsatz. Das macht mal eben einen Unterschied von gut und gern zehn Jahren.«

Zum ersten Mal, seit Hellwig hier war, schlug er nun die Akte auf, die vor ihm auf dem Tisch lag.

»Du wirst im August vierundzwanzig«, stellte er fest. »Da geht bei anderen das Leben erst los. Und deines ist schon jetzt am absoluten Tiefpunkt.«

»Kann ich noch ein Brot haben?«

»Erst mal hast du genug, würde ich sagen«, lehnte Hellwig ab und stützte nun seine Ellenbogen auf den Tisch. »Also, wie ist die Sache bei Lohmüller abgelaufen? Es gab einen Zettel mit Forderungen, der dort gefunden wurde und der laut der Haushälterin vorher nicht da war. Hast du den Zettel geschrieben?«

Holger antwortete nicht.

»Dachtest du, dass ihr deshalb dort wart? Um eine kleine Liste mit Forderungen zu übergeben?«

Wieder sagte Holger kein Wort.

»Ich habe mit deiner Mutter gesprochen«, fuhr Hellwig fort. »Nette Frau, die ganz schön was durchgemacht hat. Erst mit deinem Vater, jetzt mit dir. Ihr schont sie nicht gerade, würde ich sagen.«

»Meine Mutter hat nichts damit zu tun«, brach es nun aus Holger heraus.

»Davon gehe ich auch nicht aus«, versicherte Hellwig. »Aber dein Gesicht ist in jeder Zeitung. Das Leben wird für sie nicht gerade einfacher, jetzt, da klar ist, dass ihr Sohn ein Terrorist ist.«

Holger spürte ein Gefühl der Abneigung. Er und ein Terrorist. Die Bezeichnung passte doch gar nicht zu ihm. Er wollte doch nur mit Monika zusammen sein. Mehr nicht.

»Kann ich jetzt in meine Zelle?«, fragte er, weil er das Gefühl hatte, sich nicht mehr lange wach halten zu können.

Hellwig schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts. Gib mir ein bisschen was, womit ich arbeiten kann. Ganz gleich was. Dann lasse ich dich in deine Zelle, und du kannst schlafen.«

Holger schwieg.

»Na gut«, meinte Hellwig. »Ich habe Zeit.« Er verschränkte die Arme.

Holger zog die Schultern hoch. Ihm war so schrecklich kalt, obwohl er seine Jacke trug und dieser Hellwig nur ein dünnes Hemd.

»Dein Frieren ist deiner Übermüdung geschuldet«, erklärte Hellwig, als er es bemerkte. »Ich erwarte hier gar keine Wunder von dir«, fuhr er dann fort. »Du brauchst ganz dringend Schlaf, und ich kann dir sagen, dass dein Körper sich noch mehr einfallen lassen wird, um dir das deutlich zu machen. Aber wie gesagt, wenn ich nicht irgendwas von dir bekomme, kann ich auch nichts für dich tun. So läuft das nun mal.«

Holger versuchte, die aufsteigende Kälte zu ignorieren, doch es gelang ihm nicht.

»Weißt du, vielleicht kann ich dir wirklich mehr helfen, als du glaubst«, sprach Hellwig weiter. »Jemand wie du hat doch bestimmt noch Kontakt zu einem Anwalt«, mutmaßte er. »Also zumindest deine Mutter scheint ihren ziemlich gut zu kennen, denn die beiden waren vorhin oben in ihrer Wohnung, während du gerade im Begriff warst, dort zu klingeln.«

»Sie überwachen meine Mutter?«

»Na sicher. Und dass du jetzt hier sitzt, zeigt ja, dass wir damit richtiggelegen haben«, meinte Hellwig und lächelte.

