Ich werde alles geben, um Holger zu beschützen. Nicht für ihn, sondern für Maria.
KLAUS SCHRÖDER
Klaus war gerade erst in seiner Wohnung gewesen und hatte sich frisch gemacht, als er den Anruf Marias erhalten hatte, dass Holger festgenommen worden war, worauf er sich sofort auf den Weg zurück zu der Wohnung in der Holsteinischen Straße machte, um sie abzuholen und zusammen mit ihr zum Gefängnis zu fahren. Einen kurzen Moment hatte Klaus sich noch mal gefragt, ob er wirklich der Richtige für diese Aufgabe war, gab es doch Kollegen die weit mehr Erfahrung auf dem Gebiet hatten. Andererseits, so sagte Klaus sich, war vermutlich niemand gründlicher und engagierter als er selbst, außer vielleicht solche Kollegen wie Siegfried Haag, der letztendlich selbst der Roten Armee Fraktion angehörte und hierfür verurteilt worden war.
Nein, da war er schon besser geeignet, wie er fand, doch da waren eben nicht nur die Bedenken in Bezug auf Holger, sondern auch auf Maria, die er natürlich jetzt keinesfalls im Stich lassen wollte.
Noch konnte er das, was letzte Nacht geschehen war, kaum begreifen, und er fühlte sich fast wie ein Teenager bei dem Gedanken an das, was er während der Stunden, die sie miteinander gehabt hatten, gefühlt hatte. Allein bei der Erinnerung überkam ihn am ganzen Körper eine Gänsehaut. Er liebte diese Frau. Und das nicht erst seit letzter Nacht, sondern schon über viele Jahre – er wusste nicht einmal mehr, wie lange. Lange Zeit hatte er das Gefühl, das er Maria gegenüber empfand, auch nicht wirklich deuten können. Sie war die Frau eines seiner Mandanten und für ihn schon deshalb vollkommen tabu. Er hatte sich zwar stets daran gestört, wie Hanns seine Frau behandelte, doch er fand auch, dass es ihm nicht zustand, sich einzumischen. Erst als ihm die Geschäfte, die Hanns tätigte, immer zwielichtiger erschienen und dieser dennoch größer und immer größer plante, hatte er Maria seinerzeit zur Seite genommen und sie eindringlich gebeten, nichts zu unterschreiben, was ihr Mann ihr vorlegte. Klaus hatte einfach eine ungute Ahnung gehabt, und es war ihm merkwürdig vorgekommen, dass Hanns ihm als seinem Rechtsanwalt stets nur in überschaubarem Maß Einblick bot, was Klaus’ Erfahrung nach stets nur Mandanten machten, die auch vor ihren Anwälten etwas zu verbergen suchten.
Doch nun, nach Hanns’ Tod, vor allem aber nach der gestrigen Nacht, war die Situation für Klaus eine ganz andere. Auch wenn er sich selbst ein wenig zügeln wollte, spürte er doch, sich mit allem voll und ganz in diese Beziehung zu stürzen, von der er hoffte, dass Maria sie genau so ernst nahm wie er selbst. Natürlich wusste er, dass es klüger wäre, die Sache etwas langsamer anzugehen. Doch er hatte sich so lange zurückgenommen und weder ihr und auch sich selbst seine Gefühle nicht eingestehen wollen, dass es für ihn wie ein Befreiungsschlag gewesen war, sie endlich in seinen Armen halten zu können. Und wenn es nach Klaus ginge, würde er diese wunderbare Frau auch nie wieder loslassen. Doch er hatte in den letzten Wochen auch verstanden, dass Maria sich nie wieder von einem Mann dominieren lassen würde. Dafür hatte sie mit Hanns zu viele negative Erfahrungen gesammelt. Aber danach stand Klaus ohnehin nicht der Sinn. Doch er musste sich zurückhalten, ihr nicht einfach nur blind helfen zu wollen und damit Dinge abzunehmen, die sie selbst zu erledigen hatte. Aber was die Sache mit Holger anging, da würde er all sein Wissen einbringen, um die bestmögliche Hilfe zu leisten, auch wenn er nur geringe Chancen sah, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Doch noch kannte er die Anklagepunkte, die gegen Holger vorlagen, nicht und konnte nur hoffen, irgendwo ein Schlupfloch zu finden, um zumindest die Strafe, die Holger zu erwarten hatte, abzumildern. Holgers und vor allem Marias wegen.
