17. Kapitel

Holsteinische Straße 23, Berlin-Wilmersdorf

Dienstag, 10. Mai 1977

Es wird besser. Jeden Tag und nur in kleinen Schritten. Aber es wird.

Maria Borchardt

Genau zwei Wochen war es nun her, seit sie zusammen mit Klaus Holger aus dem Gefängnis geholt hatte. Zwei Wochen, die aus ihrem Sohn fast einen neuen Menschen gemacht hatten. Natürlich war er noch nicht wieder ganz der Alte und noch immer zu dünn. Doch er hatte zumindest so weit zugenommen, dass er nicht mehr so krank aussah, und auch seine blauen Flecken, mit denen sein ganzer Körper übersät gewesen war, waren inzwischen abgeheilt, sodass er zumindest wieder eine gesunde Hautfarbe hatte.

Eine Weile hatte Maria geglaubt, ihn ins Krankenhaus bringen zu müssen, weil er die ersten drei Tage fast durchgehend nur geschlafen hatte und so gut wie nichts zu sich nehmen konnte. Er war vollkommen kraftlos gewesen und hatte, wenn er sich aufraffte, um zur Toilette zu gehen, immer wieder mit Gleichgewichtsschwierigkeiten zu kämpfen; zweimal war er sogar gestürzt, ohne dass er sich noch hätte abfangen können. So war es eine ganze Weile gegangen, und Maria war fast durchgehend damit beschäftigt gewesen, sich um ihn zu kümmern, immer in der Angst, dass ihr Sohn sich nicht von dem, was er durchgemacht hatte, würde erholen können. Doch seit letzter Woche war eine merkliche Verbesserung bei Holger eingetreten, genau genommen nachdem der Beamte des Staatsschutzes, dieser Achim Hellwig, angerufen hatte. Maria hatte es als sehr nette Geste empfunden, dass er sich nach Holgers Gesundheitszustand erkundigt hatte. Die beiden hatten zwar nicht lange telefoniert, doch für Holger schien es eine Art Weckruf gewesen zu sein, da er seit dem Telefonat am vergangenen Freitag die erschöpfte Lethargie, die von ihm Besitz ergriffen hatte, aufgegeben und ihr am heutigen Morgen mitgeteilt hatte, dass es an der Zeit sei, wieder unter Menschen zu gehen.

Mit das Wichtigste war aber neben Holgers Gesundung für Maria, dass es in letzter Zeit eine Vielzahl von Zeitungsberichten wie auch Radiobeiträge gegeben hatte, in denen die Meldung der Polizei herausgegeben wurde, dass sich der gegen Holger gerichtete Tatverdacht im Zusammenhang mit der Ermordung Gerhard Lohmüllers nicht erhärten ließ und dessen Rechtsanwalt somit die Freilassung Holgers erzwungen hätte. Zwar fand Maria es eigenartig, wusste sie doch, dass Klaus keinesfalls Druck ausgeübt hatte, da sie ja dabei gewesen war. Doch ganz bestimmt würde sie die Angelegenheit nicht richtigstellen, galt doch Holger in den Augen der Öffentlichkeit zwar nicht als vollständig rehabilitiert, aber zumindest war klar, dass ihr Sohn sich nicht an der geplanten Entführung, bei der Gerhard Lohmüller schließlich sein Leben verlor, beteiligt hatte. Hierdurch war auch ihr eigenes Leben wieder etwas leichter geworden, wurde sie doch nicht länger als die Mutter eines Mörders abgestempelt.

Am vergangenen Sonntag war sie zusammen mit Holger und Hanna zu ihrer Schwiegermutter Gertrud in die Seniorenresidenz gefahren, die nun auch endlich ihren Enkel einmal kennenlernen sollte. Der Nachmittag war geradezu verflogen, und sie alle hatten die Stunden genossen, in denen von Hanns Pleite oder Holgers vermeintlichen Taten einfach mal keine Rede gewesen war. Sie waren als Familie zusammengekommen und hatten sich unterhalten. Wie gut doch so etwas Alltägliches tun konnte.

Wenn sich alles auf diese Weise weiterentwickelte, so hoffte Maria, würde sie in nicht allzu ferner Zukunft so etwas wie ein ganz normales Leben wiederhaben. Allerdings war damit auch verbunden, dass sie die Wohnsituation klären musste. Natürlich wollte sie es Holger nicht spüren lassen, doch seit er da war, war die Drei-Zimmer-Wohnung einfach zu klein geworden. Maria hatte Holger ihr Bett überlassen und schlief derzeit mit bei Hanna im Zimmer, was alles andere als optimal war. Dass dies nur eine Notlösung sein konnte, war allen absolut bewusst. Doch Maria wollte noch ein wenig abwarten, bis sie sich um eine andere Bleibe kümmerte, war doch abzusehen, dass ihre Kinder nicht ewig mit ihr unter einem Dach leben wollten. Vielleicht würde ja auch bei Gelegenheit eine der Wohnungen in der Gleditschstraße frei, die ihr selbst gehörten und die sie sich inzwischen zusammen mit Klaus hatte ansehen können. Und anders, als Maria es erwartet hatte, waren es schöne Wohnungen, wenngleich sie nur die des Hausmeisters und eine weitere hatten besichtigen können. Erich Boltke, der Hausmeister, war von ihrem Besuch mehr als überrascht gewesen. Wie er ihnen erzählte, hatte er doch noch nie mit jemandem von der Verwaltungsfirma gesprochen, und das in all den Jahren nicht, die er die Stellung nun schon hatte. Lediglich zu Beginn seiner Tätigkeit war ein einziges Mal eine Frau aufgetaucht, die ihn in seinen Aufgaben unterwiesen hatte. Anhand seiner Beschreibung vermuteten Maria und Klaus, dass es sich um Ursula Schneyder gehandelt haben könnte, die lange Jahre Hanns Sekretärin gewesen war. Dem Hausmeister hatte sie ein Sparbuch der Immobilienfirma in die Hand gedrückt, auf das er zugreifen konnte und das einzig dazu diente, um Dinge, die defekt waren, zu reparieren oder eben zu ersetzen. Wenn neue Verträge zu schließen waren, hatte Boltke bisher einen der Mietvertragsvordrucke benutzt, die Angaben ausgefüllt und diesen an die Adresse in der Koenigsallee 75 geschickt, nur um diesen dann wenige Tage später unterzeichnet wieder in seinem Briefkasten vorzufinden. Die einzige weitere Bedingung war, dass er einmal jährlich über die Ausgaben abzurechnen und die Belege an die Immobilienfirma zu übersenden hatte. Und das hatte er stets getan. Boltke hatte sich laut seinen eigenen Angaben schon gewundert, dass die Unterlagen, die er wie üblich im Januar an die ihm bekannte Adresse übersandt hatte, als unzustellbar zurückgekommen waren. Er hatte es für einen Irrtum gehalten, jedoch nicht weiter nachgeforscht, da zum einen noch immer genug Geld auf dem Sparbuch vorhanden war und zum anderen sein monatliches Gehalt ohne jede Unterbrechung überwiesen wurde. Trotzdem beeilte er sich Maria gegenüber zu beteuern, dass er sich noch bemüht hätte, die neue Adresse herauszufinden, irgendwann in den nächsten Wochen. Das glaubte sie ihm zwar nicht, aber dennoch versicherte sie ihm, dass es kein Problem sei.

