Ich weiß nicht, was mich erwartet. Doch ich bin sicher: Es wird lehrreich für mich sein.
LEA STERN
Mehr als zehn Jahre war es her, dass sie zuletzt in Tel Aviv gewesen war.
Als sie das Flughafengebäude verließ, schlug ihr warm die Maisonne entgegen, und Lea lockerte den lilafarbenen Seidenschal, den sie um ihren Hals trug, um besser atmen zu können. Sie nahm ihren Koffer und ging zu den Taxis hinüber, worauf der erste Fahrer in der Reihe sogleich sein Fahrzeug verließ und ihr Gepäck im Kofferraum verstaute. Lea sah sich kurz um, versuchte sich zu erinnern, ob alles noch so war, wie sie es in Erinnerung hatte. Einige Menschen hielten auf das Flughafengebäude zu, aber da Sabbat war, herrschte dort nicht das übliche Gedränge. Lea nahm auf dem Rücksitz Platz und nannte dem Fahrer auf Iwrit die Adresse, dann legte sie ihren Seidenschal ab und fächerte sich mit der Hand Kühlung zu. Es war stickig, die Luft schien zu stehen. Oder war es die Aufregung, die sie kaum zu Atem kommen ließ? Sie kurbelte das Fenster hinunter, als das Auto sich in Bewegung setzte, und hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind. Bis zu dem Haus ihrer Mutter in der Retsif HaAliya HaShniya, direkt am Hafen von Jaffa, war es bei dem wenigen Verkehr ungefähr eine halbe Stunde Fahrt, und Lea war dankbar dafür, würde sie doch während dieser Zeit ihre Gedanken zu ordnen versuchen, die wild in ihrem Kopf umherzuwirbeln schienen.
Der Fahrer fragte sie, ob sie das erste Mal in Tel Aviv sei, was sie verneinte. Mehr sagte sie nicht. Und er fragte nicht weiter, schien er doch zu merken, dass Lea kein Interesse hatte, sich zu unterhalten. Dafür war sie viel zu angespannt.
Sie blickte weiter aus dem Fenster und ließ die Bilder auf sich wirken. Alles war anders und doch vertraut, ganz so, als würde sie nach langer Zeit ein Buch zur Hand nehmen, dessen Inhalt sie im Laufe der Jahre vergessen hatte, und es noch einmal lesen. Sie musste an Berlin denken, an ihren Club, und obwohl sie heute Morgen noch dort gewesen war, kam ihr das Leben in Berlin gerade unglaublich weit weg vor. Hier in Tel Aviv war die Luft anders, die Menschen anders, es roch nicht wie in Berlin, und auch die Stimmung war eine andere. Eben noch war sie am Flughafen in einem reinen Getümmel gewesen, doch je weiter der Fahrer in Richtung Hafen fuhr, wo ihre Mutter und Rachel lebten, desto weniger hektisch schien es dort draußen zu sein, ganz so, als würde man einen Film ansehen, der langsamer und langsamer wurde. Sie hielt ihr Gesicht nahe am Fenster, schloss die Augen und genoss die warme Sommerluft. Lea spürte, dass sie ruhiger wurde. Doch sobald sie an ihre Ankunft dachte und daran, wie überrascht Rachel und ihre Mutter sein würden, spürte sie erneut einen Kloß im Hals.
Sie hatte Rachel bewusst nicht angekündigt, dass sie heute kommen würde. Einerseits, weil sie sie überraschen wollte. Andererseits aber, weil Lea bis zuletzt nicht ganz sicher gewesen war, ob sie diesen Schritt wirklich wagen sollte. Dabei war es nicht die Furcht gewesen, dass es ihr nicht gefallen oder ihre Erwartungen enttäuscht werden könnten. Nein, genau das Gegenteil war der Fall. Sie fürchtete sich vor allem davor, was wäre, wenn sie spürte, genau richtig hier zu sein und bleiben zu wollen, ungeachtet dessen, dass ihr eigentliches Leben in Berlin stattfand.