Er stellte den Wagen ab und ergriff kurz Marias Hand, die eiskalt war. Maria zuckte zusammen.
»Bist du bereit?«, fragte Klaus.
Maria schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie dann. »Aber ich habe wohl keine Wahl.«
Sie stiegen aus dem Auto und gingen zur Anmeldung. Dort nahm sie ein Beamter in Empfang, dem sie durch die langen Gänge folgten, bis sie in einen fensterlosen Raum geführt wurden.
»Der Kollege kommt gleich«, kündigte der Beamte an, bevor er das Zimmer, dessen Einrichtung lediglich aus einem Tisch mit vier Stühlen und einem Spiegel an der Wand bestand, wieder verließ und die Tür hinter sich schloss.
Klaus trat an Maria heran und fasste ihre Schultern. »Du schaffst das, Maria. Du musst jetzt stark sein, hörst du? Für deinen Sohn.«
Maria nickte und atmete tief durch. »Ja, das werde ich«, sicherte sie zu.
Die Tür wurde geöffnet, und fast gleichzeitig wandten Klaus und Maria sich um. Ein Mann, den Klaus noch nie gesehen hatte, betrat den Raum und ging mit ausgestreckter Hand auf Maria zu.
»Guten Morgen, Frau Borchardt«, grüßte er.
»Guten Morgen, Herr Hellwig«, gab Maria, sichtlich um Fassung bemüht, zurück. Dann wandte sich der Mann an Klaus.
»Achim Hellwig, Staatsschutz«, stellte er sich vor.
»Klaus Schröder. Ich bin der Rechtsanwalt der Familie Borchardt«, erklärte er. Maria hatte ihm von diesem Achim Hellwig erzählt, der letztens nach dem Anschlag auf Gerhard Lohmüller bei Maria vorstellig geworden war. Doch persönlich kennengelernt hatte er ihn bisher nicht.
»Ich weiß, wer Sie sind«, bemerkte Hellwig, was Klaus nur mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Tatsächlich jedoch hätte er ihn am liebsten gefragt, woher und weshalb dieser Hellwig wusste, wer er war. Doch Klaus hatte im Laufe seines beruflichen Werdegangs schon so viele verschiedene Arten manipulativer Spielchen erlebt, dass er erkannte, wann es besser war, eine Frage, die einem auf den Lippen brannte, nicht zu stellen. Also ging er einfach darüber hinweg.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, bot Hellwig an. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Wie geht es meinem Sohn?«, fragte Maria, ohne auf Hellwigs Angebot einzugehen. »Ist er hier?«
»Er wird jeden Moment vorgeführt werden«, antwortete Hellwig und deutete abermals auf die Stühle, worauf Klaus Maria kurz am Arm berührte und sie so dazu brachte, sich zu setzen, während er selbst neben ihr Platz nahm.
»Geht es Holger gut? Ist er verletzt?«, fragte Maria sogleich weiter.
»Er ist den Umständen entsprechend in guter Verfassung«, antwortete Hellwig.
»Und mit den Umständen entsprechend meinen Sie genau was?«, hakte Klaus nach.
»Nun, der Sohn Ihrer Mandantin hat eine Schusswunde erlitten, die nur recht behelfsmäßig versorgt wurde«, entgegnete Hellwig.
»Sie haben auf ihn geschossen?«, brachte Maria voller Sorge hervor.