Maria konnte nur den Kopf darüber schütteln, wie Hanns über all die Jahre Firmen gelenkt und Menschen nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen, und das, obwohl diese ihn wie im Fall Boltke nicht einmal zu Gesicht bekommen hatten. Viel wichtiger an der Begegnung mit Erich Boltke war jedoch gewesen, dass dieser ihnen davon erzählte, dass die Mieter einer Erdgeschosswohnung im mittleren Wohnblock bereits ausgezogen seien, nachdem sie zum 30. April hin gekündigt hatten. Allerdings hätten sie noch immer nicht die Schlüssel abgegeben, und er wusste auch nicht, wohin die Mieter verschwunden waren. Er würde also nicht drumherum kommen, die Schlösser auswechseln zu lassen, so ärgerlich das auch war.

Maria und Klaus schienen den gleichen Gedanken gehabt zu haben, als sie den Hausmeister fragten, ob sie sich die Wohnung mal ansehen dürften und er mit seinem Zentralschlüssel öffnen könnte. Maria hatte Schlimmes erwartet, womöglich sogar zurückgelassenen Müll oder wer weiß was noch. Doch tatsächlich war die Wohnung besenrein geräumt hinterlassen worden, und die früheren Mieter hatten offenbar wirklich nur vergessen, die Schlüssel abzugeben. In jedem Fall konnte man dort ohne Weiteres einziehen. Damit hatte Maria nun eine Adresse, auf die sie die beiden Immobilienfirmen, die auf ihren Namen liefen, sofort ummelden konnte.

Um den Schriftkram hatte Klaus sich gekümmert, während Maria durch das Gespräch mit dem Hausmeister ein Einfall gekommen war und sie gestern ihren Mut zusammengenommen und bei Ursula Schneyder, der früheren Sekretärin ihres Mannes, angerufen hatte. Frau Schneyder war eine der wenigen gewesen, die zu Hanns Beerdigung gekommen waren und Maria und den Kindern ihr Beileid ausgesprochen hatten. Wie sie jedoch inzwischen zu Maria und alldem stand, was nach Hanns Tod ans Licht gekommen war, hatte Maria nicht wissen können, sodass sie erleichtert gewesen war, wie freundlich die frühere Sekretärin reagiert hatte, als Maria ihren Namen nannte.

Frau Schneyder hatte sich aufrichtig gefreut, mal wieder etwas von ihr zu hören, und ihr Mitgefühl über das Vorgefallene und das, was Maria zu erdulden hatte, zum Ausdruck gebracht. Vor allem empörte sie diese Schmutzkampagne gegen Holger. Sie kannte ihn ja schließlich von klein auf und hatte nach eigenem Bekunden all ihren Bekannten, die nach dem Entführungsversuch und dem daraus resultierenden Tod Gerhard Lohmüllers darüber gesprochen hatten, mitgeteilt, dass sie der festen Überzeugung sei, Holger Borchardt sollte nur zum Sündenbock gemacht werden. Sie war sich absolut sicher, dass Holger zu einer solchen Tat niemals fähig wäre, bekundete sie, wofür Maria ihr dankte.

Dann sprach sie Ursula Schneyder auf die Immobilienfirma und die Wohnungen in der Gleditschstraße an, die auch sofort im Bilde war. Maria verstand selbst nicht, warum sie sich nicht schon längst mit der früheren Sekretärin ihres Mannes in Verbindung gesetzt hatte, hätte sie sich doch denken können, dass die Frau vermutlich über die meisten Dinge weit besser Bescheid wusste als jede andere. So hatten die beiden sich dann am gestrigen Tage im Café Kranzler getroffen und miteinander geplaudert. Es war schön gewesen, Frau Schneyder endlich einmal wieder zu treffen, und während sie sich zuvor jahrzehntelang gesiezt hatten, waren sie nun per Du. Maria freute sich über das Wiederaufleben des Kontakts, mehr jedoch noch darüber, dass Frau Schneyder künftig für sie arbeiten würde. Denn Ursula kannte sich so gut mit allem aus, was die Immobilien- und auch die Hausverwaltungsfirma anging, dass es für Maria nur logisch gewesen war. Seit dem Zusammenbruch von Hanns Imperiums war Ursula Schneyder arbeitslos und hatte mit ihren zweiundfünfzig Jahren trotz ihrer Qualifikationen keine neue Anstellung finden können. Vermutlich hatten die Menschen gegen sie die gleichen Vorurteile wie gegen Maria selbst und glaubten, dass sie Hanns Machenschaften unterstützt hätte.