Sie bogen von der Hauptstraße ab und näherten sich dem Hafen. Hier waren die Gassen enger und nicht so gut ausgebaut wie die Hauptverkehrsrouten. Lea fand es gemütlicher, es fühlte sich mehr nach zu Hause an, ihrem Zuhause, dem sie vor einer Ewigkeit den Rücken gekehrt hatte.
Das Taxi fuhr über eine kleine Kuppe, wohinter die Straße in Richtung Hafen abfiel. Lea betrachtete die in den Hang gebauten sandfarbenen Häuser, die aussahen, als hätte man sie aus dem Berg herausgearbeitet. Ihr Herz schlug schneller, als das Taxi einbog und schließlich vor dem Haus ihrer Mutter anhielt.
Lea ließ ihren Blick über die Fassade schweifen, bezahlte, nahm ihren Koffer entgegen und blieb noch davor stehen, als der Taxifahrer bereits wieder eingestiegen war, wendete und davonfuhr.
Lea sah sich um und blickte auf das Meer, das in einem tiefen Blau am Horizont den Himmel zu berühren schien. Es roch nach Fisch, und bis auf das Kreischen der Möwen war es unglaublich ruhig. Erst jetzt wurde Lea bewusst, dass sie genau diese Stille in Berlin vermisst hatte, die und die Geborgenheit, die damit einherging.
»Lea?«
Sie drehte sich um. Lea hatte gar nicht bemerkt, dass die Tür geöffnet worden war, und sie spürte ihr Herz pochen, als sie nun die Stufen hinaufsah, an deren Ende Rachel stand. Sie trug eine weite weiße Hose und ein ebenso weißes Shirt. Ihre Haare waren noch immer genauso dunkel wie Leas, nur dass Rachel ihre inzwischen hatte lang wachsen lassen.
»Guten Tag, Rachel«, war das Einzige, was Lea hervorbrachte, und trotz der wenigen Worte konnte man deutlich das Vibrieren in ihrer Stimme hören.
Rachel sah sie an, dann lief sie die Stufen hinunter und umarmte Lea, die Rachel ebenso fest hielt und ihre Augen schloss. Lea wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatten, als sie sich voneinander lösten, und Rachel fragte:
»Warum hast du denn nicht gesagt, dass du kommst?«
»Das habe ich doch. Nur nicht, wann«, bemerkte Lea mit einem Lächeln.
Rachel griff Leas Koffer. »Komm erst mal herein«, forderte sie Lea auf und ging sogleich die Stufen hinauf. Lea blickte noch einmal zum Hafen, dann folgte sie Rachel und betrat nach all den Jahren das Haus, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte. Es roch noch genau wie früher nach einem Gemisch aus Salz und Meer gepaart mit einem Duft von Lavendel, den ihre Mutter so liebte. Lea lächelte, als sie zu den Bildern ging, die im Flur an der Wand hingen. Auf den meisten davon war sie selbst zu sehen, auf einem auch ihr Vater, weitere zeigten ihre Großeltern und ihre Mutter. Und natürlich war da auch das Hochzeitsbild ihrer Eltern, das direkt vor dem Eingang zur Küche hing.
»Deine Mutter wird vielleicht Augen machen«, frohlockte Rachel und griff nach Leas Hand. Einen Augenblick verharrten sie in der Bewegung, und Lea blickte auf die Finger, die sich wie von selbst ineinander verschlungen hatten. Dann trafen sich ihre Blicke, und Lea spürte, wie eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überlief. Rachel schien es ähnlich zu gehen, denn kurz schüttelte sie sich, dann atmete sie geräuschvoll aus.
»Elana!«, rief Rachel dann laut. »Du wirst nicht glauben, wer hier ist!« Sie sah Lea an. »Sie ist draußen. Wir haben gerade zusammen Kaffee getrunken, und ich wollte uns nachschenken, da habe ich dich von der Küche aus gesehen«, erklärte sie Lea.
»Wer ist es denn?«, hörte Lea nun die Stimme ihrer Mutter und ging zusammen mit Rachel über den Flur durch das Wohnzimmer ins Freie.