»Nein, nicht wir. Noch ist nicht klar, wann ihm diese Verletzung zugefügt wurde, weil wir ihn nicht dahingehend befragt haben. Wir wollten natürlich, dass alles mit rechten Dingen zugeht und sein Anwalt im Raum ist, wenn wir ihn vernehmen«, klärte der Beamte mit einem Lächeln auf, was Klaus ihm keinesfalls abnahm. »Die Schusswunde ist schon einige Tage alt. Womöglich ist sie ihm bei dem Überfall auf Bankier Lohmüller zugefügt worden. Doch wie gesagt, haben wir bisher von einer Vernehmung abgesehen«, wiederholte er.
»Wann wurde mein Mandant festgenommen?«, fragte Klaus.
»Ist er Ihr Mandant? Ich meine, soweit ich weiß, sind Sie noch nicht von Herrn Borchardt mandatiert, oder? Und er ist ja volljährig, sodass eine solche Entscheidung von ihm selbst zu treffen ist, nicht wahr?«
»Ihren Worten entnehme ich, dass Sie mich darauf hinweisen wollen, dass Herr Borchardt alles, was er bisher an Aussagen getätigt haben sollte, ausdrücklich ohne einen Anwalt erklärt hat. Richtig? Oder täusche ich mich in Ihrer Intention?«
»Nun, wie gesagt, eine offizielle Aussage ist bisher nicht erfolgt. Und um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen: Herr Borchardt wurde gegen halb eins in der Früh vor Ihrer Wohnung in der Holsteinischen Straße aufgegriffen.« Bei diesen Worten sah er Maria an. »Er wollte sich offenbar gerade Zutritt zum Haus verschaffen.«
»Er wollte zu mir?« Maria schluckte schwer, und Klaus hätte sie nur zu gern kurz in den Arm genommen, war ihr doch anzusehen, wie sehr ihr das Ganze zu schaffen machte. Aber das war in dieser Situation natürlich ausgeschlossen.
»Ja, offenbar.«
»Sie haben also die Wohnung meiner Mandantin observiert?«, fragte Klaus, der sich nun zusammenreimen konnte, dass die Eingangsbemerkung Hellwigs, dass dieser wüsste, wer er sei, durchaus eine Anzüglichkeit gewesen war.
»Selbstverständlich«, bestätigte Achim Hellwig. »Und zwar mit entsprechenden Beschlüssen und allem Drum und Dran. Ich kann Ihnen gern die Akten zur Einsichtnahme zukommen lassen, wenn Sie wünschen.«
»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, gab Klaus zurück. »In Anbetracht der jetzigen Lage im Land dürften solche Beschlüsse leichter zu bekommen sein als eine Rolle Toilettenpapier.«
Hellwig sah ihn mit einem arroganten Lächeln an.
»Ich würde dann gleich Ihren Sohn«, er sah Maria an, »beziehungsweise Ihren künftigen Mandanten, wenn dieser Sie denn beauftragen möchte«, fügte er an Klaus gewandt hinzu, »herbringen lassen, wenn Sie so weit sind.«
»Danke«, sagte Maria und rieb sich die kalten Hände, worauf der Beamte des Staatsschutzes kurz den Arm in Richtung Spiegel hob und gleich darauf die Tür geöffnet wurde.
Maria stieß einen spitzen Schrei aus, als Holger in Handschellen hereingeführt wurde.
Maria sprang auf und eilte ihm entgegen. »Mein Gott, was ist mir dir geschehen? Du siehst furchtbar aus.«
Klaus blieb sitzen, konnte aber das Entsetzen Marias nur zu gut verstehen. Er wusste nicht genau, wann er Holger zuletzt gesehen hatte, erinnerte aber nach kurzem Nachdenken, dass es anlässlich der Beerdigung seines Vaters gewesen sein musste. Das war am 30. Dezember gewesen und damit noch nicht einmal vier Monate her. Doch Holger hatte seitdem gute zehn, vielleicht sogar noch mehr Kilo abgenommen und das, obwohl er auch zuvor schon ein schlanker junger Mann gewesen war. Sein Gesicht wirkte hager und ausgemergelt, sein Körper schien mit blauen Flecken übersät. Zumindest die nur bis zum Ellenbogen bedeckten Arme wirkten durch die vielen Hämatome richtiggehend dunkel, sodass man auf den ersten Blick hätte denken können, dass sie gebräunt wären. Doch ein kurzer zweiter Blick genügte, um zu erkennen, dass es eine Aneinanderreihung vieler Verletzungen und Blutergüsse war.