Für Maria war es ein eigenartiges Gefühl, nach und nach den Schritt in die Arbeitswelt zu wagen, doch sie hatte eine unglaubliche Freude daran. Sie würde in nächster Zeit auch noch die restlichen ihrer Pelzmäntel verkaufen, um so die Einrichtung des neuen Büros bezahlen und Ursula einen vernünftigen Arbeitsplatz herrichten zu können. Außerdem hatte Maria vor, sich selbst auch ein Büro dort einzurichten, denn je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr der Gedanke, die Firmen, die ihr nun rechtmäßig gehörten, nicht nur laufen zu lassen und still weiterzubetreiben, sondern dies nur als Grundstock zu nehmen und hieraus etwas Neues entstehen zu lassen. Natürlich wusste sie, dass noch ein harter und vor allem steiniger Weg vor ihr lag. Doch anhand der Zahlen war zu sehen, dass die beiden Firmen jeden Monat Gewinn einbrachten, der zumindest reichen würde, die Kredite kontinuierlich zu tilgen, Ursula zu bezahlen und auch noch für sich selbst ein Gehalt zu entnehmen. Mit dem verdienten Geld könnte sie ihre Miete an Klaus entrichten und auch den Unterhalt für sich und ihre Kinder bestreiten. Auch wenn Hanns das sicher nicht vorgehabt hatte und für ihn die Summen, die auf diesem Wege monatlich reinkamen, nicht der Rede wert gewesen waren, hatte er Maria und den Kindern damit dennoch etwas Bleibendes hinterlassen, mit dem sie sich über Wasser halten konnten. Einzig die Kosten für das Seniorenheim würden hiermit nicht zu stemmen sein, sodass Maria irgendwie versuchen musste, die monatlichen Einnahmen zu steigern, auch wenn sie noch nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie dies bewerkstelligen sollte.

Das Telefon klingelte in dem Augenblick, als Maria gerade die Wohnung verlassen wollte.

»Ja, hallo? Hier bei Borchardt.«

»Maria, ich bin es, Lea«, meldete sich die Clubbesitzerin.

»Ach, das ist ja eine Überraschung. Hanna sagte mir schon, dass du noch anrufen und mich um einen Gefallen bitten wolltest. Was kann ich für dich tun, Lea?«

»Zunächst einmal«, gab Lea zur Antwort, »wäre es wunderbar, wenn du dir einen Anrufbeantworter zulegen würdest. Ich habe schon gefühlte hundert Male versucht, dich zu erreichen.«

Maria lachte auf. »Ach, entschuldige. Ich bin in den letzten Tagen so viel unterwegs gewesen. Aber Holger ist eigentlich bis auf jetzt gerade die meiste Zeit zu Hause.«

»Nun«, erwiderte Lea. »Wenn das so ist, dann geht er nicht ans Telefon.« Sie lachte auf. »Hanna wird dir ja schon angekündigt haben, worum es geht. Wärst du einverstanden?«

»Entschuldige, Lea, doch ich stehe auf dem Schlauch. Hanna hat mir nur gesagt, dass du dich meldest. Mehr nicht.«

»Wirklich? Das ist eigenartig. Ich ging davon aus, dass sie mit dir sprechen würde.«

»Ach, bestimmt hat sie es in ihrer Eile mal wieder vergessen. Seit sie das erste Mal selbst den Film machen darf, hat sich einiges verändert. Ich bekomme sie ja kaum noch zu Gesicht. Doch wenigstens scheint sie glücklich zu sein.«

»Ja, das ist auch mein Eindruck«, bestätigte Lea. »Also gut, um es kurz zu machen: Ich möchte für eine Weile verreisen, und deshalb wollte ich dich bitten, über deine Immobilienverwaltung als Ansprechpartner für meine Mietobjekte zu fungieren und gern auch ein Auge auf den Club zu haben.«

»Ach du meine Güte!«, gab Maria überrascht zurück. »Du weißt aber schon, dass ich bisher so gut wie keine Erfahrung habe, oder?«

»Ja, natürlich ist mir das klar. Es geht eigentlich auch eher darum, dass ich einen offiziellen Ansprechpartner nennen kann, sollte drüben im Hotel etwas sein oder aber bei den Mietern hier im Haus. Offen gesagt, ist sonst auch so gut wie nie etwas. Doch wenn es mal dumm kommt, möchte ich lieber vorgesorgt haben.«

»Natürlich helfe ich dir sehr gern, wenn ich kann. Wann willst du denn aufbrechen?«

»Am kommenden Samstag«, antwortete Lea.

»Was? So schnell schon?«

»Ja, ich werde nach Israel zu meiner Mutter reisen und dort auch eine Freundin besuchen, die sich um meine Mutter kümmert.«

»Ist denn alles in Ordnung bei deiner Mutter?«

»Sie hat sich im letzten Jahr den Oberschenkelhals gebrochen und laboriert noch immer daran.«

»Das tut mir wirklich leid.« Maria sah auf die Uhr. »Ich wollte sowieso gerade los und noch einiges erledigen. Wärst du einverstanden, wenn ich nachher bei dir vorbeikäme, damit du mir alles zeigst und erklärst?«