»Guten Tag, Mama!«, sagte Lea, als sie nach draußen trat.
»Lea?« Elana Stern presste sich die Hände vor den Mund, und ihr kamen augenblicklich die Tränen. »Meine Lea, das gibt es doch nicht.«
»Doch, das gibt es, Mama.« Lea beugte sich zu ihr hinunter und umarmte sie.
Elana schluchzte heftig.
»Nicht weinen, Mama. Es ist ja alles gut.«
»Meine Lea«, sagte Elana nun noch mal. »Wie schön, dass du hier bist. Ich kann es kaum glauben.«
»Ich bin auch froh, dass ich hier sein kann, Mama.« Lea löste die Umarmung und zog sich einen Stuhl heran. Rachel verschwand im Haus und holte noch ein Gedeck für Lea, wobei Lea den Kuchen, den Rachel ihr anbot, dankend ablehnte.
»Ich trinke nur einen Kaffee. Danke schön!«
»Ach, hättest du uns doch gesagt, dass du kommst«, sagte Elana. »Dann hätten wir alles vorbereitet.«
»Siehst du. Und genau deshalb wollte ich euch lieber überraschen. Ich will ja gar nicht, dass ihr so viel Aufhebens macht. Vermutlich wird mein Bett doch noch oben stehen, oder nicht?«
»Aber natürlich. Ich habe in deinem Zimmer nichts angerührt«, antwortete Elana. »Und Rachel hier kümmert sich rührend darum, dass auch sonst im Haus immer alles in Ordnung ist. Nicht wahr, Rachel?«
»Das mache ich doch gern, Elana«, gab diese lächelnd zurück.
»Es ist eine große Beruhigung für mich, dass du dich so kümmerst«, sagte Lea zu Rachel. »Danke.«
»Wir kommen wunderbar zurecht, nicht wahr, Elana?«, antwortete Rachel. »Und von dem Oberschenkelhalsbruch hast du dich mittlerweile einigermaßen erholt. Es gibt ja kaum noch etwas, wobei du überhaupt Hilfe brauchst, Elana.«
»Na, so ist es ja leider auch nicht«, stellte Leas Mutter fest. »Es hat vor allem mein Ego schwer getroffen, feststellen zu müssen, dass ich kein so junges Mädchen mehr bin, wie ich gerne wäre.«
»Geht es dir denn so weit wieder gut?«, fragte Lea.
»Aber ja, wirklich. Das Einzige, was ich wirklich merke, ist, dass ich vorsichtiger geworden bin. Ich halte mich am Geländer fest, wenn ich die Treppe hoch- oder runtergehe, achte darauf, wohin ich trete. Solche Sachen eben. Aber«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, »darüber will ich doch gar nicht sprechen. Du bist hier, meine Lea. Meine wunderschöne, kluge und erfolgreiche Tochter. Was macht das Leben in Berlin, mein Kind?«
»Es pulsiert, würde ich sagen.« Lea spürte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ. »Der Club läuft wirklich sehr gut, und mit der Hotelkette, die sich jetzt bei mir eingemietet hat, habe ich bisher keine Probleme.«
»Und hast du inzwischen einen netten Mann gefunden?«, fragte Elana, die jedoch zugleich in einer resignierenden Geste die Hände hob. »Keine Sorge, ich habe mich längst damit abgefunden, keine Großmutter mehr zu werden. Aber auf Dauer allein zu sein ist doch auch nichts, oder? Zumal du eine wunderschöne Frau in den besten Jahren bist.«
»Du weißt doch, wie das ist, Mama. Es gibt einfach zu viele Männer da draußen, um mich festzulegen.«
Elana lachte herzlich auf, und auch Rachel stimmte ein, obwohl Lea ihr ansehen konnte, dass das Lachen nicht echt war.
»Wer passt denn auf deinen Club auf, solange du hier bist?«, fragte Elana nun. »Oder hast du für die Zeit geschlossen wie beim letzten Mal?«
»Nein, der Club ist geöffnet. Ich habe eine Freundin, die sich in der Zwischenzeit darum kümmert.« Lea sah, wie sich Rachels Gesichtsausdruck bei der Erwähnung Hannas veränderte. War es ein Anflug von Eifersucht, den sie wahrnahm?