Die Haut über Holgers Wangenknochen schien zu spannen, und die Ringe unter seinen Augen waren tief und blutunterlaufen. Die Haare, die früher nie über den Nacken hinausgegangen waren, hingen zottelig und strähnig an ihm herunter und ließen ihn noch schäbiger aussehen, als er es durch seine abgewetzten, dreckigen Klamotten ohnehin schon tat. Von dem sportlichen, gepflegten jungen Mann, der Holger noch vor wenigen Monaten gewesen war, war nichts mehr übrig, und kurz musste Klaus an seinen eigenen Sohn Peter denken und daran, welches Glück er hatte, dass dieser von den Kreisen, in denen Holger sich bewegte, so weit weg war wie die Erde vom Mond.
»Bitte, Frau Borchardt, nehmen Sie wieder Platz«, forderte Hellwig, der sich nun daranmachte, Holger die Handschellen abzunehmen.
Maria setzte sich wieder, und Holger nahm ebenfalls Platz.
»Du siehst furchtbar aus«, wiederholte Maria und legte ihre Hand auf die des Sohnes. »Hast du schon etwas gegessen?«
»Sie haben mir was gegeben«, sagte nun Holger das erste Mal etwas, seit er den Raum betreten hatte.
Klaus sah ihn an. »Ich würde dich gern anwaltlich vertreten, wenn du einverstanden bist«, erklärte er.
Holger nickte. »Danke.«
»Nun gut«, Klaus musste sich räuspern, um seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Was genau wird meinem Mandanten zur Last gelegt?«
Hellwig sah Klaus eine ganze Weile an. »Ihr Mandant«, antwortete er dann, »wurde von uns wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und wegen der möglichen Beteiligung an dem Entführungsversuch mit anschließender Todesfolge des Bankiers Gerhard Lohmüller verhaftet.«
»Ich zeige hiermit die Verteidigungsbereitschaft an und würde gern mit meinem Mandanten allein sprechen – in einem Raum ohne Zuhörer«, sagte Klaus.
»Nun, womöglich wird das nicht nötig sein«, meinte Hellwig, worauf Klaus überrascht die Augenbrauen hob.
»Ach nein? Und weshalb nicht?«
»Es gibt von Behördenseite aus gewisse Zweifel an dem von den Zeugen geschilderten Ablauf im Hause Gerhard Lohmüllers, sodass hier weitere Ermittlungen noch ausstehen.«
Klaus zog die Stirn in Falten. »Zweifel welcher Art?«
»Die Zeugenaussagen«, setzte Hellwig zu einer Erklärung an, »stimmen nicht überein, und so, wie geschildert, kann sich die Tat nicht zugetragen haben.«
»Und was soll das bedeuten?«, fragte nun Maria.
»Ja, das würde mich auch interessieren«, sagte Klaus, der sich keinen Reim auf das machen konnte, was sein Gegenüber da von sich gab. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Klaus hatte natürlich wie wohl jeder andere in Berlin die Berichterstattung verfolgt, und der einzige Name, der hierbei immer wieder genannt worden war, war Holgers. Die Identität der anderen beiden war entweder nicht bekannt oder wurde von den Behörden nicht nach außen getragen. Doch dass es unterschiedliche Zeugenaussagen geben sollte, davon hörte Klaus jetzt das erste Mal. Zwar war es Aufgabe der Ermittlungsbehörden, den Tathergang lückenlos zu rekonstruieren und diesen wasserdicht aufzuzeigen, damit ihnen das Verfahren im späteren Prozess nicht kippte. Doch hier schien etwas ganz anderes im Gang zu sein, und Klaus hatte noch nicht die geringste Ahnung, was das sein könnte.