»Wenn du uns ein bisschen hilfst, könnten wir es so drehen, dass du wieder freikommst. Deinen Freunden könntest du sagen, dass der Anwalt deiner Mutter dich rausgeboxt hat, weil wir nicht genug gegen dich in der Hand hatten. Dann würdest du deine kleine Freundin wiedersehen können.«

Bei der Erwähnung Monikas ging ein Ruck durch Holger, den er zu unterdrücken versuchte. Doch er konnte im Gesicht seines Gegenübers lesen, dass ihm dies nicht entgangen war.

»Eine ganz nette Vorstellung, oder? Denn die Kleine wird ohne dich ja ziemlich einsam sein und sich jemanden suchen, der sie tröstet, meinst du nicht?«

Holger spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Früher hatten Ede und Monika mal was miteinander gehabt. Was, wenn er hier drinnen festsaß und Ede die Chance nutzte, um Monika wieder rumzukriegen? Und was wäre mit dem Kind? Würde es denken, dass Ede sein Vater wäre?

»Ja, lass dir das ruhig mal einen Moment durch den Kopf gehen«, meinte Hellwig.

»Ich werde nichts sagen«, beharrte Holger, doch er konnte selbst seiner Stimme anhören, dass er nicht so überzeugend klang wie noch zuvor.

»Ich erwarte gar nicht, dass du etwas sagst. Zumindest nicht hier und jetzt.« Der Beamte lehnte sich weiter über den Tisch. »Du passt doch gar nicht da rein. Vielleicht zu deiner kleinen Freundin, aber du gehörst doch nicht zu Terroristen, Bombenlegern und Mördern. Wenn du uns ein wenig entgegenkommst, hast du immer noch die Chance auf ein Leben, auf Familie«, versuchte Hellwig ihn zu überzeugen. Holger blickte auf. Stimmte das? Könnte er neu anfangen? Mit Monika und dem Kind? »Doch glaub mir, du und deine Freunde, ihr seid gerade nicht besonders beliebt in diesem Land. Wenn wir einen von euch wegsperren wollen, dann machen wir das, und zwar so, dass er die Sonne nicht mehr zu sehen kriegt.« Er legte eine kurze Pause ein.

»Oder aber du hilfst uns, und wir lassen dich bis zu deinem Prozess wieder auf freien Fuß. Dann kannst du zu deinen Freunden zurück, und alles ist halb so wild. Noch wissen die nicht mal, dass wir dich haben.«

Holger spürte Unruhe in sich aufkommen. Es stimmte. Monika glaubte bestimmt, dass er noch bei seiner Mutter und Schwester sei. Konnte es sein, dass dieser Hellwig ihm damit tatsächlich einen Ausweg bot? Er sah den Mann an, dessen Lippen ein leichtes Lächeln umspielte, was Holger zurückweichen ließ. Nein, er wollte ihn locken, wollte ihn reinlegen. Ganz sicher war dieser Kerl alles, aber niemand, der ihm helfen wollte.

»Ich würde es mir nicht zu lange überlegen«, mahnte Hellwig. »Dann werden deine Freunde Verdacht schöpfen und sind über alle Berge, selbst wenn du es dir noch überlegen solltest. Dann verschwinden die in irgendwelchen Löchern, und du hast genau wie wir keine Chance mehr, sie zu finden.« Hellwig beugte sich noch weiter vor. »Holger, du willst das doch gar nicht. Du stehst nicht dahinter. Willst du wirklich dein Leben dafür wegschmeißen?« Hellwig suchte seinen Blick. »Ich biete dir hier eine einmalige Chance. Und vielleicht kannst du so den Schaden, den du angerichtet hast, wiedergutmachen. Du wärst nicht der Erste.«

Holger sah auf. »Wie meinen Sie das?«

»Na, was denkst du wohl, woher wir wissen, dass du nicht wirklich einer von denen bist.«

»Es gibt einen Spitzel?«, fragte Holger ungläubig.