»Wisst ihr was?«, sagte Rachel nun, »ich lasse euch beide mal allein, damit Mutter und Tochter Wiedersehen feiern können.«
»Aber du gehörst doch zu uns«, meinte Elana und sah Rachel an.
»Ich bin ja auch nicht aus der Welt, sondern nur nebenan. Und ich habe auch noch einen Artikel fertig zu schreiben, wie du weißt«, erinnerte sie nun.
»Vielleicht können wir heute Abend zusammen essen gehen?«, schlug Lea vor. »Ich würde euch gern einladen.«
»Das kommt doch überhaupt nicht infrage. Du bist hier zu Gast«, hielt ihre Mutter dagegen.
Lea wusste, dass es von ihrer Mutter nicht so gemeint gewesen war, doch die Bemerkung, dass sie hier Gast sei, versetzte ihr einen Stich.
»Nein«, widersprach Lea, »ich bestehe darauf. Gibt es das nette Lokal unten am Hafen noch?«
»Das Lokal gibt es noch, wenn auch der Betreiber längst nicht mehr der ist, den du kennst. Aber sie machen dort eine fantastische Shakshuka und reichen so eine besondere Teigrolle dazu«, antwortete Rachel.
»Das klingt wunderbar«, gab Lea zurück, wenngleich sie dem traditionellen israelischen Gericht, das man früher vor allem zum Frühstück gegessen hatte und das aus pochierten und in Tomatensoße versenkten Eiern bestand, nichts abgewinnen konnte. Eigenartig, dass Rachel das offenbar völlig vergessen hatte, erinnerte Lea sich doch noch gut, dass sie beide früher genau dieses Gericht nicht gemocht hatten.
»Ich rufe dort an und reserviere uns einen Tisch«, bot Rachel an. »Was meint ihr, so um halb neun?«
»Ja, halb neun passt sehr gut, nicht wahr, Lea?«, meinte Elana. »Dann kannst du dich auch noch ein bisschen ausruhen. Du musst ja von der langen Reise ganz erschöpft sein.«
Lea nickte. »Ja, halb neun ist eine gute Zeit.«
»Soll ich dir noch mit deinem Gepäck helfen oder dein Bett überziehen?«, bot Rachel an, als sie schon aufgestanden war.
»Nein danke. Das mache ich selbst nachher. Liegen die Bettbezüge noch immer in der großen Kommode auf dem Flur?«
»Selbstverständlich«, bekräftigte Elana. »Du weißt doch Lea, hier hat sich in all den Jahren nichts verändert.«
»Natürlich nicht, Mama«, pflichtete Lea ihr bei, doch ein Gefühl in ihr sagte, dass das so ganz nicht stimmte.
Es wurde ein wirklich schöner Abend, und je länger sie sich beim Essen und dem wunderbar fruchtigen Wein unterhielten, desto mehr spürte Lea, nach und nach wieder anzukommen. Vorhin noch hatte sie sich gefragt, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, einfach hierhergereist zu sein. Inzwischen jedoch wich die Anspannung der Vertrautheit. Die kleinen Stiche der Eifersucht, die Lea spürte, wenn ihre Mutter über Rachel sagte, dass diese für sie wie ihre zweite Tochter sei, verschwanden im Laufe des Abends, und ein Gefühl der Dankbarkeit, dass ihre Mutter so gut versorgt war, obsiegte.
Es war ein lauer Sommerabend, und je länger sie plauderten und das Lokal sich nach und nach leerte, desto mehr verstärkte sich Leas Gefühl, noch bleiben zu wollen, obwohl sie schon eine Weile die letzten verbliebenen Gäste waren. Ihrer Mutter und Rachel schien es ähnlich zu gehen, doch irgendwann war dem Personal überdeutlich anzumerken, dass es nun auch gern Feierabend machen würde, worauf Lea bezahlte und sie sich auf den Heimweg machten.