»Sicher, sehr gern. Komm, wann du willst. Ich bin hier.«

»Gut. Dann bis nachher! Ich freue mich.«

»Ich mich auch!«, erwiderte Lea. Dann legte Maria den Hörer auf. Es war schon eigenartig, wie gut sie sich mit der früheren Geliebten ihres Mannes verstand. Sie hatte das Gefühl, dass Lea diejenige gewesen war, die sie ins Leben zurückgeholt hatte. Seit Maria den ersten Schritt gemacht und Lea im Club aufgesucht hatte, hatten sie ein paarmal telefoniert. Irgendwie hatte Maria das Gefühl, dass sie eine ganz besondere Verbindung zueinander hatten. Und sie war glücklich, nun etwas zurückgeben zu können, indem sie sich um Leas Immobilien kümmerte, damit diese sich während ihrer Abwesenheit keine Gedanken zu machen brauchte. Einzig, dass Lea soeben gesagt hatte, hier nie jemanden erreicht zu haben, machte Maria stutzig. Sie und Hanna waren die meiste Zeit außer Haus, aber Holger hätte doch da sein müssen. Gut, vielleicht war er zu Hause gewesen und hatte einfach keine Lust gehabt, ans Telefon zu gehen. Doch da war auch die Sorge, dass ihr Sohn womöglich nicht ehrlich zu ihr war und sich wieder mit diesen Leuten traf, diesen Radikalen, die ihn fast ins Unglück gestürzt hätten. Kurz überlegte Maria, ob sie versuchen sollte, Holger zu finden. Doch wo sollte sie überhaupt nach ihm suchen? Wieder sah sie auf die Uhr. Sie musste sich beeilen, wollte sie ihre Schwiegermutter nicht warten lassen, der sie versprochen hatte, sie abzuholen und ihr die Wohnung in der Gleditschstraße zu zeigen, in der sie künftig ihr Büro haben würde. Es war schon eigenartig, doch sie verstand sich so gut mit Gertrud und mochte es so sehr, Zeit mit dieser zu verbringen, dass es sich anfühlte, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen und nicht erst wenige Wochen. Maria schob ihre Sorge um Holger beiseite, griff sich den Schlüssel zu Uschis Auto, nahm ihre Handtasche, verließ die Wohnung und machte sich dann auf direktem Weg zu Gertrud.

Eigentlich wollte Maria den Wagen auf dem nahe gelegenen Parkplatz der Seniorenresidenz parken, entdeckte dann jedoch Gertrud, die schon auf der Bank vor dem Gebäude auf sie wartete. Als sie Maria kommen sah, stand sie auf und winkte.

»Ich hoffe, du wartest nicht schon lange?«, fragte Maria, als Gertrud eingestiegen war und die Frauen sich kurz umarmt hatten.

»Aber nein, überhaupt nicht. Und selbst wenn dem so wäre. Zum einen habe ich sowieso nichts Besseres zu tun, und zum anderen freue ich mich stets so sehr auf unsere gemeinsamen Unternehmungen, dass ich mich immer schon eine Weile vor unserer Verabredung dort vorn auf die Bank setze und nach dir Ausschau halte.«

»Ach Gertrud, hätte ich nur früher von dir gewusst. Wir beide hätten schon jahrelang Spaß haben können«, meinte Maria, ließ den Motor an und fuhr in den Kreisel ein. Nachdem sie die S-Bahn-Trasse überquert hatte, bog sie am Kreisverkehr Zeltinger Platz nach rechts in die Burgfrauenstraße und von dort aus wieder nach rechts in die Berliner Straße ein. Sie folgte der Straße bis zum Hermsdorfer Damm, bog dort rechts ab und fuhr weiter bis zur Waidmannsluster Straße. Dort bog sie links in die Seidelstraße ab, auf der sie sich Richtung Innenstadt wandte. Nach der der Scharnweberstraße fuhr sie über den Hohenzollernkanal und von dort aus den Kurt-Schumacher-Damm entlang, am kurz darauf auf der rechten Seite folgenden Schloss Charlottenburg vorbei. Sie befuhr dann die Kaiser-Friedrich-Straße, die Lewishamstraße und die Brandenburgische Straße, bis sie nach links in die Berliner Straße, die ab der Kreuzung mit der Kufsteiner und der Bamberger Straße in die Grunewaldstraße überging, einbiegen musste. Nach Querung des Bayerischen Platzes passierte sie das rechts liegende imposante Gebäude des Amtsgerichts Schöneberg und erreichte nach gut siebenhundert Metern die Gleditschstraße, in die sie abbog.

»So, da wären wir«, verkündete Maria und hielt vor einem der Mehrfamilienhäuser an. Die Frauen stiegen aus, und Gertrud beschattete mit ihrer Hand die Augen, als sie an dem Wohnblock hinaufsah.

»Das gehört alles dir?«, fragte sie.

»Ja, aber du kennst ja die Geschichte dazu. Es war nicht mein Verdienst, dennoch ich bin froh, diese Immobilien jetzt zu haben. Komm. Mal sehen, ob sich drinnen schon etwas getan hat.«

Zusammen gingen sie zur Tür, und Maria wollte gerade aufschließen, als diese auch schon von drinnen geöffnet wurde.

»Guten Tag, Frau Borchardt«, grüßte Erich Boltke eifrig und hielt die Tür auf.

»Herr Boltke, sind Sie fleißig?«, fragte Maria ebenso überrascht wie erfreut.

»Aber ja. Ich habe mir das Ganze mal angeguckt, da brauchen Sie nicht extra einen Maler. Der Erich macht das schon.« Er tippte sich mit dem Finger gegen die Brust.

»Das ist wirklich reizend von Ihnen. Darf ich Sie mit meiner Schwiegermutter bekanntmachen? Gertrud, Erich Boltke, Hausmeister und gute Seele.«

»Sehr erfreut, Herr Boltke. Das ist aber reizend, dass Sie meiner Schwiegertochter behilflich sind.«

»Aber das mache ich doch gern«, gab er zurück. »Der hintere Raum ist so gut wie fertig«, berichtete der Hausmeister und ging voraus. »Aber passen Sie bloß mit Ihren guten Kleidern auf«, mahnte er. »Die Farbe ist noch nicht trocken.«

»Das machen wir«, versicherte Maria und war glücklich zu sehen, wie sich die Ausstrahlung des Raumes durch den neuen Anstrich schon jetzt verändert hatte. Die Tapeten waren zwar nicht wirklich schmutzig gewesen, aber eben doch vergilbt, weil die Mieter offenbar Raucher gewesen waren. Nun jedoch wirkte es schon um so viel gepflegter. Maria trat noch weiter in den Raum.

»Ich sehe es schon richtiggehend vor mir«, sagte sie glücklich. »Diese Wand dort hinten werden wir farblich noch anpassen und dort eine Kommode aufstellen und einen großen Spiegel darüber hängen. Bitte passen Sie mit der Lampe auf, Herr Boltke. Die bleibt nämlich.«

»Das olle Ding?«, fragte er nach.