»Wir haben die Möglichkeit, Ihren Sohn und Ihren Mandanten«, Hellwig nickte erst Maria und dann Klaus zu, »noch eine Weile in Untersuchungshaft zu behalten, bevor wir endgültig entscheiden, ob Anklage gegen ihn erhoben wird.«
»Ob Anklage erhoben wird?«, hakte Klaus nach, dem das ganze immer eigenartiger erschien.
»Ganz recht. Das müsste Sie doch eigentlich freuen, oder nicht?«, meinte Hellwig.
Klaus sah Holger an, der die ganze Zeit über kein Wort gesagt hatte und nur mit gesenktem Kopf dasaß.
»Holger«, sprach Klaus ihn nun an, »wurde bereits vor diesem Termin hier mit dir geredet oder auf dich eingewirkt?«
Holger blickte nicht auf. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
»Ich verstehe das alles nicht. Was hat das zu bedeuten?«, fragte Maria.
»Nun, wir sehen das Gesamte«, klärte Hellwig auf. »Ihr Sohn stammt aus gutem Haus, und die Wahrscheinlichkeit, dass er einfach so zum Staatsfeind geworden ist, hält sich in Grenzen, sodass wir überlegen, ob es nicht besser wäre, ihn in Ihre Obhut zu entlassen und damit die Chance zu geben, sein Leben weiterzuführen.«
»Moment«, wandte Klaus ein. »Das können Sie uns nun wirklich nicht erzählen. Sie verdächtigen meinen Mandanten, zusammen mit einer terroristischen Gruppe einen mindestens fahrlässigen Totschlag begangen zu haben, und wollen ihn lieber in die Obhut seiner Mutter geben, als Anklage zu erheben?«
»Sollten Sie sich nicht eher darüber freuen, als sich zu beschweren, Herr Rechtsanwalt?«, fragte Hellwig arrogant.
»Wenn ich Ihnen trauen würde, vielleicht«, entgegnete Klaus. »Aber Sie werden mir mein Misstrauen verzeihen müssen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Ihnen kein Wort von dem glaube, was Sie hier von sich geben.«
Hellwig hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Also, einen Anwalt, der die Ermittlungsbehörden dazu bringen will, den Mandanten lieber hinter Gittern zu lassen, habe ich auch noch nicht erlebt. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir natürlich auch Anklage erheben und Ihren Mandanten wegsperren. Es scheint Ihnen ja nicht recht zu sein, ihn mitzunehmen. Ist die Wohnung Frau Borchardts zu eng für alle, die sich über den Tag oder die Nacht dort aufhalten?«, versuchte Hellwig, ihn breit grinsend zu provozieren.
Klaus lächelte nur, wäre aber am liebsten aufgesprungen und hätte diesem Kerl ins Gesicht geschlagen.
»Wir können Holger mitnehmen?«, fragte Maria aufgeregt. »Wirklich?«
»Aber ja, unseretwegen schon. Natürlich dürfte Ihr Sohn die Stadt nicht verlassen und müsste sich für weitere Fragen zur Verfügung halten. Doch von unserer Seite«, wieder machte er die Handbewegung, »spricht nichts dagegen.«
Klaus schüttelte den Kopf, doch Maria fasste seinen Arm.
»Du hast es gehört, Klaus.« Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Wir können Holger mitnehmen.« Sie wandte sich an Hellwig. »Nicht wahr?«
»Wie gesagt, unter den soeben genannten Auflagen.«
»Holger«, sprach Klaus ihn nun an, doch er reagierte nicht. »Holger, hast du verstanden, was hier eben besprochen wurde?« Es dauerte einen Augenblick, dann nickte Holger, sah ihn dabei jedoch nicht an.
»Und das überrascht dich nicht?«, hakte Klaus nach.