»Ach, meine Lieben, das war einfach herrlich«, begeisterte sich Elana, als sie vor der Haustür standen und Rachel in ihrer beschwipsten Stimmung ein wenig Mühe hatte, den Schlüssel ins Schloss gleiten zu lassen und aufzuschließen.
Die drei lachten, als sie eintraten und Rachel kurz strauchelte.
»Hast du dir etwas getan?«, fragte Lea schmunzelnd, als Rachel kurz ihr Gesicht verzog.
»Mitnichten. Ich bin eine Dame, und die trinken ja bekanntlich nicht. Also habe ich mich vollkommen unter Kontrolle.«
»Ich habe mich schon eine Ewigkeit nicht mehr so köstlich amüsiert«, brachte Elana es auf den Punkt. »Doch nun, meine Lieben, kann ich mich keinen Augenblick mehr auf den Beinen halten«, entschied sie. »Gute Nacht.«
»Soll ich dich noch hochbringen, Elana?«, fragte Rachel.
»Lieber nicht«, gab diese kichernd zurück. »Ich glaube, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich erneut die Treppe hinunterfalle, weit größer, als wenn ich allein gehe.«
Alle drei kicherten.
»Ich werde dich raufbringen, Mama«, kündigte Lea an. »Ich glaube, ich bin den Alkohol weit mehr gewohnt als ihr beide.« Sie fasste Elana unter, die Rachel zur Verabschiedung noch einen Kuss auf die Wange gab. Dann stiegen sie gemeinsam die Stufen hinauf, und Lea brachte ihre Mutter bis ins Schlafzimmer.
»Nun schaffe ich es wirklich allein«, meinte Elana und zog Lea an sich. »Es ist so schön, dass du da bist, mein Schatz. Könntest du doch nur immer hier sein.«
»Ja, das wäre schön«, gab Lea zurück. »Gute Nacht, Mama, und schlaf gut. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, meine Lea.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann ging Lea hinaus und blieb kurz hinter der geschlossenen Tür stehen, um einmal durchzuatmen. Die Eindrücke des Tages waren ein Wechselbad der Gefühle für sie gewesen. Heute Morgen noch war sie in Berlin gewesen, und nun war sie hier in Jaffa, ihrer alten Heimat, in eine völlig andere Welt eingetaucht. Hatte sie sonst in Berlin stets das Gefühl, immer die Kontrolle haben und auf alles ein wachsames Auge werfen zu müssen, hatte sie über die Stunden hier mehr und mehr loslassen können, und fast war ihr dabei etwas mulmig zumute, war das doch sonst eigentlich gar nicht ihre Art.
Sie stieß sich von der Tür ab und wandte sich in Richtung Treppe. Ob Rachel wohl schon gegangen war? Verabschiedet hatten sie sich nicht, doch Rachel war ziemlich angeschickert gewesen, und Lea konnte sich gut vorstellen, dass diese einfach nach drüben in ihr eigenes Haus gewankt war und womöglich sogar schon im Bett lag. Sie stieg die Stufen wieder hinunter, und tatsächlich konnte sie Rachel nirgendwo entdecken. Doch dann nahm sie ein Geräusch wahr und ging über den Flur in Richtung Wohnzimmer.
Die Terrassentür war nur angelehnt, und im Mondlicht, das durchs Fenster hereinschien, konnte Lea Rachels Umriss ausmachen, die sich draußen auf einen der Terrassenstühle gesetzt hatte. Lea bekam eine leichte Gänsehaut bei dem Anblick ihrer Silhouette.
»Hier bist du«, stellte Lea fest und lächelte, als sie die zwei gefüllten Weingläser auf dem Tisch stehen sah und die kleine Kerze im Glas, deren Flamme in dem leichten Abendwind flackerte.
Rachel sah zu ihr herauf. »Ich dachte, wir unterhalten uns noch ein wenig, wenn es für dich in Ordnung ist?«
»Ja, ich freue mich darüber«, stimmte Lea zu und setzte sich auf den Stuhl neben Rachel, wo ihr Glas auch stand, sodass sie beide in Richtung Garten blickten.