»Das olle Ding , wie Sie die Lampe nennen«, belehrte ihn Maria, »ist eine originale Art-déco-Arbeit aus der Werkstatt von Petitot, etwa aus dem Jahr 1920. Der Stil ist unverkennbar. Und wegen genau dieser Lampe werden wir auch die Wand dort hinten in einem blassen Rosaton gestalten und den Spiegel mit einem Rahmen in einem matten Goldton versehen.«

Gertrud sah sich um. »Ach, das wird bestimmt herrlich«, schwärmte sie. »Und wie willst du es sonst noch einrichten?«, fragte sie nun.

»Hier«, Maria ging ein paar Schritte in Richtung Fenster, »wird schräg mein Schreibtisch sehen. So sehe ich einerseits, wer reinkommt, kann aber auch nebenher einen Blick auf diese wunderschöne Grünanlage werfen.« Sie wies auf einen Platz neben dem Fenster. »Dort kommen zwei bequeme Sessel hin, dazwischen steht ein kleiner Tisch im gleichen Stil wie der Spiegelrahmen. Und in die Mitte des Raumes kommt dann ein großer runder Tisch mit sechs Stühlen, und hier hinten lasse ich am besten gleich zwei Regale für die Projekte anbringen – das obere für die laufenden, das untere für die erledigten.« Maria spürte ihr Herz heftig klopfen.

»Ich habe das Gefühl, alles schon vor mir zu sehen.«

»Also hätte ich dieses Zimmer gar nicht weiß streichen sollen?«, fragte Boltke nun nach.

»O doch«, versicherte Maria. »Das Gelb wäre sonst immer wieder durchgekommen und hätte den neuen Farbton unschön verfärbt.«

»Na, wenn Sie meinen«, gab der Hausmeister zurück.

»Sie leisten hier wirklich eine ganz wunderbare Arbeit, Herr Boltke«, lobte nun auch Gertrud, worauf der Hausmeister kurz lächelte.

»Hier drüben fange ich morgen an«, erklärte er nun und ging in den Nebenraum, der künftig das Büro Ursula Schneyders werden sollte. »Ich habe aber auch noch andere Sachen zu tun, sodass es noch ein bisschen dauern wird.«

»Das macht überhaupt nichts«, meinte Maria. »Es wäre nur schön, wenn Sie schon einmal draußen zwei Briefkästen mit diesen Schildchen anbringen könnten.« Sie reichte ihm die vorbereiteten Namensschilder.

»M. Borchardt Immo GmbH und M. B. Verwaltungen GmbH«, las der Hausmeister ab. »Na, dann muss ich ja die Jahresabrechnung künftig nicht mehr per Post schicken, was?«

»Nein, der Dienstweg ist erheblich verkürzt«, erwiderte Maria freundlich. »Ab 1. Juni wird das Büro regelmäßig über mehrere Stunden am Tag besetzt sein«, kündigte sie an. »Um die Firmenschilder kümmere ich mich. Es wäre nur schön, wenn Sie möglichst bald die Briefkästen aufhängen könnten.«

»Wird sofort erledigt. Darauf können Sie sich verlassen. Ich kriege alles im Handumdrehen an die Wand, nur nachher bekommt’s keiner mehr los«, versprach Boltke.

Maria sah sich in dem künftigen Büro Ursulas um, ließ alles noch einmal auf sich wirken. Sie fühlte sich in diesem Moment ein wenig wie früher, wenn sie aus Gefälligkeit die Häuser ihrer Freundinnen mit eingerichtet und ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte. Sie hatte einfach Spaß daran, Räumen Leben einzuhauchen, und liebte es, nach und nach etwas entstehen zu lassen, das eine ganz besondere Atmosphäre bekam. Ihre Villa in Grunewald hatte sie über Jahre hinweg neu gestaltet, bis sie genau so war, wie Maria sie hatte haben wollen. Sie war so außergewöhnlich schön geworden, und es schmerzte Maria noch immer, wenn sie daran dachte, wie wunderbar es gewesen war, die Räume dort auf sich wirken zu lassen. Natürlich konnten da diese Büroräume hier nicht mithalten, nicht einmal ansatzweise. Aber dennoch hatte Maria das Gefühl, einen weiteren Schritt ins Leben zurückzumachen, das sich irgendwann wieder wie ihr eigenes anfühlen könnte.

»Die Möbel werden voraussichtlich in der letzten Maiwoche angeliefert«, sagte sie nun zu Erich Boltke. »Ich werde versuchen, dann selbst hier zu sein. Sollte sich mit der Lieferung aber etwas nach vorn oder hinten verschieben, wäre es da in Ordnung, wenn ich dann Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlege, damit man sich bei Ihnen melden kann?«

»Aber Frau Borchardt, da brauchen Sie doch gar nicht zu fragen. Natürlich können Sie das so machen. Ist doch Ehrensache.«

»Danke schön.« Maria sah zu Gertrud. »Wie sieht es aus? Hast du noch Lust auf einen Kaffee?«

»Aber sehr gern«, stimmte Gertrud zu.

»Na, dann komm«, forderte Maria sie auf. Sie verabschiedeten sich von Erich Boltke und verließen zusammen die Wohnung, die künftig Marias Arbeitsplatz sein würde.

»Donnerwetter, den hast du aber gut im Griff. Der frisst dir ja aus der Hand«, scherzte Gertrud, als sie auf dem Weg zum Auto waren.

Maria lachte nur, ließ die Schwiegermutter zuerst einsteigen und nahm dann auf dem Fahrersitz Platz, um direkt zum Café Kranzler zu fahren, in dem Gertrud und sie so gern manche Stunde verbrachten.

Wie so oft verplauderten sie sich, und als Maria Gertrud schließlich wieder in Frohnau vor der Seniorenresidenz absetzte, war es bereits nach halb sieben.

»Hoffentlich haben Sie dir dein Abendessen stehen lassen«, meinte Maria und lachte, was Gertrud herzlich erwiderte.