»Vermutlich überrascht es Ihren Mandanten deshalb nicht, weil er genau weiß, dass die Sache bei Bankier Lohmüller nicht wie von der Presse dargestellt gewesen sein kann und er selbst nicht einmal in der Nähe war«, beeilte sich Hellwig zu erklären.
»Es war also alles nur ein Missverständnis, sagen Sie?«, bohrte Klaus nach. »Mein Mandant war gar nicht vor Ort?«
»So habe ich das nicht gesagt. Wir ermitteln noch«, wich Hellwig aus.
»Bitte, Klaus, du hast es gehört. Wir können gehen«, beharrte Maria. »Also lass uns auch gehen. Uns und Holger ebenfalls.«
Klaus blickte Hellwig einen Moment lang an, dann sah er noch mal zu Holger, der nicht ein einziges Mal aufgeblickt hatte.
»Nur eines noch. Was ist mit der Verletzung meines Mandanten?«
»Wie ich Ihnen vorhin schon erklärte, hat er die schon länger, was auch ein Arzt bestätigen wird, sollten Sie die Wunde entsprechend begutachten lassen. Wir haben hier lediglich eine vernünftige Versorgung gewährleistet, das ist alles.«
»Aber vorhin sagten Sie, dass es eine Schusswunde sei, die mein Mandant sich womöglich bei dem Überfall auf Gerhard Lohmüller zugezogen hätte.«
»Sagte ich das? Daran erinnere ich mich nicht«, wich Hellwig erneut aus. »Sie können ja Ihren Mandanten fragen, wie es zu der Verletzung kam.« Hellwig stand auf. »Allerdings betrifft das nicht meine Ermittlungen, sodass ich davon nichts erfahren muss.«
Klaus musterte ihn prüfend, dann erhob er sich. »Ich verstehe jetzt, worum es hier geht«, sagte Klaus, dem es in diesem Moment fast lieber gewesen wäre, Holger hier zu lassen, da er diesen hinter Gittern weit sicherer wähnte als in Freiheit, wenn es wirklich so war, wie er vermutete.
Maria stand ebenfalls eilig auf und berührte Holgers Arm.
»Komm. Wir bringen dich nach Hause.«
»Also soll ich als Aufenthaltsort die Holsteinische Straße in meinen Akten notieren?«, fragte Hellwig.
»Ja bitte, tun Sie das. Mein Sohn wird bei meiner Tochter und mir wohnen. Wir kümmern uns um ihn.«
»Gut, dann hätten wir das«, stimmte Hellwig zu und lächelte Klaus an. »Dann ist ja trotz Ihrer Anwesenheit für Ihren Mandanten noch mal alles gut ausgegangen, nicht wahr?«
Wieder verspürte Klaus einen unbändigen Drang, dem Kerl ins Gesicht zu schlagen, und wieder hielt er sich zurück.
»Ja, Anwälte. Sie erkennen eben nie, wenn es die Behörden nur gut mit ihren Mandanten meinen, nicht wahr?« Hierbei trat er nah an Hellwig heran, den er fast um eine Kopflänge überragte. Dieser hielt seinem Blick einen Augenblick stand, dann trat er zurück und streckte Maria eilig die Hand entgegen. »Auf Wiedersehen, Frau Borchardt.«
»Auf Wiedersehen, Herr Hellwig. Und haben Sie vielen Dank für alles, was Sie für meinen Sohn getan haben.«
»Das habe ich wirklich gern gemacht«, gab Hellwig zurück, worauf Klaus nur den Kopf schüttelte.
»Komm, Holger«, sagte er nun und trat an dessen Stuhl heran. »Kannst du aufstehen?«
Holger nickte stumm, musste aber zwei Anläufe nehmen, um sich aufzurichten.