»Ich würde es nicht Spitzel nennen, sondern eher jemanden, der eingesehen hat, dass die Gewalt, die ausgeübt wird, nicht die Lösung sein kann.«

Holgers Gedanken überschlugen sich. Er sah Andreas Gesicht vor sich, seines und das von Cordula, die sich um die Versorgung seiner Wunde gekümmert hatte. Gerade Andreas kam und ging, wann immer er wollte, und er schien auch keine Probleme zu haben, Essen und Getränke zu besorgen. Woher, danach fragte offenbar niemand und auch nicht, von wem er das Geld hierfür bekam. Und Cordula? Woher hatte sie das frische Verbandszeug?

»Ich sehe dir an, dass es in deinem Kopf rattert«, stellte Hellwig fest. »Bestimmt gehst du gerade die Leute in deiner Gruppe durch und fragst dich, wer es sein könnte, nicht wahr?«

Holger setzte sich aufrechter hin. »Sie bluffen nur. Sie wollen mir nur einreden, dass es einen Spitzel gibt. Aber ich bin nicht so dumm.«

»Doch, scheinbar bist du das«, erwiderte Hellwig. »Denn sonst würdest du die Chance ergreifen, die ich dir biete.« Er sah auf die Uhr. »Es wird immer und immer später. Noch könntest du einfach so zurück, doch mit jeder Minute, die hier verstreicht, musst du mehr und mehr erklären.«

Holger überlegte, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Ich mache das nicht«, entgegnete er.

Hellwig seufzte und drehte sich zum Spiegel um. »Einen Kaffee«, sagte er und wandte sich Holger dann wieder zu.

»Dann eben noch mal von vorn«, erklärte er. »Wie ich dir vorhin schon sagte: Ich habe Zeit.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, und einen Moment lang konnte Holger die Verachtung in der Miene seines Gegenübers lesen.

»Ganz gleich, wie lange Sie mich hier sitzen lassen und daran hindern zu schlafen. Meine Meinung wird sich nicht ändern«, stieß Holger nun wütend hervor.

»Wie wäre es damit? Wir besorgen dir einen Anwalt, der so gut argumentiert, dass er dich hier rausholt«, schlug Hellwig nun vor. »Und in den Medien wird genau dieser Anwalt sich vor die Kamera stellen und seine Empörung darüber zum Ausdruck bringen, wie schlecht du behandelt wurdest, obwohl inzwischen feststeht, dass du bei dem Überfall auf Gerhard Lohmüller nicht dabei warst, weil du ein hieb- und stichfestes Alibi hast und dir die Sache nur von der Polizei in die Schuhe geschoben werden sollte? Na, wie klingt das für dich? Du könntest dich wieder ganz normal auf der Straße blicken lassen, deine Mutter und deine Schwester besuchen und dein Leben weiterführen. Und deine Freunde würden dich feiern, weil dein Anwalt es uns Scheißbullen so richtig gezeigt hat.«

Holger sah ihn an. »Sie wollen mich nur verarschen«, stellte er fest. »So was geht nicht.«

»Doch«, sicherte Hellwig zu, »so was geht. Genau genommen können wir fast alles möglich machen. Es gibt nur ein paar kleine Bedingungen. Wenn du die erfüllst, wird es genau so laufen, und du hast dein Leben zurück.«

Die Tür ging auf, und eine Tasse duftenden Kaffees wurde vor Hellwig auf den Tisch gestellt.

In Holgers Kopf arbeitete es. Er könnte wieder auf die Straße gehen und müsste sich nicht in diesem Loch von Halle verkriechen. Vor allem aber könnte er den Kummer, den er seiner Mutter bereitet hatte, lindern. Und er könnte noch immer mit Monika leben und mit ihr sein Kind aufziehen. Alles war noch möglich. Und vielleicht könnten sie tatsächlich nach Frankreich gehen; sie könnten untertauchen, irgendwie.

»Was müsste ich tun?«, fragte er nun.

Hellwig trank einen Schluck Kaffee und stellte dann die Tasse mit einem breiten Lächeln ab.

»Wie schön, dass du zur Vernunft kommst«, befand er. »Also, Holger, dann hör mal gut zu. Denn hier geht es jetzt um dein Leben.«