»Nach dem Tortenstück habe ich ohnehin keinen Hunger mehr, und außerdem war der wunderbare Nachmittag mit dir die Verspätung wert.«

»Ich fand es auch herrlich«, bestätigte Maria. »Ich werde in den nächsten Tagen viel zu tun haben, aber wenn du möchtest, kann ich dich trotzdem abholen, sofern du Lust hast, mich zu begleiten, wenn ich noch den ein oder anderen Einrichtungsgegenstand fürs Büro besorge.«

»Nichts würde ich lieber tun«, brachte Gertrud hervor, und Maria war es fast unangenehm, wie dankbar die Schwiegermutter ihr für solch alltägliche Unternehmungen war.

»Wunderbar. Ich rufe dich an, ja?«

»Ja, danke schön.«

»Und wenn du etwas brauchst, dann melde du dich bitte auch«, erinnerte Maria sie wieder an das Angebot, das sie der Schwiegermutter nun schon so oft gemacht hatte. »Schlimmstenfalls ist niemand zu Hause. Aber es wäre schön, wenn du mal anrufen würdest.« Maria hob die Hand. »Und bevor du jetzt wieder den üblichen Einwand bringst: Nein – du störst nicht!«

»Ist gut!« Gertrud lachte auf. »Ach Maria, ich bin so dankbar, dass ich das auf meine alten Tage noch erleben darf.«

»Ich bin auch unglaublich glücklich, dass wir uns gefunden haben, Gertrud.« Sie lächelte. »Nun aber rein mit dir, bevor du wirklich kein Essen mehr bekommst.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, und Maria fuhr los. Eigentlich hatte sie noch nach Hause fahren und sich ein wenig zurechtmachen wollen, bevor sie bei Lea vorbeischaute. Nun jedoch schien es ihr dafür zu spät, wollte sie Lea nicht erst mitten im Getümmel des Clubs antreffen. Also lenkte sie den Wagen in Richtung Ku’damm und war froh, als sie in unmittelbarer Nähe des Clubs einen Parkplatz fand.

»Hallo«, sagte sie beim Eintreten. »Ist Lea Stern zu sprechen?«

»Tag auch«, grüßte der junge Mann, der gerade eine Kiste auf dem Tresen abstellte. »Sie ist noch in ihrer Wohnung«, antwortete er.

»Danke. Dann versuche ich es dort.« Maria verließ das Lokal und ging zum daneben liegenden Eingang. Sie hatte bisher nur einmal persönlich mit Lea gesprochen. Und dieses Gespräch hatte im Club stattgefunden, nicht in ihrer Wohnung. Fast kam Maria sich übergriffig vor, Lea nun privat aufzusuchen. Andererseits war ja sie es gewesen, die etwas von Maria wollte. Also klingelte sie einfach. Maria positionierte sich so, dass sie direkt vor der Sprechanlage stand. Doch ohne dass dort gefragt wurde, wer da sei, summte der Türöffner, sodass Maria sogleich eintrat. Sie wusste nicht, in welchem Stockwerk Leas Wohnung lag, also stieg sie erst einmal die Stufen hinauf. Die Tür im ersten Stock war nur angelehnt, und ein Blick auf das Namensschild verriet Maria, dass sie hier richtig war. Vorsichtig klopfte sie zweimal an die Tür und betrat dann etwas zögerlich den Flur.

»Lea?«

»In der Küche!«

Maria folgte der Stimme, vor allem aber auch dem Rauch.

»Guten Abend. Ich wollte eigentlich früher da sein. Entschuldige bitte!«

Lea, die soeben etwas in den Schrank gestellt hatte, drehte sich um und sah Maria an.

»Meine Güte, Maria, du siehst toll aus! Hanna hat mir erzählt, dass du beim Friseur warst. Aber damit habe ich nicht gerechnet.«

»Ich bin auch sehr zufrieden damit«, gab Maria zurück. »Alles deinetwegen.«

»Unsinn. Du wärst auch ohne mich irgendwann wieder zur Vernunft gekommen. Ich habe den Prozess nur beschleunigt.« Lea deutete auf einen der Stühle. »Setz dich doch.«

»Danke«, sagte Maria und blickte auf das überdimensionale Bild, das einen goldenen Apfel zeigte. »Das ist schön«, meinte sie.

»Ich liebe dieses Bild«, erklärte Lea. »Es drückt für mich so viel aus.« Lea sah sie an. »Was kann ich dir zu trinken anbieten? Champagner?«

»Haben wir denn etwas zu feiern?«, fragte Maria.

»Selbstverständlich. Du bist hier, ich bin hier. Wir sind gesund, atmen, lachen. Das ist doch schon eine ganze Menge.«

»Du hast recht. Ich nehme gern ein Glas«, stimmte Maria zu. »Aber wirklich nur eins, denn ich bin mit dem Auto hier.«

Lea holte zwei Champagnerkelche aus dem Schrank, füllte sie und stellte sie auf dem Tisch ab. Dann setzte sie sich Maria gegenüber.

»Auf neu gewonnene Freunde«, schlug sie vor.

»Ja, darauf trinke ich sehr gern. Auf neu gewonnene Freunde!« Sie ließen die Gläser aneinanderklingen und nahmen beide einen Schluck.

»Ich bin gleich zurück«, sagte Lea dann, stand auf und verließ die Küche, um kurz darauf mit einem prall gefüllten Ordner wiederzukommen.

»Hier drin ist alles, was den Club, das Hotel und dieses Haus hier betrifft. Sämtliche Mietverträge und Vereinbarungen.«

»Du meine Güte«, meinte Maria. »Du willst doch nur für eine kurze Zeit verreisen und nicht deinen Hausstand auflösen.«

Lea lächelte, doch es lag etwas in ihrem Blick, das Maria nicht recht zu deuten wusste.

»Wir kennen uns nicht besonders gut«, sagte Lea dann. »Doch ich habe eine gute Menschenkenntnis und bin daher der festen Überzeugung, dir vertrauen zu können.«

»Das kannst du auch«, beteuerte Maria. »Aber ich bin sicher, dass es in deinem Leben viele Menschen gibt, denen du solch wichtige Dinge besser anvertrauen kannst als mir.«

»Du irrst dich«, stellte Lea ohne jede Emotion in der Stimme fest. »Ich habe einen riesigen Bekanntenkreis, das ist wahr. Aber wer sind schon wirkliche Freunde? Genau wie du bin ich meinem Anwalt, Dr. Chaim Blum, sehr verbunden. Und für den Fall, dass mir mal etwas passieren sollte, würde er sich auch um alles kümmern. Doch ich habe ja nicht vor, das Zeitliche zu segnen, sondern nur zu verreisen.«

»Na, ein Glück«, erwiderte Maria, die wegen Leas Worten eine gewisse Beklommenheit spürte.