»Ach, und Herr Borchardt, hier ist noch meine Nummer. Lassen Sie doch mal von sich hören! Ich würde mich freuen.« Hellwig hielt ihm seine Visitenkarte entgegen, und als Holger diese nicht nahm, steckte er sie ihm oben in die Brusttasche. »Und nicht vergessen, Herr Borchardt. Wir wünschen Ihnen alles Gute. Bestimmt sieht man sich mal.«
Holger erwiderte nichts, blieb nur in gebeugter Haltung stehen.
Klaus verzichtete darauf, sich von Hellwig zu verabschieden, und fasste stattdessen Holger unter, weil er befürchtete, dass dieser jeden Augenblick zusammenbrechen würde. Langsam gingen sie den Korridor entlang, an dessen Ende ein Beamter stand, der sie nun innerhalb des Gebäudes begleitete und schließlich durch eine andere Tür als die, durch die sie hereingekommen waren, hinausließ.
»Schönen Tag noch«, wünschte er, dann schloss er von innen zu.
Maria lachte und schluchzte zugleich. »Ich bin ja so erleichtert. Damit hätte ich nie gerechnet. Mein Gott, du bist wirklich frei.«
Weder Klaus noch Holger sagten etwas oder teilten Marias Freude.
Bei Klaus’ BMW angekommen, verfrachteten sie Holger auf den Rücksitz, der sich sogleich auf die Seite fallen ließ und sich hinlegte. Dann stiegen auch Klaus und Maria ein, die kurz seine Hand nahm.
»Ist das nicht unglaublich! Es ist wie ein Wunder«, brachte sie glücklich hervor.
»Ja, sicher«, bestätigte Klaus, der nicht wusste, wie er ihr beibringen sollte, dass Holger seiner Meinung nach nun in weit größerer Gefahr war als je zuvor. Es war offensichtlich, dass dieser Hellwig Holger ein Angebot gemacht hatte, ihm das Gefängnis zu ersparen, wenn er hierfür seine Kumpane bespitzelte und die Informationen an die Behörden weitergab. Zumindest war das für Klaus die einzig mögliche Erklärung für Holgers Freilassung. Doch das würde er Maria nicht sagen können. Die nächsten paar Tage würde Holger vermutlich erst einmal sicher sein, doch sobald seine Kameraden von der RAF mitbekamen, dass er auf freiem Fuß war, war für Klaus völlig unberechenbar, wie diese sich verhalten würden. Zwar würde Hellwig Holger eine Geschichte diktiert haben, die einigermaßen glaubhaft war, um sie den Mitgliedern der RAF zu verkaufen. Schließlich nützte Holger den Behörden nichts, wenn er an keine Informationen herankam oder womöglich einfach umgebracht wurde. Klaus kannte sich in den Kreisen zu wenig aus, um sich wirklich vorstellen zu können, was man dort mit einem Spitzel anstellte. Doch wenn er an die Anschläge und Attentate dachte oder eben auch an die missglückte Entführung Lohmüllers, die ja mehr als deutlich zeigte, wozu diese Leute fähig waren, wurde Klaus mehr als nur mulmig.
»Ich verstehe wirklich nicht, weshalb du dich nicht freust. Was hast du bloß?« Maria sah ihn vorwurfsvoll an.
»Nichts, gar nichts«, gab Klaus zurück. »Ich bin eben Anwalt. Ein Verfahren, bei dem Holgers Unschuld festgestellt worden wäre und er mit einem Freispruch aus dem Gerichtssaal hätte gehen können, wäre mir wohl einfach lieber gewesen«, log er.
»Hauptsache, er ist frei.« Maria drehte sich um und blickte kurz auf ihren auf dem Rücksitz liegenden Sohn. »Fahr uns nach Hause, Klaus, damit ich meinen Sohn aufpäppeln und wieder einen Menschen aus ihm machen kann.«
»Ja sicher.« Klaus startete den Motor und warf nur noch einen kurzen Blick zu Maria, die einen erleichterten Seufzer von sich gab. Wie würde diese Sache wohl ausgehen? Und wie viel würde Maria noch ertragen können, bis sie endgültig zerbrach?