Rachel hob das Glas und wartete, bis Lea es ihr gleichtat.
»Schön, dass du hier bist.«
»Schön, hier zu sein«, gab Lea zurück, und beide tranken einen Schluck. Dann schwiegen sie für einen Moment.
»Das war ein wunderbarer Abend«, begann Lea dann das Gespräch. »Ich glaube, meine Mutter war auch sehr glücklich.«
»Das war sie«, bekräftigte Rachel. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zuletzt so habe strahlen sehen.« Rachel nippte am Glas. »Sie macht sich in letzter Zeit sehr oft Sorgen um die Zukunft«, fuhr Rachel fort. »Und ich, offen gesagt, auch. Wir haben viel darüber gesprochen, wegen der Stimmung im Land und der Parlamentswahlen.«
»Die sind am kommenden Montag, richtig?«
»Ja. Es gibt gewisse Strömungen, weißt du?«, erklärte Rachel weiter.
»Was für Strömungen?«
Rachel zuckte die Achseln. »Man spürt hier in Israel ein Klima der Angst und der Wut. Und das bekomme nicht nur ich als Journalistin mit, sondern jeder«, fuhr sie fort. »Die Nachbarstaaten agieren offen gegen den Staat Israel und akzeptieren ihn nicht, die israelische Regierung wirkt tatenlos und blickt ungerührt auf das Leid eines Großteils der Bevölkerung, wobei zu befürchten ist, dass gerade Nicht-Jüdinnen unter einer rechten Regierung noch stärker zu leiden haben. Die Gräben, die ohnehin schon da sind, könnten sich noch weiter vertiefen.«
»Das klingt beunruhigend«, stellte Lea fest.
»Das ist es auch. Der Likud-Block könnte in diesem Jahr erstmals stärkste Kraft werden. Auf jeden Fall erfreut sich dieser Zusammenschluss der konservativen Parteien einer immer größer werdenden Anhängerschaft. Seine Macht ist gewachsen, und das bedeutet für unser Land nichts Gutes.« Rachel trank versonnen einen weiteren Schluck Wein. »Aber lass uns jetzt nicht über die politische Lage im Land sprechen«, bat sie und wirkte auf Lea nun wieder weit nüchterner als noch zuvor. Sie sah Lea an. »Ich bin froh, dass du hier bist. Nicht nur wegen deiner Mutter.«
»Ich auch.« Lea nippte ebenfalls an ihrem Glas.
»Falle ich zu sehr mit der Tür ins Haus, wenn ich dich frage, warum du gekommen bist?«
Lea lächelte. »Du weißt doch, dass mir die direkte Art immer schon die liebste war.« Lea sah Rachel im Lichtschein der Kerze an. »Ich wollte herausfinden, was das mit uns noch ist.«
»Das hatte ich gehofft«, gab Rachel zurück, beugte sich zu Lea herüber und küsste sie. Lea hielt die Luft an. Rachels Lippen schmeckten nach Wein, und Lea schloss die Augen, als sie ihre Münder öffneten und ihre Zungen sich zu erkunden begannen. Es war nicht stürmisch, sondern nur zärtlich und voller Liebe, und als ihre Lippen sich lösten, stand Rachel auf, pustete die Kerze aus, nahm ihr Weinglas und streckte Lea die Hand entgegen. Keine von ihnen sagte etwas. Es war ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Nähe, ein Nachhausekommen zur anderen, ohne sich der Frage zu stellen, was sein würde, wenn der Mond der Sonne wich und das Tageslicht es nicht mehr gestatten würde, die Augen vor der Realität zu verschließen. Aber vielleicht würde sie sich auch ändern, diese Realität, und diese Nacht nur die erste von vielen sein, die nachhallte, wenn der nächste Tag anbrach. Doch so weit wollte Lea jetzt nicht denken. Sie wollte gar nicht denken, nur fühlen und eintauchen in ein Meer aus Leidenschaft, die ihr den Atem nahm.