»Du fragst dich bestimmt, warum ich dich darum bitte, nicht wahr?«

»Wenn du mich so direkt fragst, ja«, antwortete Maria.

»Weißt du, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit. Auch über diesen tiefen Fall, den du erleben musstest, nur weil du dem falschen Menschen vertraut hast.«

Maria nickte.

»Ich habe auch einen tiefen Fall erlebt, vor Jahren schon, jedoch nicht in finanzieller Hinsicht, sondern in emotionaler. Und ich möchte nach Israel fliegen und sehen, was noch an Gefühlen da ist und ob es reicht, um das Leben, das ich hier führe, zu überdenken.«

»Du willst dich mit einem früheren Geliebten von dir treffen?«

»Mit einer früheren Geliebten«, korrigierte Lea, was Maria verwunderte.

»Du meinst …?«

»Mit einer Frau, ganz recht.«

»Du bist lesbisch? Aber du und Hanns …«, wieder ließ sie den Satz unvollendet.

»Ich bin nicht festgelegt auf nur ein Geschlecht«, antwortete Lea, was Maria kurz den Mund offen stehen ließ. Eilig ergriff sie den Champagnerkelch und trank einen Schluck.

»Na, habe ich dich schockiert?«

»Schockiert ist das falsche Wort. Überrascht, würde ich sagen.«

Lea lächelte nur.

»Ich weiß nicht, ob ich die Chance bekomme, noch einmal neu anzufangen und die Beziehung wieder aufzunehmen. Ich weiß genau genommen nicht mal, ob ich das überhaupt will. Doch ich habe hier die Parallelen zwischen uns gesehen. Auch du hoffst auf einen Neuanfang, wenn auch in anderer Hinsicht. Und ich würde dir gern dabei behilflich sein.«

»Das ist sehr nett von dir. Danke.«

»Es ist menschlich«, entgegnete Lea und trank einen Schluck. »Ich meine, wer wären wir, wenn uns das, was einen anderen Menschen bewegt, kaltlässt?«

»Du bist sehr nachdenklich«, stellte Maria fest und sah Lea an. »Möchtest du darüber reden?«

»Im Grunde habe ich das soeben getan«, antwortete Lea. »Ich habe alles erreicht, was ich erreichen wollte, und das hat mich über viele Jahre glücklich gemacht und erfüllt. Doch ich bin an einem Punkt im Leben angelangt, an dem ich herausfinden muss, ob es noch eine andere Zukunft für mich geben könnte, fernab von alledem hier.«

»Weil es dich nicht mehr glücklich macht, auch wenn es das ist, was du immer wolltest?«, hakte Maria nach.

»Ich möchte dich etwas fragen«, setzte Lea an, ohne auf Marias Frage einzugehen. »Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, Hanns wieder lebendig machen, und alles das zurückbekämst, was du früher besessen hast, würdest du es tun?«

»Nein«, kam es prompt von Maria. »Nein, das würde ich auf keinen Fall. Denn ich bin nicht mehr die Frau, die ich vor fünf Monaten noch war.«

»Siehst du, genau das meine ich. Das, was du seinerzeit für wichtig gehalten hast, hält bei näherer Betrachtung nicht stand. Und obwohl du so gelitten hast und vermutlich auch noch leiden wirst, würdest du nicht in dein altes Leben zurückwollen. Du hast dich entwickelt, dich verändert. Und von einem Tag auf den anderen passt das Leben, das du geführt und gemocht hast, nicht mehr zu dir, und du fragst dich, ob es wirklich richtig wäre, dennoch so weiterzumachen.«

»Was hat bei dir dazu geführt, dass du dieses Gefühl hast?«, fragte Maria. »Schließlich hattest du keinen Betrüger zum Mann, der dich mit einem Scherbenhaufen zurückgelassen hat.«

Lea lächelte. »Genau die Frage habe ich mir auch gestellt«, antwortete Lea und lächelte weiter in sich hinein. »Es war ihre Stimme«, antwortete sie dann. »Rachels Stimme zu hören gab mir ein Gefühl von Heimat, an das ich mich kaum mehr erinnern konnte. Es war ein Nachhausekommen, eine wärmende Decke, die sich um meine Schultern gelegt hat. Ich kann es nicht beschreiben, doch in ihrer Stimme lag ein nicht ausgesprochenes Versprechen auf Glück und eine Sehnsucht, so tief und endlos wie das Meer.«

Maria bekam eine Gänsehaut bei Leas Worten.

»Was ist, wenn du enttäuscht wirst, deine Geliebte wiedersiehst und feststellst, dass alles nur eine Illusion war?«, gab Maria zu bedenken.

»Dann kehre ich hierher zurück und habe zumindest meine Antwort auf die Frage, ob das mit Rachel und mir eine Chance hat, bekommen.«

Maria suchte Leas Blick. »Und wenn alles genauso ist, wie du es gerade fühlst?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lea. »Ich weiß es wirklich nicht. Doch ich weiß, ich muss mir die Antwort holen, koste es, was es wolle.« Sie deutete auf den Aktenordner. »Wir wurden durch ein irrwitziges Schicksal zusammengeführt, und ich weiß im Grunde nicht einmal, was ich von dir erwarte. Erst einmal nur, dass du oder besser gesagt, deine Immobilienverwaltung während meiner Abwesenheit als Ansprechpartner für meine Mieter bereitsteht. Es ist nicht meine Art, meiner Verantwortung nicht nachzukommen.«

Maria legte ihre Hand auf den Ordner. »Ich werde die relevanten Unterlagen kopieren und dir den Ordner dann zurückbringen«, sicherte sie zu.

»Lass dir Zeit. Ich brauche ihn nicht, bevor ich wieder zurück bin.«

»Ist gut.«

»Was auch immer daraus wird, Maria, ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass wir beide uns, wenn auch auf eine wirklich skurrile Art, gefunden haben. Ich hoffe, dass dieser Auftrag der Beginn eines Neuanfangs für dich ist. Und wenn es gut läuft, sehe ich keinen Grund, dir den Auftrag wieder zu entziehen, unabhängig davon, ob ich hier bin oder nicht. Dieser ganze Papierkram hat mich ohnehin stets nur gelangweilt.«

»Und der Club? Ich meine, was ist da zu tun?«

»Um die meisten Dinge kümmern sich Uwe und Viktor. Ich bin eigentlich nur für die kleinen Problemchen da und, so kommt es mir zumindest vor, für das Gefühl, dass die Chefin im Haus ist.« Lea lächelte. »Hanna hatte mir angeboten, während meiner Abwesenheit einzuspringen, doch ich denke nicht, dass sie das kann.«

»Nicht? Und weshalb nicht?«

»Sie ist zu jung«, meinte Lea. »Ob gerecht oder nicht, jungen Menschen wird oft nicht das Gleiche zugetraut wie denen, die erfahrener sind.«

»Wie alt warst du, als du die Verantwortung übernommen hast?«, fragte Maria nun.

Lea lächelte. »Etwa so alt wie Hanna jetzt«, stellte sie dann fest.

»Wenn ich eines ganz sicher weiß, dann dass Hanna eine kluge junge Frau ist, die wegen ihres hübschen Aussehens oftmals unterschätzt wird.«

Lea nickte. »Du hast recht. Und ich glaube, sie war enttäuscht, dass ich auf ihr Angebot nicht eingegangen bin.«

»Dann war es das«, erkannte Maria nun und erzählte Lea davon, dass Hanna in letzter Zeit des Öfteren einen etwas dünnhäutigen Eindruck auf sie gemacht hatte. Maria hatte es auf die Dreharbeiten geschoben und dass die Tochter ihre Sache besonders gut machen wollte. Nun jedoch glaubte sie, dass Hanna Leas Verhalten als Zurückweisung gedeutet hatte.

»Ich werde mit Hanna sprechen und sie bitten, während meiner Abwesenheit im Club für mich einzuspringen.«

»Ich bin sicher, dass sie sich darüber freuen wird.«

Lea klopfte mit der flachen Hand auf den Ordner. »Aber diese Vereinbarung hier bleibt?«

»Ganz sicher sogar. Ich werde noch eine Vollmacht von dir brauchen, damit ich nachweisen kann, dass du mich beauftragt hast.«

»Die bekommst du«, sicherte Lea zu. »Und bevor es am Ende zu Streitigkeiten darüber kommt: Ich möchte eine korrekte Abrechnung für deine Leistungen erhalten. Keinen Freundschaftsrabatt oder Ähnliches.«

Maria lächelte. Sie war bisher nicht davon ausgegangen, überhaupt eine Rechnung zu schreiben, und hatte es als reinen Freundschaftsdienst betrachtet.

»Ich kann lesen, dass auf deiner Stirn geschrieben steht, dass du gar nichts berechnen wolltest, stimmt’s?«

»Du bist wirklich eine gute Beobachterin.«

Sie unterhielten sich noch, bis sie ihren Champagner ausgetrunken hatte. Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Maria fuhr zur Wohnung in der Holsteinischen Straße.

Es war niemand zu Hause, und so, wie es aussah, war auch seit sie vorhin gegangen war, niemand hier gewesen. Wo zum Teufel steckte Holger? Ob sie ihn suchen sollte?

Maria nahm erneut den Autoschlüssel, doch dann besann sie sich. Ihr Sohn wurde im August vierundzwanzig Jahre alt. Er war ein erwachsener Mann, und nur weil er einmal in die falschen Kreise geraten war, bedeutete das nicht, dass er sich erneut in Schwierigkeiten brachte. Sie konnte und durfte nicht ständig um ihn herum sein in der Sorge, dass er womöglich erneut falsche Entscheidungen traf.

Seit Holger hier lebte, hatte sie jeden Abend zu Hause verbracht und Klaus nur am Tage und zu geschäftlichen Anlässen gesehen. Sie hatten eine einzige leidenschaftliche Nacht miteinander verbracht. Zu mehr war es nicht gekommen, obwohl Maria spürte, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Wie hatte Lea es vorhin ausgedrückt? Ein nicht ausgesprochenes Versprechen auf Glück und eine Sehnsucht, so tief und endlos wie das Meer, erinnerte Maria sich an Leas Worte. Einen Moment verharrte sie noch, dann ging sie ins Bad, machte sich frisch und zog sich danach im Schlafzimmer um. Zu guter Letzt ging sie in die Küche und nahm einen Wein aus dem Regal. Dann griff sie ihre Schlüssel und machte sich auf den Weg zu Klaus Privatwohnung. Dort angekommen, klingelte sie und wurde ein wenig unruhig, weil es dauerte, bis Klaus an die Tür kam und öffnete.

»Maria?«, stieß er überrascht hervor.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie, und ihre Stimme klang tiefer als sonst.

»Sicher«, antwortete er eilig und gab sogleich den Eingang frei.

Maria trat in den Flur, während Klaus die Tür schloss. Er sah sie fragend an, doch sie hob sich nur auf die Zehenspitzen und gab ihm einen langen Kuss. Als sie sich voneinander lösten, schnappte Klaus nach Luft.

»Hier«, sagte sie und drückte ihm die Flasche Wein in die Hand. »Und bring die Gläser mit, wenn du ihn geöffnet hast. Ich warte im Schlafzimmer auf dich.« Damit schlüpfte sie aus ihren Pumps und marschierte, ohne sich noch einmal umzudrehen, in den Raum am Ende des Flurs. Zwar konnte sie es so nicht sehen, doch ihrem Gefühl nach stand Klaus noch immer da und sah ihr mit offenem Mund nach.